Lektionen

Buchseite und Rezensionen zu 'Lektionen' von Ian McEwan
4.4
4.4 von 5 (19 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Lektionen"

Roland Baines ist noch ein Kind, als er 1958 im Internat der Person begegnet, die sein Leben aus der Bahn werfen wird: der Klavierlehrerin Miriam Cornell. Roland ist junger Vater, als seine deutsche Frau Alissa ihn und das vier Monate alte Baby verlässt. Es ist das Jahr 1986. Während die Welt sich wegen Tschernobyl sorgt, beginnt Roland, nach Antworten zu suchen, zu seiner Herkunft, seinem rastlosen Leben und all dem, was Alissa von ihm fortgetrieben hat.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:544
Verlag: Diogenes
EAN:9783257072136

Rezensionen zu "Lektionen"

  1. 4 Sterne!

    Klappentext:

    „Roland Baines ist noch ein Kind, als er 1959 im Internat der Person begegnet, die sein Leben aus der Bahn werfen wird: der Klavierlehrerin Miriam Cornell. Roland ist junger Vater, als seine deutsche Frau Alissa ihn und das vier Monate alte Baby verlässt. Es ist das Jahr 1986. Während die Welt sich wegen Tschernobyl sorgt, beginnt Roland, nach Antworten zu suchen, zu seiner Herkunft, seinem rastlosen Leben und all dem, was Alissa von ihm fortgetrieben hat.“

    Ian McEwan ist der Verfasser des Werkes „Lektionen“ und schlussendlich ist der Titel der rote Faden im Buch. Seine Hauptfigur Roland Baines verfolgt im ersten Augenblick ein einfaches Leben welches dennoch von besonderen Ereignissen geprägt ist. Wenn man so will ist das eigentlich nichts außergewöhnliches und großartig nichts lesenswertes aber McEwan zeichnet an Roland etwas nach was eben den Buchtitel immer wieder bestrahlt. Sind es nicht die Lektionen des Lebens die uns prägen? Sind es denn nicht Situationen im Leben die uns vor Fragen, Tatsachen oder eben Entscheidungen stellen mit denen wir umgehen müssen? Zugegeben Roland ist jetzt nicht gerade eine Figur die man in sein Herz schließt da seine Handlungen und seine gesamte Art vielleicht nicht jedem zusagen, mir zumindest überhaupt nicht, aber gut. McEwan nutzt für diese „Lektionen“ die ganz normale geschichtliche Entwicklung, neben denen die das Leben eben sonst noch bereit hält, und reist mit uns nochmal zurück zu besonders wichtigen Geschehen. Der wohl stärkste Part im Buch ist der Kalte Krieg mit der Kuba-Krise 1962. Und warum wohl? Stand die Welt doch damals an einem Abgrund von unglaublichem Ausmaß - wären die nuklearen Sprengköpfe wirklich aktiviert worden, würden wir jetzt weder diese Zeilen hier schreiben können noch lesen. Und was macht das mit Menschen die solche Geschehnisse eben nicht ausblenden wie der Vogelstrauß sondern in ihr Leben lassen? Es prägt einen zutiefst und genau darauf will McEwan raus - alles im Leben prägt einen auch weltpolitische Entscheidungen oder gar Krankheiten die die ganze Welt heimsuchen. Diese gewisse Angst vor eben jenem Weltuntergang haben Roland also massiv geprägt. Wie so vieles anderes auch Einerseits gibt uns der Autor die Möglichkeit selbst diese Geschichte in die Hand und die Geschichte die dahinter steht zu reflektieren und man könnte dann darüber philosophieren nur ist es eben so, das die Menschen die eben jene Krisen erlebt haben immer weniger werden bzw. die aktuellen Geschehnisse eben nur eine bestimmte Altersgruppe anspricht die eben vielleicht erst ab dem Mauerfall „mitreden“ kann, kurzum: es werden verschiedenste Alter der Leserschaft angesprochen und jeder wird es eben anders sehen, anders einschätzen, anders aufnehmen. Wie andere Stimmen zu diesem Buch bereits recht treffend schrieben, ist dieses Werk für Geschichts-Fans ein Muss und die Mischung aus Geschichte und eben Rolands Leben mehr als gelungen, wer aber dafür nur bedingt Sinn hat, wird es wohl als ermüdend und langweilig erachten. Ich vergebe hier sehr gern 4 sehr gute Sternen mit einer Leseempfehlung. So waren doch Schreibstil und Ausdruck immer gelungen und auch wenn wir Roland nie richtig als Person greifen konnten, so sollte es doch vielleicht genau so sein! Das Unnahbare im Leben zeigt uns auch Lektionen auf, wenn wir nur genau hinschauen!

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  1. 4
    31. Dez 2022 

    Ein weitschweifiges Alterswerk...

    Die Romane des britischen Romanciers Ian McEwan gehören zweifelsohne zur gehobenen Liga der europäischen Literaturszene. Die bisher von mir gelesenen Romane des Autors konnten mich auch jedesmal beeindrucken. Leider hatte ich dieses Mal mit dem weitschweifigen Alterswerk McEwans so meine Mühe (immerhin 720 Seiten).

