Lukusch: Roman

Rezensionen zu "Lukusch: Roman"

  1. Aufregendes Spiel mit Fakt und Fiktion

    Nach dem schweren Reaktorunglück in Tschernobyl wird der 13-jährige Anton Lukusch gemeinsam mit seinem Freund Igor Shevchuk und zahlreichen anderen Kindern von der Hilfsorganisation Shelta nach Deutschland gebracht. Dort kommt er in der Familie des gleichaltrigen Simon Ritter unter und entpuppt sich als Schachgenie, dem es sogar gelingt, Bundeskanzler Helmut Kohl öffentlichkeitswirksam zu besiegen. Doch sein Ruhm bleibt nicht ohne Folgen, denn die Unternehmensberatung SBI wird auf den Jungen und seine außergewöhnliche Intelligenz aufmerksam. Mehr als 30 Jahre später sieht Simon bei einem Schachturnier den Großmeister Igor Nazarenko - und erkennt in ihm Antons damaligen Freund. Doch wo ist Anton selbst? Simon macht sich auf eine gefährliche Suche...

    "Lukusch" ist der Debütroman des Regisseurs und Künstlers Benjamin Heisenberg. Und tatsächlich ist das Werk vielmehr ein Gesamtkunstwerk als ein "gewöhnlicher" Roman. Kongenial verarbeiten Autor Heisenberg und der Verlag C. H. Beck ein Ideenfeuerwerk, das mit den Erwartungen der Leser:innen spielt und dabei formal etwas wirklich Neues an der Grenze zwischen Roman, Deep Fake und Mockumentary schafft. Das Buch selbst wirkt wie ein abgegriffenes Notizbuch und liegt auch dadurch ganz wunderbar in der Hand. Dass die eigentliche Geschichte die Klasse der Form dabei nicht ganz halten kann, liegt an der etwas schwächeren zweiten Hälfte des Buches.

    Was Clemens J. Setz in "Indigo" in seinem Spiel aus fiktiven Zeitungsausschnitten, ausgedachten Legenden und sich selbst als Protagonisten schon überragend umsetzte, treibt Benjamin Heisenberg in "Lukusch" auf die Spitze. Heisenberg gibt sich als Herausgeber der Aufzeichnungen des 2020 in der Nähe von Tschernobyl verschollenen Simon Ritter und trägt diese "nach bestem Wissen und Gewissen chronologisch und in Sinnzusammenhängen geordnet" zusammen, wie es im Vorwort des Herausgebers heißt. Eine klug gewählte Perspektive, die allerdings in der Folge nicht immer gehalten werden kann.

    Denn zwischen Simons Aufzeichnungen, die Zeitungsausschnitte, Beiträge aus Büchern, Fotos und wissenschaftlichen Analysen mischen sich auch romanartige Passagen aus der Sicht von Anton Lukusch und dessen damaliger Freundin Maria, deren Ursprung fraglich ist und nicht zum eigentlichen Ansatz des Buches passen. Denn es wird nicht deutlich, wie Herausgeber Heisenberg an diese Perspektiven gekommen sein soll, wenn er lediglich Simon Ritters Aufzeichnungen zusammenträgt.

    Nimmt man diese Schwäche des Buches als gegeben, wird man aber mit einem wahrlich verrückten literarischen Trip belohnt, der besonders in der ersten Hälfte einen Sog entwickelt, dem man sich schwer entziehen kann. So aufregend neu ist alles, was man zu sehen und zu lesen bekommt, so spannend und melancholisch die Geschichte des Wunderkinds Anton, dessen Kindheit durch das Reaktorunglück so abrupt endete. Man schaut gemeinsam mit Simon alte Videos an, erkennt die Traurigkeit in Antons Blick und ist dabei, wenn Anton und Maria erste zarte Bande knüpfen. Wie eine Marionette wird der stille und freundliche Junge in Deutschland anschließend von Politik und Wirtschaft herumgereicht, immer begleitet vom grobschlächtigen Igor.

    Dieser Igor nimmt eine zentrale Rolle in dem Buch ein. Da ist zunächst die parapsychologische Verbindung zwischen Anton und ihm, die unter anderem Simon Ritters Vater näher untersuchen möchte. Denn im wahrsten Sinne des Wortes sind die beiden untrennbar. Bei einer zu großen Entfernung setzt bei beiden der Herzschlag aus. Umso erstaunlicher scheint es, dass ausgerechnet Igor im Jahre 2019 als Schachgroßmeister wieder auftaucht - offenbar ohne Anton Lukusch.

    Während die Umsetzung und die Grundidee durchgehend überzeugen, schwächelt die eigentliche Geschichte in der zweiten Hälfte leider ein wenig. Das liegt vor allem daran, dass sich die Beziehung zwischen Simon und Maria, die sich der Suche nach Anton anschließt, zu einem Ärgernis entwickelt. Der seit seiner Kindheit in Maria verliebte Simon lässt kaum eine Gelegenheit aus, um sich auf nervige Art und Weise mit Maria zu streiten. Warum er ausgerechnet die redundanten Episoden aufgezeichnet haben sollte und diese somit den Weg zu Herausgeber Heisenberg fanden, bleibt unklar und stört das Lesevergnügen. Zudem überschlagen sich die Ereignisse in der zweiten Hälfte, die sich vornehmlich mit Simons Suche beschäftigt und geprägt ist von dessen Begegnungen mit mehr oder weniger kriminellen Banden. Anstelle dieser ausgedehnten Passagen hätte ich mir mehr Kindheitsgeschichten gewünscht, denn welche Verbindung Simon zu Anton als Kind hatte und warum er sich überhaupt auf die Suche macht, wird leider kaum erläutert.

