Letztes Lied einer vergangenen Welt: Erzählungen

Buchseite und Rezensionen zu 'Letztes Lied einer vergangenen Welt: Erzählungen' von Anthony Marra
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5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Letztes Lied einer vergangenen Welt: Erzählungen"

Keiner versteht es so wie Roman Markin, Menschen einfach verschwinden zu lassen. Wer im Leningrad der 1930er-Jahre staatlich liquidiert wird, dessen Foto landet auf dem Tisch des Retuscheurs. Nicht ein einziges Bild soll bezeugen, dass diese Person je existiert hat. Doch eines Tages will Roman nicht dem Vergessen dienen, sondern sich erinnern: an seinen Bruder – und bringt sich damit in große Gefahr …
Anthony Marra erzählt von Menschen zu ganz unterschiedlichen Zeiten: von der Primaballerina, die im Gulag Schwanensee tanzen muss; von ihrer Enkelin Galina, die sich an das Einzige klammert, was ihr von ihrer Jugendliebe bleibt: ein Gemälde des idyllischen Ortes, an dem er starb; von Kolya und seinem Bruder, die sich in der Trostlosigkeit einer sibirischen Bergbaustadt an den einzigen Traum klammern, der ihnen bleibt: die Weite des Weltalls, im Ohr die Nussknacker-Suite.

Wie kann man Menschen erinnern? Und woran sich halten, wenn alles verloren ist? Anthony Marra schreibt von dort, wo nichts geblieben ist außer Ruinen und Erinnerungen. Von dem, was uns auseinanderreißt, und dem Kitt, der uns alle zusammenhält – der Hoffnung auf Erlösung. Geschichten von berückender Schönheit, die zusammen so episch und ergreifend sind wie ein Roman.

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:345
EAN:

Rezensionen zu "Letztes Lied einer vergangenen Welt: Erzählungen"

  1. 5
    15. Feb 2020 

    Faszinierendes Buch

    Der 1984 geborene Autor Anthony Marra wählt für einen Amerikaner ungewöhnliche Schauplätze für seine Bücher. In seinem Debütroman „ Die niedrigen Himmel“ geht es um den Tschetschenienkrieg und in seinem neuesten Buch breitet er beinahe acht Jahrzehnte sowjetisch-russischer Geschichte aus. Marra hat zwar in Petersburg studiert und Tschetschenien bereist, doch das meiste musste er aus Büchern recherchieren.
    Er spannt in „ Letztes Lied einer vergangenen Welt“ einen großen Bogen von den 1930er Jahren, vom Stalin-Terror und der Gulag-Zeit bis zum kapitalistischen Putin - Russland der Gegenwart, von Leningrad über Sibirien bis in den Kaukasus.
    „Stories“ steht als Gattungsbezeichnung vorne im Buch, aber die neun Geschichten ergeben am Ende einen Patchwork-Roman. Sie sind wie Puzzleteile, die sich allmählich ineinander fügen und erst am Schluss erschließt sich dem Leser das ganze Bild. Personen, die in einer Geschichte Randfiguren sind, stehen in einer der nächsten im Mittelpunkt. Dabei springt der Autor zwischen den Zeiten und Orten .
    Ein durchgängiges Motiv ist das fiktive Gemälde einer Bergwiese, gemalt von einem tschetschenischen Maler im 19. Jahrhundert. Dieses Bild geht im Laufe der Zeit durch viele Hände, wird beschädigt und wieder übermalt. Die dargestellte Wiese ist Schauplatz zahlreicher gewalttätiger Auseinandersetzungen.
    Ausgangspunkt in der ersten Geschichte ist der gescheiterte Künstler und Zensor Roman Markin, der in den 1930er Jahren in Ungnade gefallene Personen, sog. „ Volksfeinde“, aus offiziellen Photos und Gemälden wegretuschiert. Damit sollen die Personen und die Erinnerung an sie ausgelöscht werden. Das war eine Form der Fälschung, die nicht nur in der Sowjetunion, sondern später auch in der DDR und in Nordkorea praktiziert wurde.
    Zu den Menschen, die Roman auslöschen muss, gehört auch sein Bruder Waska, den er sogar aus Familienphotos entfernt. Später wird Roman diesen Bruder unbemerkt in andere bearbeitete Photos und Bilder hineinmalen. Aber auch Roman wird irgendwann das Opfer von Denunziationen.
    In der vorletzten Geschichte steht der Neffe dieses Zensors in einer Ausstellung vor den retuschierten Bildern und erkennt darin seinen Vater.
    In „Enkelinnen“ lesen wir von einer Balletttänzerin, die ebenfalls aus offiziellen Photos entfernt wurde. Als angebliche Volksfeindin wird sie in einen Gulag in der Nähe des Polarkreises deportiert. Nach Auflösung des Lagers entsteht eine Bergarbeiterstadt, in der Enkelin Galina aufwächst. Die Gegend hier ist von Industrieabfällen und Chemikalien verseucht, die Lebenserwartung der Einwohner nicht sehr hoch. Trotzdem macht Galina Karriere als Miss Sibirien und als Filmstar und wird später die Frau eines Oligarchen.
    Der Jugendfreund Kolja ist zuerst Drogendealer und Killer, bevor er im Tschetschenienkrieg in Gefangenschaft gerät. Er wird auf jener Wiese aus dem Gemälde sein Ende finden.
    Auch der einstige Direktor des Museums für Heimatkunst in Grosny hat seine Frau und sein Kind auf dieser Wiese verloren.
    Wir erfahren in einer anderen Geschichte das Schicksal von Vera, die als kleines Mädchen ihre Mutter denunzierte und vom tragischen Ende ihrer Tochter Lydia. Die, eine Schulfreundin vonGalina , war kurzzeitig als Katalogbraut in Amerika und kehrt wieder in ihren Heimatort zurück.
    Die Geschichten von Galina, Kolja, den Restauratoren und ihren Nachkommen werden sich immer wieder kreuzen.

    Dazu wählte Anthony Marra einen ungewöhnlichen Aufbau. Der Erzählband ist in Seite A und Seite B untergliedert. Dabei steht die längste und titelgebende Geschichte „Der Zar von Liebe und Techno“ ( so heißt das Buch im Original ) als Pause der beiden Teile. Die Struktur erinnert stark an die einer Schallplatte. Jede Geschichte hat auch ihren ganz eigenen Sound.
    Durch die wechselnden Perspektiven erleben wir die Figuren in völlig verschiedenen Rollen, z.B. Ist Kolja in der einen Story ein brutaler Killer, in der anderen erleben wir ihn als Mann, der vor Liebeskummer fast verzweifelt.
    Anthony Marra erzählt dicht und mit dem Blick für Details; die Sprache ist mal poetisch und bilderreich, dann wieder derb und brutal, zuweilen ironisch.
    Aber das Buch erfordert einen aufmerksamen Leser und wahrscheinlich gehen einem erst nach der zweiten oder dritten Lektüre sämtliche Bezüge und Verbindungen auf.
    Anthony Marra hat mit „ Letztes Lied einer vergangenen Welt“ ein faszinierendes Buch geschaffen, das den Leser noch lange beschäftigt.
    Die Geschichten sind, wie ein Kritiker schreibt, „ Lieder gegen das Vergessen“.

    Bewertung: 5/5

    Das Buch ruft eigentlich gerade nach einer Diskussion in einem Lesekreis. Allerdings sollte man vorab wissen, dass es aufgrund seiner Struktur, seiner literarischen Dichte und seiner Komplexität keine leichte Lektüre ist. Für Lesekreise geeignet, die abseits des Mainstreams lesen und die Herausforderungen mögen.

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