    Präsentiert wird hier mit Roland Baines eine Hauptfigur, die zu der Vita McEwans etliche Parallelen aufweist. In Aldershot (Schottland) als Sohn eines hochrangigen Militärs geboren, wuchs Baines ebenso wie der Autor in den Jahren seiner Kindheit in fernen Ländern auf, bis die Eltern beschlossen, den Jungen in ein Internat in England zu geben. Sechzig Jahre lang begleitet der Roman seine Hauptfigur durch sein Leben, einsetzend im 11. Lebensjahr, als Baines als talentierter Klavierschüler im Internat Klavierunterricht erhält. Sexuelle Übergriffe durch seine Musiklehrerin münden in eine Hörigkeit Baines, als er 14 Jahre alt ist. Eine sexuelle Getriebenheit, die sein ganzes weiteres Leben bestimmen wird. Ein zweites einschneidendes Erlebnis ereignet sich zwanzig Jahre später. Baines wird von seiner Ehefrau Alissa verlassen, er bleibt alleine mit seinem sieben Monate alten Sohn in seinem renovierbedürftigen Londoner Haus zurück und wird darüber hinaus zunächst auch noch des Mordes an Alissa verdächtigt, da diese spurlos verschwunden ist.

    Damit sind die zwei markanten Lebensereignisse des eher stillen und unauffälligen Roland markiert, der sein Leben vor sich hin lebt, selten die Initiative ergreift, sondern schaut, was da so kommt und dabei damit hadert, welche Chancen ihm genommen wurden. Ein eher alltägliches Leben führt er, obschon seine Gedanken erkennen lassen, dass er der Welt intellektuell zu begegnen vermag. Es gibt diskussionsfreudige Bekanntschaften und Freunde, Liebschaften zuweilen, selten Verbindliches. Aber seine Rolle dem Sohn gegenüber, die füllt er aus so gut er es vermag, nimmt ihm gegenüber auch keinen Postition ein gegen die verschwundene Mutter.

    Meilensteine des Weltgeschehens säumen die Erzählung um den eher unscheinbaren Mann, der oft nicht weiß, was er sich vom Leben erhoffen soll. Manches hält nur kurz Einzug, wie zu Beginn die Zeit nach der Tschernobyl-Katastrophe, anderes wird intensiv betrachtet, wie beispielsweise die Geschichte um die Weiße Rose, die nahezu essayhaft seziert wird, oder auch der Fall der Mauer in Berlin, den Roland (wie Ian McEwan seinerzeit auch) live miterlebt. Jede Menge Zeitgeschehen also, häufig gespickt mit McEwans Ansichten dazu. Leider empfand ich dadurch v.a. die ersten zwei Drittel des Romans als überaus langatmig, anstrengend und zäh, v.a. die eher berichthaft gestalteten Passagen, alles plätscherte für mein Empfinden vor sich hin, das Gefühl stellte sich ein, überhaupt nicht voran zu kommen.

    Erst im letzten Drittel versöhnte ich mich allmählich mit dem Roman. Davor liegengelassene Handlungsstränge werden zuletzt wieder aufgenommen, wodurch das Bild runder wird, sich Kreise schließen. Roland Baines wird endlich greifbarer, auch wenn es ihm einfach nicht liegt, Entscheidungen zu treffen, ihm passiert das Leben lediglich, und er hält es aus bzw. arrangiert sich damit. Prägende Erlebnisse lassen sich nicht rückgängig machen - doch Roland erkennt nun immerhin, dass es sich nicht lohnt, in der Vergangenheit festzuhängen. Altersmilde findet er sich schließlich mt seinem Leben ab und hadert nicht länger mit möglicherweise verpassten Chancen.

    Letztendlich habe ich lange zwischen 3 und 4 Sternen geschwankt und mich schließlich zum Aufrunden entschlossen. Ein anstrengend zu lesendes und weitschweifiges Alterswerk hat McEwan hier präsentiert, und wie sein Held Roland Baines war ich am Ende milder gestimmt. Aber sein bester Roman ist dies für mich definitiv nicht.

    © Parden

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  1. Was uns widerfährt

    Wir sind das, was uns widerfährt und was wir daraus machen. So könnte man Ian McEwans neuesten Roman „Lektionen“ in einem Satz zusammenfassen. Und diesem Roland Baines, dessen Leben McEwan von der Kindheit bis ins hohe Alter schildert, widerfährt Einiges.

    Da ist etwa seine Klavierlehrerin Miriam Cornell, die an dem 14jährigen einen Narren gefressen hat und mit der er später - noch minderjährig – eine längere Affäre beginnt. Der ausschlaggebende Impuls dabei: die Kubakrise, die mit ihr drohende nukleare Apokalypse und die Verzweiflung des Teenagers darüber vielleicht zu sterben, ohne vorher die Liebe kennengelernt zu haben.

    Die Eltern, die vielleicht einschreiten hätten können, sind weit weg in einer britischen Garnison in Afrika. Und so ist der junge Roland Baines auf sich allein gestellt. McEwan beschreibt mit Baines Geschichte auch die zahlloser anderer entwurzelter Jugendlicher aus jener Zeit, die in England zur Schule gingen, während ihre Eltern in aller Herren Länder ihren Dienst für das Empire leisteten. Ein klassisches Familienleben konnte es so für diese Kinder nicht geben. Ein Stück weit ist die Geschichte von Baines möglicherweise auch McEwans eigene. Auch sein Vater war als Militärangehöriger in Libyen stationiert.

    Die Weltgeschichte hat uns fest in ihren Klauen und hat auch Auswirkung auf unser soziales Umfeld, oft erst nach Jahrzehnten. Nazideutschland, Tschernobyl oder der Fall der Mauer hinterlassen ihre Spuren im Leben von Roland Baines. Auch seine deutsche Frau Alissa holt die Vergangenheit ein. Sie verlässt ihn kurz nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes Lawrence, um eine letztlich sehr erfolgreiche Karriere als Schriftstellerin zu beginnen. Wir sind alle von den Umständen Getriebene, scheint McEwan da zu sagen, egal für wie clever wir uns auch halten mögen.