    Dennoch ist "Lukusch" ein insgesamt lesenswertes Debüt, das vor allem formal enorm viel wagt und dabei auf ganzer Linie gewinnt. Da kann man über die nicht ganz mithaltende Geschichte ein wenig hinwegsehen. Begeisterte Leser:innen von Setz' "Indigo" und Kinder der 80er-Jahre sollten auf jeden Fall einen Blick riskieren und sich von Antons traurigen Augen gefangen nehmen lassen.

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  1. 3
    18. Sep 2022 

    Interessantes Konzept, aber noch Luft nach oben

    Benjamin Heisenberg erschafft in seinem Debütroman ein Buch zwischen Reportage, Deep Fakes und Roman. So lesen wir bereits auf den ersten Seiten, dass das Buch angeblich von Heisenberg nur „herausgegeben“ sei. Die Eltern des verschwundenen Filmemachers Simon Ritter haben sich an ihn gewandt, um ein größeres Publikum für die Suche nach ihrem Sohn zu aktivieren. Von ihm sei lediglich eine Mappe mit Dokumenten, Schriftstücken, Zeitungsausschnitten sowie Fotos erhalten. Er habe sich auf die Suche nach seinem Jugendfreund Anton und dessen ewigen Begleiter Igor gemacht und sei in Kiew verschwunden. Ob alle Mitschriften von Simon stammten sei nicht bekannt, so der „Herausgeber“.

    Im eigentlichen Text begleiten wir nun Simon dabei, wie er sich auf die Spuren von Anton und Igor begibt. Diese waren kurz nach der Tschernobyl-Reaktorkatastrophe aus der Ukraine mit einem damaligen Kinderhilfsprogramm nach Westdeutschland in die Familie von Simon gekommen, um sich von der gesundheitlichen Belastung zu erholen. Nach einigen Jahren wurden sie zurück in die Ukraine geholt und der Kontakt brach ab. Das Merkwürdige: Nun taucht Igor 2019 in den Medien auf als Schachgroßmeister, obwohl doch Anton damals das Schachwunderkind gewesen ist und Igor nur der Begleiter im Hintergrund.

    Auf der Verfolgungsjagd, die Simon in verschiedene Städte und Länder führt, begleitet ihn Maria, die Jugendliebe von Anton, Tochter des ehemaligen Schachlehrer Antons und heimliche, unerfüllte Liebe von Simon. Sie entdecken zusammen parapsychologische Phänomene, die bereits in der Jugend der beiden Jungs zu beobachten waren und begeben sich auf riskante Abenteuer.

    Die Stärken dieses Romans liegen meines Erachtens ganz klar im Spiel von Heisenberg mit Wahrheit und Fälschung. Er produziert äußerst authentisch wirkende Dokumente und Fotos, die sicherlich einige Leser:innen dazu verführen werden, im Internet nach dem Schachgenie Anton aus Tschernobyl, der sogar mit dem Bundeskanzler Kohl Schach spielte, zu suchen. Die Deep Fakes sind Heisenberg wirklich sehr gut gelungen. Auch weiß man bis zum Schluss nicht, was hier alles in diesem Buch von Heisenberg geplant wurde und was nicht. Das Buch ist ein Schachspiel an sich. Auch die parapsychologischen Anteile sind gut gemacht und regen das Interesse an.

    Leider gibt es auch zwei größere Schwächen des Romans. Zum einen drehen sich viel zu viele Textfragmente um die Befindlichkeiten von Simon und Maria in der Jetztzeit. Die Verliebtheit von Simon ging mir richtiggehend auf den Geist beim Lesen. Von Maria erfahren wir zudem einiges aus dem Privat-, Ehe- und Sexleben sowie aus deren Träumen (Nachtschlaf, nicht Hoffnungen). Warum ein Filmemacher seine eigenen Liebeleien aus der Ich-Perspektive heraus erzählt, in einer Dokumentenmappe mit Recherchematerial detailliert beschreiben und abheften sollte, ist fraglich. Genauso fraglich wie warum sich dort aus der personalen Erzählperspektive heraus geschriebene Nachtschlafträume von Maria (und all die anderen persönlichen Informationen) befinden sollten, die nichts zum eigentlichen Plot um Anton und Igor beitragen. Und das ist mein letzter Kritikpunkt: Ich hätte in diesem Roman einfach sehr gern viel mehr von Anton und Igor gelesen. Viel zu stark breitgetreten wird das Hier und Jetzt. Ganz zum Schluss kommt noch einmal richtig Spannung auf und ich las atemlos die Geschichte um Anton. Aber da fehlte mir zwischendrin einfach zu viel.

    Somit komme ich zu dem Schluss, dass Heisenberg hier ein sehr interessantes Konzept vorgelegt hat, was aber noch Potential zur Ausarbeitung und Umgewichtung gehabt hätte. Ein guter Roman, den ich durchaus für eine Lektüre empfehlen kann, der entweder noch nicht ganz ausgereift ist oder den ich nicht vollständig verstanden habe, da vielleicht ganz gewiefte Schachzüge darin verwebt sind. Somit 3,5 Sterne von mir für dieses ambitionierte Werk.

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