    Die unbedingte Loyalität zu seinem Sohn Lawrence und das liebevolle Zuhause, das er ihm bietet, ist vielleicht das Beste, was Roland Baines in seinem ansonsten eher zerfaserten, einem Leben in der endlosen Vorbereitung, auf die Reihe bekommen hat. Aber mit einem erstaunlichen Langmut ist er mit diesem Leben auch immer einverstanden. Vielleicht nimmt er auch nur hin, was er nicht ändern kann oder nicht ändern zu können glaubt.

    Im Herbst seines Lebens versucht er alle losen Enden zusammenzubringen und so etwas wie eine späte Ordnung und Versöhnung zu finden. Er besucht seine todkranke Frau Alissa und auch die Klavierlehrerin, die ganz in seiner Nähe wohnt.

    McEwan erzählt in „Lektionen“ ein ganzes Menschenleben, vielleicht teilweise sein eigenes, und zeigt sich darin als intuitiver, einfühlsamer Menschenkenner und erstklassiger Romancier. Absolute Leseempfehlung.

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  1. Ende gut, alles gut

    Welche „Lektionen“ will mir Ian McEwan in seinem neuen, überaus umfangreichen Roman erteilen? Diese Frage bewegt mich während der über 700 Seiten langen Lektüre, in deren Zentrum der sehr normale Roland Baines und sein Leben stehen. Roland wächst zunächst bei seinen Eltern u.a. in Libyen auf, als er älter wird, besucht er ein Internat, wird von seiner Klavierlehrerin dort missbraucht – ein Trauma, das lange Schatten über sein Dasein und sein Liebesleben wirft – findet und verliert die Liebe, wird Vater und verlassen und am Ende (soviel darf verraten werden) ist alles doch irgendwie gut oder wie Oscar Wilde einst verlauten ließ: „Everything is going to be fine in the end. If it’s not fine it’s not the end.“

    Getreu diesem Motto lässt McEwan seinen Protagonisten vor dem Hintergrund der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts die Wechselfälle eines Lebens erfahren, aber da Roland keinen Plan, keine Ziele und auch keine wirklichen Wünsche hat, ist er bei allem, was da so passiert - sei es der Fall der Berliner Mauer, Tschernobyl oder die Pandemie – stets nur ein Zaungast, ein Beobachter. Wie wir alle ist auch er dabei, aber nie mittendrin. Das birgt ein hohes Identifikationspotenzial, das aber durch die überhöhte und sehr stark betonte Passivität Rolands nie vollends eingelöst werden kann. Für mich enthielt die Lektüre einige Hamlet-Momente, doch bei Roland Baines führt das Aufschiebeverhalten gerade nicht zur Katastrophe.

    Als Figur ist Roland ein Mann ohne Ecken und Kanten, ohne rechten Willen und Anspruch, er fordert nichts, auch nicht sich selbst. Die anderen Figuren, die seine Welt bevölkern, werden vorwiegend durch den Filter seiner Wahrnehmung erläutert, auch sie passieren ihm ohne, dass es zu großen Konflikten, Dramen und Aussprachen kommt. Stets bleibt eine deutliche Distanz zu ihnen – für den Leser, aber auch für Roland. Im Hintergrund wabert der historische Kontext, dessen vermeintlicher Einfluss auf Roland (und umgekehrt) fast nicht existent ist.

    Überhaupt die historischen Rahmenbedingungen: wenn der Roman sich immer wieder dem Exkurs verschreibt und in ausufernder Ausführlichkeit z.B. auf das Kennenlernen seiner Schwiegereltern eingeht und sich dabei bemüßigt fühlt, in weitschweifigem Detailreichtum die Geschichte der „Weißen Rose“ darzulegen, verliert der Roman seinen Fokus, seine Konzentration und beginnt zu plätschern. Da hatte ich mir doch mehr Schärfe, mehr Zielgerichtetheit und deutlich weniger Länge gewünscht. So kämpfen der Leser und der Roman immer wieder auch gegen Langatmigkeit und Längen, gegen Passagen, deren Funktionspotenzial sich auch bei Betrachtung des gesamten Textes nicht erschließen lässt. Manchmal ist weniger doch mehr.

    Sprachlich und inhaltlich habe ich Bissigkeit, den Wow-Effekt, Doppeldeutigkeiten und ein umfangreiches Interpretationspotenzial vermisst, alles wirkt recht gütig und altersmilde. So sind McEwans „Lektionen“ ein lesbarer, aber viel zu lang geratener Abriss eines unspektakulären Lebens, ein gehobener Unterhaltungsroman mit dem ein oder anderen einprägsamen Moment, der aber oft zu konstruiert erscheint.

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  1. "Unsere Anfänge formen uns."

    Ian McEwan breitet das ganze Leben des Roland Baines vor seinem Leser aus: eines sehr mittelmäßigen Mannes, der ein nach außen hin unbedeutendes Leben führt. Man liest von seinen hochfliegenden Plänen, die jedoch alle scheitern, man leidet bei seinen Niederlagen und verpassten Chancen mit und freut sich im umgekehrten Fall über seine kleinen Siege, die selten genug sind. Roland Baines‘ Leben wird durch den Schmerz des Verlassenwerdens geprägt und das Zusammenleben mit seinem Sohn. Gegen Ende des Romans sehen wir ihn eingebettet in eine große Patchwork-Familie mit den Familien seines Sohnes und seiner Stiefkinder. Was ist nun besser? Ist die große Kunst all den Schmerz wert? Die Entscheidung wird dem Leser überlassen.

    Roland Baines Leben verknüpft sich dabei ständig mit der Zeitgeschichte und den gesellschaftlichen Umbrüchen, denen sein Leben ausgesetzt ist und von denen sein Leben auch mitbestimmt wird, ob das der Fall der Mauer ist, die Politik Margaret Thatchers, die Suezkrise etc. bis zur aktuellen Pandemie. Besonders die Kuba-Krise bleibt dem Leser in Erinnerung: wegen der apokalyptischen Stimmung dieser Zeit beschließt der 14jährige, vor dem Weltuntergang wenigstens einmal Sex gehabt zu haben – mit seiner Klavierlehrerin. Er kann sich dieser obsessiven Beziehung nur entziehen, indem er die Schule fluchtartig ohne Abschluss verlässt. Seine „formlose Existenz“, wie er sein Leben selber nennt, führt er auf diese einschneidenden Missbrauchs-Erlebnisse zurück.

    Der Roman heißt „Lektionen“, und Roland Baines erhält seine Lektionen und der Leser auch. Es geht um komplexe moralische Fragen,, die jeder für sich selber beantworten muss. Roland Baines lernt, dass Vergrabenes ans Licht kommt, dass Vergangenes die Gegenwart belastet, und er lernt, dass auch ein unbedeutendes Leben mit vielen verpassten Chancen wie das seine ein erfülltes Leben sein kann.

    Nicht alle Lektionen werden gelernt: „Er hatte das Jahr 1989 für ein Portal, einen Torbogen gehalten, eine weite Öffnung hin zur Zukunft, durch die alle strömen würden. Dabei war es nur ein Höhepunkt, ein kurzer Ausschlag nach oben gewesen. Längst wurden von Jerusalem bis Mexiko wieder Mauern hochgezogen. So viele vergessene Lektionen.“

    Die Art und Weise, wie der Autor diese Geschichte erzählt, hat mich begeistert. McEwan wendet alle denkbaren erzählerischen Kniffe an. Besonders gut gefallen hat mir das „Mosaik der Erinnerungen“, wie es der Protagonist selber nennt. McEwan verzichtet auf breit angelegte Retrospektiven. Stattdessen unterbricht er die chronologische Abfolge durch Erinnerungsfetzen, die nur kurz aufleuchten, was ich als sehr authentisch empfand.

    Fazit: Ein souverän erzählter, sprachlich brillanter Roman um moralische Entscheidungen.
    „Dinge verändern sich, und in der Veränderung muss das Richtige gefunden werden."

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  1. Was wäre wenn...

    … der in Libyen stationierte britische Captain Robert Baines und seine verzagte Frau Rosalind ihren Sohn Roland nicht mit elf Jahren auf ein Internat in der Heimat geschickt hätten?

    … Roland dort nicht an die rätselhafte junge Klavierlehrerin Miriam Cornell geraten wäre, die auf ewig sein „Hirn neu verdrahtet“ (S. 287)?

    … die Kubakrise nicht mit Rolands erwachender Sexualität zusammengefallen wäre?

    … er nicht die Schule abgebrochen und anschließend ein Jahrzehnt verbummelt hätte?

    … er mehr aus seinen Begabungen als Konzertpianist, Tennisspieler oder Dichter gemacht hätte?

    … er nicht ausgerechnet Alissa Eberhardt geheiratet hätte, die ihn und den siebenmonatigen Sohn Lawrence für eine Karriere als Schriftstellerin verließ?

    … Alissa nicht ihrerseits im Schatten der Enttäuschungen ihrer Mutter aufgewachsen wäre?

    Ein Roman mit vielen Stärken
    In seinem gut 700 Seiten umfassenden 17. Roman "Lektionen" verzichtet Ian McEwan auf experimentelle Elemente wie in "Nussschale" oder "Maschinen wie ich" und erzählt stattdessen angenehm traditionell und überwiegend linear vom Leben des 1948 geborenen Roland Baines von den 1960er-Jahren bis über seinen 70. Geburtstag hinaus. Dabei geht es um Missbrauch, Obsessionen, Aufarbeitung, Prägungen, fehlenden Ehrgeiz, geplatzte Träume, väterliche Fürsorge, vielfältige Affären mit meist sehr erfolgreichen Frauen, den Wert von Familienleben und beruflichem Erfolg und die Frage, wann ein Leben als erfolgreich, wann als gescheitert gilt. Rolands Lebensstationen stellt Ian McEwan in den jeweiligen zeithistorischen Kontext: Die Suezkrise, die Kubakrise, der Falklandkrieg, die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl, Glasnost, Perestoika und Wiedervereinigung, die Thatcher-Ära, New Labour, der Irak-Krieg, der Brexit, der Sturm auf das Kapitol und die Corona-Pandemie sind nur die wichtigsten äußeren Ereignisse. Die besondere Kunst Ian McEwans besteht darin, dass er diese an sich altbekannten sozialen und politischen Entwicklungen mit so leichter Hand in die Handlung verwebt, dass die zweifellos dahinterstehende Konstruktion sich nie aufdrängt. Außerdem bleibt es nicht bei der reinen Nacherzählung der Fakten, vielmehr ruft McEwan Gefühle, Hoffnungen und Ängste ins Gedächtnis, ganz besonders gelungen bei der Euphorie während des Mauerfalls und der in den Jahren danach schleichend eintretenden Ernüchterung durch die "neue Hässlichkeit" (S. 698).

    Ein weiterer Pluspunkt des Buches ist die große Nähe zu seinen Figuren, allen voran Roland Baines, und die große Toleranz und Nachsicht, mit der Ian McEwan ihnen entgegentritt, wodurch er ihre Beurteilung ganz in das Ermessen seiner Leserinnen und Leser stellt. Roland Baines war mir spätestens nach der Hälfte des Buches so vertraut wie ein langjähriger Bekannter und meine anfänglich spärliche Sympathie für ihn wuchs mit jedem Kapitel.

    Nicht zuletzt durchzieht den Roman – trotz mancher Tragik – ein unwiderstehlicher Humor, auch dank Rolands Selbstironie.

    Erinnerungen und Erfindungen
    Natürlich stellt sich bei "Lektionen" mehr als bei Ian McEwans anderen Werken die Frage nach dem autobiografischen Bezug, unter anderem wegen des gleichen Geburtsjahres, der Kindheit in Libyen und der Internatszeit. „To milk my own life“ wäre eine Grundlage beim Schreiben von "Lektionen" gewesen, so McEwan in einem Interview, und trotzdem entspringt die Handlung größtenteils seiner Fantasie, eine Vorgehensweise, wie sie auch die Schriftstellerin Alissa im Roman beschreibt.

    "So viele vergessene Lektionen" (S. 696), beklagt der 74-jährige Roland bei der Politik. Und was hat er für sich gelernt?

    "Eine Schande, eine gute Geschichte für eine Lektion zu missbrauchen." (S. 707)

    Ian McEwan jedenfalls missbraucht seinen herausragenden Roman nicht dafür.

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  1. Ein ausuferndes Spätwerk

    Mc Ewan gilt seit langem als einer der wichtigsten und erfolgreichsten Schriftsteller der Gegenwart. Gerade mit seinen stark gesellschafstkritischen Romanen wie "Abbitte", "Der "Zementgarten" sowie "Am Strand" konnte er mich voll und ganz überzeugen. Von daher zählt Mc Ewan ohnehin zu den Schriftstellern, deren Werk und Wirken ich interessiert verfolge. So war ich auf den neuesten Roman natürlich sehr gespannt.

    "Lektionen" gilt als eine Art Alterswerk. Auch andere AutorInnen, u.a. Auster, haben opulente Alterswerke vorgelegt. Grundsätzlich schreckt mich ein großer Seitenumfang nie von der Lektüre ab, vorausgesetzt, die Geschichte zieht mich in ihrem Bann. Ich hätte mir dies für den neuen Mc Ewan sehr gewünscht. Die Thematik, Lektionen des Lebens eingehend in den Blick zu nehmen einschließlich aller Höhen und Tiefen und der Verwobenheit von politischen und Gesellschaftlichen Zeitgeschehen mit individuellen Lebensläufen klang für mich auch sehr reizvoll. Worum geht es?

    Wir folgen Roland Baines von der frühen Kindheit über die Jugend und das Erwachsendasein bis hinein in seinen Lebensabend. Als Sohn eines Majors wuchs Roland zunächst in Libyen auf, besuchte aber später als Elfjähriger ein englisches Internat, wo er eine verhängnisvolle Bekanntschaft mit der Klavierlehrerin Miriam macht. Diese wird übergriffig und Roland gerät mit 14 in eine sexuelle Beziehung mit ihr, der er nur durch das Verlassen des Internats entkommt. Doch dieser Missbrauch in frühen Jahren wird ihn zeitlebens prägen. Mit Frauen bleibt es schwierig. Alissa, seine Frau, verlässt ihn nach kurzer Ehe, um sich auf ihre Schriftstellerkarriere zu konzentrieren und lässt ihn mit dem vier Monate alten Baby Lawrence allein zurück. Später verliert Roland seine langjärige Freundin Daphne viel zu früh an den Krebs.

    Im Laufe des Lebens macht Roland viel durch. In politischer Hinsicht durchlebt er allerlei Krisen und Katastrophen bis hin zur Coronapandemie unserer Zeit. Sein Leben scheint so dahinzuplätschern. Rückwirkend scheint Roland mit allem versöhnt, hätten die Wechselfälle des (politischen und gesellschaftlichen) Lebens ihn auch ganz anders treffen können. Die Wechselfälle seines Lebens werden in aller Ausführlichkeit geschildert, was mir persönlich oft zu viel des Guten war. Über weite Strecken habe ich den Roman leider als sehr langatmig empfunden. Mit Roland als Protagonisten bin ich über weite Strecken nicht warm geworden. Erst am Lebensabend beginnt er mir sympathischer zu werden: Immerhin hat er sein Bestes gegeben in Bezug auf seinen Sohn. Ganz anders dessen Mutter Allisa, der die Schriftstellerkarriere wichtiger war als ihr Sohn. Dafür fehlte mir jedes Verständnis. Insofern war es am Ende für mich fast schon so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit, dass Roland zufriedener scheint mit seinem Leben. Am Ende wirkt er gereift. Mit allem hat er seinen Frieden gemacht.

    Allein das ist mir aber zu wenig für einen über 700 seitigen Roman. Ich hätte gerne mehr explizite Gesellschaftskritik gelesen oder philosophische Reflexionen über die Wechselfälle des Lebens und Ihr Verwobensein mit der Historie. Diese Aspekte werden leider nur angerissen und der Fokus stattdessen auf Rolands dahintreibendes Leben gelegt. Es ist meines Erachtens ein Roman, den man lesen kann, aber nicht muss. Ich hoffe, dass McEwan zukünftig noch mal nachlegt und noch einmal an die stark gesellschaftskritisch angehauchten Romane anschließen kann. Mir persönlich entsprechen sie mehr. Es ist gut, dass die Leserschaft unterschiedlich ist, und so findet auch dieses Werk seine begeisterten LeserInnen.

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  1. Was das Leben uns lehrt

    Roland Baines, Sohn eines schottischen Majors, aufgewachsen in Libyen und auf ein englisches Internat bei Ipswich geschickt: Als Barpianist fristet er sein Dasein in London. Als alleinerziehender Vater kümmert er sich um seinen kleinen Sohn Lawrence. Was erwartet ihn noch in seinem Leben?

    „Lektionen“ ist ein Roman von Ian McEwan.

    Meine Meinung:
    Der Roman gliedert sich in zwölf Kapitel und besteht aus drei Teilen. Die Handlung erstreckt sich über sieben Jahrzehnte. Erzählt wird dabei nicht streng chronologisch und mit mehreren Zeitsprüngen.

    Der Schreibstil ist recht ausschweifend, sprachlich aber sehr ausgereift: schnörkellos und doch anschaulich, nüchtern und gleichzeitig atmosphärisch.

    Der Fokus liegt auf Roland. Er und die übrigen Charaktere sind authentisch und weitgehend klischeefrei ausgestaltet. Leider fiel es mir schwer, einen Zugang zu ihnen zu finden.

    Inhaltlich ist der Roman vielleicht als alternative Biografie des Autors zu werten. Wie könnte das Leben verlaufen, wenn ein paar Komponenten anders gewesen wäre? Tatsächlich streift die Geschichte immer wieder die existenziellen Fragen: Was beeinflusst uns? Was lenkt uns? Was macht ein gelungenes Leben aus? Es geht dabei um die großen Themen: Liebe, Verlust, Schmerz und einiges mehr.

    Neben den persönlichen Erlebnissen der Protagonisten werden die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse der vergangenen Jahrzehnte wie Kriege, Katastrophen und Krisen immer wieder eingeflochten. Auffallend ist, dass vor allem Deutschland und seine Entwicklung, beispielsweise der Fall der Mauer, breiten Raum einnehmen.

    Auf den mehr als 700 Seiten gibt es ein paar ausufernde Passagen. Allerdings ist der Roman weniger langatmig, als es der Umfang vermuten lassen könnte.

    Lobenswert ist, dass der Verlag den englischen Originaltitel („Lessons“), der hervorragend zum Inhalt passt, wortgetreu übersetzt und zudem das Cover übernommen hat.

    Mein Fazit:
    Mit „Lektionen“ ist Ian McEwan ein durchaus lesenswerter Roman gelungen, der mich besonders in sprachlicher Hinsicht überzeugt hat. Leider ist der Funke nicht komplett übergesprungen.

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  1. 5
    30. Nov 2022 

    Ein Meisterwerk!

    Ian McEwan entfaltet in seinem neuen Roman das Leben eines ganz gewöhnlichen Mannes. Geboren wird Roland Baines 1948 als Sohn eines britischen Offiziers. Seine frühe Kindheit verbringt er in Libyen, wo sein Vater stationiert ist. Mit elf Jahren kommt er nach England in ein Internat. Die Trennung von der Mutter fällt dem sensiblen Jungen schwer, doch das Internatsleben erweist sich als weniger schlimm wie befürchtet. Dagegen wird die Begegnung mit der mehr als zehn Jahre älteren Klavierlehrerin prägend für sein weiteres Leben. Belässt sie es bei dem elfjährigen Jungen noch bei sonderbaren körperlichen Übergriffen, entwickelt sich drei Jahre später daraus eine obsessive sexuelle Beziehung. Erst als Erwachsener wird Roland erkennen, welche seelischen Narben dieser Missbrauch bei ihm hinterlassen hat. „ Diese Klavierlehrerin….Die hat dein Hirn neu verdrahtet.“ So wird seine spätere Ehefrau Alissa darüber urteilen.
    Nur mit der Flucht von der Schule schafft es Roland, sich aus diesem Verhältnis zu befreien. Doch er wird ruhelos sich durch sein weiteres Leben treiben lassen, wird nichts aus seinen Talenten machen. Kein Dichter, sondern Verfasser von Gebrauchstexten, keine Karriere als klassischer Pianist, sondern nur einen Job als Barpianiist. Auch privat scheitert er.
    In der Anfangsszene des Romans befindet sich der Enddreißiger Roland sitzengelassen von seiner Frau Alissa mit dem 7 Monate alten Baby in seiner Londoner Wohnung. Alissa hat ihn verlassen, weil ein Familienleben mit Kleinkind sich nicht mit ihren Vorstellungen eines Schriftstellerlebens vereinbaren ließ. Nun versucht Roland völlig überfordert von seiner neuen Rolle als alleinerziehender Vater, seinen Sohn von der drohenden atomaren Wolke aus dem fernen Tschernobyl zu schützen.
    McEwan begleitet seinen Protagonisten bis in sein 7. Jahrzehnt. Sein Anliegen ist es, ein individuelles Leben zu beschreiben und gleichzeitig die politischen Hintergründe und die gesellschaftlichen Entwicklungen in die Biographie einzuarbeiten. So treibt die Angst vor einem dritten Weltkrieg während der Kubakrise Roland in die offenen Arme seiner Klavierlehrerin. ( „ Was, wenn du stirbst, bevor die < es> getan hast?“). Vom Nachkriegsdeutschland über die Suez- Krise, vom Dissidentenleben in Ostberlin bis zum Fall der Berliner Mauer, vom Brexit bis zum Lockdown in Corona- Zeiten, all das beeinflusst mal mehr, mal weniger das Schicksal seines Protagonisten. Dabei kann Roland ein privilegiertes Leben führen, keines, das von Krieg und Verfolgung überschattet ist, sondern die geschichtlichen Ereignisse streifen ihn nur, lassen ihn kurz innehalten. „ Sein zufälliges Glück entzog sich aller Berechnung - 1948 im beschaulichen Hampshire geboren, nicht 1928 in der Ukraine oder in Polen, nicht 1941 von den Stufen der Synagoge herabgesetzt und hierher gebracht. Seine weiße Zelle - eine Klavierstunde, eine zu frühe Affäre, die abgebrochene Schule, die verschwundene Ehefrau - vergleichsweise eine Luxussuite. Falls er im Leben bisher gescheitert war, wie er oft fand, dann im Angesicht der Großzügigkeit der Geschichte.“
    McEwan greift in diesem Roman viele Fragen auf. Was bestimmt unser Leben? Sind es die Prägungen, die man durch Eltern und das soziale Umfeld erlebt? Sind es Zufälle, die ihre Spuren hinterlassen und was entscheidet man dabei selbst? Und wann gilt ein Leben als gelungen und erfolgreich? Wenn man, wie Alissa ein großes literarisches Werk hinterlässt, dafür aber Mann und Kind geopfert hat und nun einsam und krank in der Wohnung sitzt. Oder kann nicht Roland die bessere Lebensbilanz aufweisen, obwohl er nichts aus seinen Talenten gemacht hat, eher planlos durchs Leben gestolpert ist, dafür aber am Ende seinen Frieden gefunden hat und glücklich im Kreis seiner Familie lebt?
    McEwan liefert keine eindeutigen Antworten. Es gibt keine direkten Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung. Dafür zeigt er, wie Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirkt, welche Konsequenzen einmal getroffene Entscheidungen haben können.
    Das ist dramaturgisch höchst kunstvoll gelöst. McEwan erzählt nicht streng chronologisch, sondern springt vor und zurück in der Handlung. Dabei verbinden sich die verschiedenen Ebenen sehr organisch, die einzelnen Erzählfäden werden immer wieder aufgegriffen. Er erzählt in einer klaren und präzisen Sprache, nüchtern und schnörkellos. Dabei entwickelt das Buch einen Lesesog, dem ich mich kaum entziehen konnte.
    Roland Baines ist eine Figur, die mir am Ende richtiggehend ans Herz gewachsen ist. Mag er gesellschaftlich eher auf der Verliererseite stehen, so ist er menschlich gereift. Seinem Sohn gegenüber hat er sich stets bemüht, ein verlässlicher Vater zu sein. Und in seiner Rolle als Großvater findet er eine letzte Erfüllung.
    Der Roman wirft mich in vielem auf eigene Erfahrungen zurück. Wie habe ich selbst die großen historischen Umbrüche erlebt? Welche Ideale mussten einer Ernüchterung weichen? „ Wie - … - waren wir alle, Stunde um Stunde, innerhalb einer Generation vom erregenden Optimismus des Berliner Mauerfalls zum Sturm auf das US- Kapitol gelangt?“ Diese Frage in seiner Resignation stelle ich mir auch.
    Aber auch die ganz privaten Themen, die im Leben dieses Anti- Helden eine Rolle spielen, sind von allgemeiner Gültigkeit. Über Kindererziehung, Beziehungsfragen, dem Verhältnis zu den Eltern, über das Alter, Krankheit und Tod macht sich Roland seine Gedanken und der Leser vergleicht mit seinen eigenen Erfahrungen.
    Dies ist McEwans umfangreichster Roman, aber auch sein persönlichster. Nicht nur teilen der Autor und seine Hauptfigur dasselbe Geburtsjahr und denselben Geburtsort, es lassen sich zahlreiche weitere Parallelen zu McEwans eigener Biographie finden. Seine Kindheit in Libyen als Sohn eines Offiziers, seine Jahre im Internat, seine Erfahrungen beim Fall der Berliner Mauer fließen in den Roman ein. Auch McEwan erfuhr erst nach dem Tod seiner Mutter, dass es einen älteren Bruder gab, der bei Adoptiveltern aufgewachsen ist. Nur eine solche Klavierlehrerin gab es nicht.
    Durch die Schriftstellerin Alissa erklärt der Autor , wie Schreiben funktioniert : „ Ich borge mir hier was und da. Ich erfinde. Ich schlachte mein eigenes Leben aus. Ich bediene mich überall, verändere, biege es mir so zurecht, wie ich es brauche.“
    Der Roman ist für mich ein klassisches Alterswerk. McEwan hat hier alles reingepackt, was ihm das Leben als Lektionen erteilt hat. Dazu passt der versöhnliche Ton im Privaten und die Skepsis, was die Weltlage betrifft. Ein Meisterwerk!

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  1. Lektionen des Lebens

    Der über 700 Seiten starke Roman des britischen Autors unterhält nicht nur, sondern fordert auch den Leser. Erzählt wird das Leben des Roland Baines, der einige biographische Parallelen zum Autor aufweist.
    Die Geschichte beginnt in der Kindheit Rolands, der als Sohn eines britischen Armeeoffiziers in Libyen aufwächst. Mit elf Jahren wird er nach England aufs Internat geschickt, da der Vater Kinder für störend in der Ehe empfindet. Für den bis dahin sehr behütet aufgewachsenen Roland ist das ein Schock. Doch nach der ersten Verunsicherung findet er sich im Internat mit den anderen Jungs gut zurecht. Wegen seiner musikalischen Begabung erhält er Klavierstunden bei Miriam Cornell, die ihn zunächst in Angst und Schrecken versetzt, ihn aber mit 14 Jahren zu einem sexuellen Verhältnis verführt, das Roland zeit seines Lebens prägen wird.
    Erst spät erkennt er, welche Macht Miriam Cornell über ihn ausüben will. Er verlässt trotz seiner Begabungen die Schule, lässt sich durchs Leben treiben, übt mal diesen, mal jenen Job aus, verdingts sich als Barpianist und hangelt sich ohne Ziele oder Ambitionen durchs Leben. Als er beim Deutschunterricht Alissa Eberhart kennenlernt, werden die beiden schnell ein Paar, heiraten und bekommen ein Baby. Doch sehr bald verlässt Alissa Roland und den 4 Monate alten Lawrence, um sich ihrem Ziel, Schriftstellerin zu werden, voll und ganz widmen zu können.
    Dies ist der Zeitpunkt, an dem Roland beginnt, sein Leben genauer zu betrachten und nach Antworten zu suchen, warum sein Leben so und nicht anders verlaufen ist. Wir Leser begleiten Roland bei seinen Erinnerungen in die frühe Kindheit und Jugend, aber dann auch weiter bis ins hohe Alter. Dabei schweift der Autor oft sehr weit ab, geht in teils epischer Breite auf das Weltgeschehen ein, was teils interessant, teils aber auch ausufernd ist.
    Während der Held (oder eher Antiheld) Roland mich zu Beginn eher geärgert hat mit seiner Antriebslosigkeit und Unentschlossenheit, ist er mir im Laufe der Lektüre doch ans Herz gewachsen. Seine Fehler sind zutiefst menschlich, seine Antriebslosigkeit wandelt sich im Alter eher in Güte und Verständnis. Die Lektionen, die der Protagonist in seinem Leben lernt, lassen auch den Leser bewegt und nachdenklich zurück.

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  1. Schritt für Schritt

    Schritt für Schritt

    Ian McEwan, ein Autor, dem ich bislang immer viel abgewinnen konnte, hat mich mit seinem neuen Roman "Lektionen" ganz schön gefordert. Er machte es mir am Anfang nicht leicht einen Bezug zu seinem Hauptcharakter zu finden, doch im weiteren Verlauf verdichtete sich die Handlung, und ich erkannte den Sinn und Zweck hinter allem.

    Wir begleiten Roland Baines, zu Beginn des Romans lesen wir über seine Kindheit in Libyen. Sohn eines britischen Offizier, der ihn dann, Rolands Mutter hatte wenig zu sagen in dieser Ehe, auf ein Internat nach Großbritannien schickt.
    Er beginnt im Internat Klavierstunden zu nehmen, und das Verhältnis zur Klavierlehrerin entwickelt sich irgendwann in eine Beziehung, wenn man davon überhaupt sprechen kann, wenn ein 14 jähriger Junge von einer erwachsenen Frau zum Sex verleitet wird. Nachdem Roland die sexuellen Ausschweifungen genossen hat, erkennt er, dass Miriam, seine Lehrerin, ihn ausschließlich für sich haben will, und dabei eigenwillige Wege einschlägt.
    Roland schafft es dann mit Mühe sich von dieser toxischen Beziehung zu lösen, doch es hat etwas mit ihm gemacht. Sein weiteres Verhalten in Beziehungsdingen und sein enormer Sextrieb, scheinen sich damit erklären zu lassen. Es ist dem Leser unterschwellig immer präsent was dort geschah, und man hofft für Roland, dass er diese Episode seines Lebens aufarbeiten möge.
    Aus seiner Liebe zu Alissa folgt die Heirat, Laurence wird geboren, und dann….bumm, verlässt sie ihn, um Schriftstellerin zu sein, was sie, mit den Pflichten einer Mutterschaft und Ehe nicht schaffen könne. Hier wird ein anderer Zweig der Handlung eingebettet, wo man auch die Vergangenheit von Alissa und deren Eltern kennenlernt.

    Viele historische Ereignisse knüpfen sich an Rolands Lebensweg. McEwan verwebt sie ohne großes Tamtam in die Handlung, so dass einem das Werk auch wie eine Reise in die Vergangenheit vorkommt, ein Rückblick, den jeder im mittleren Alter nachvollziehen und, in meinem Fall, genießen kann.

    Rolands Leben wird noch viele weitere Jahre durchleuchtet. Man erkennt eine Entwicklung und später auch Reife an diesem Mann, die man ihm zu Beginn gar nicht zugetraut hätte. Seine spätere Liebe Daphne und deren Kinder, und natürlich sein Sohn Laurence, lassen ihn viel erleben, wozu natürlich auch Höhen und Tiefen gehören. Zum Ende des Buches ist Roland merklich gealtert, und setzt sich dann schlussendlich mit den meisten Dingen auseinander, die ihn ein Leben bewegt oder gequält haben.
    Das Ende ist ein Ende und zugleich ein Blick nach vorne. Ich führe dies bewusst nicht näher aus, denn man muss sich das Ende erarbeiten. Man muss Lektion um Lektion vorangehen! Wie im wahren Leben, so auch hier im Roman.

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  1. 5
    21. Nov 2022 

    Ein Roman unserer Zeit

    Das Leben des Roland Baines erzählt uns Ian McEwan in seinem neuen Roman „Lektionen“ und lenkt dabei die Aufmerksamkeit des Lesers auf verschiedene Einflussfaktoren, denen sich der Protagonist nicht entziehen kann und daraus seine Lektionen für die Lebensgestaltung manchmal aktiv, manchmal auch ganz passiv zieht. Seine Kindheit in Libyen als Kind eines Militärs, der dort die britische Macht repräsentiert, seine Erfahrungen im britischen Internat, in das er von den Eltern „abgeschoben“ wird, die sexuellen Erlebnisse mit der Klavierlehrerin, die unter die Kategorie „Missbrauch Minderjähriger“ fallen und dann die vielen zeitgeschichtlichen Ereignisse des 20. und 21. Jahrhunderts, die er als Kind dieser Zeit (wie wohl der Großteil seiner Leser) miterlebt hat, und die sein Leben immer in eine irgendwie den Ereignissen angepasste Bahn gebracht haben: die darbende Nachkriegszeit, die Zeit des Kalten Kriegs, Mondlandung, Tschernobyl bis hin zur Corona-Pandemie und dem Brexit unserer Tage.
    Roland Baines führt über all diese Zeiten ein Leben der verpassten Möglichkeiten im privaten und beruflichen Sinne. Aus all seinen Talenten macht er nichts oder wenig. Statt sein Klaviertalent zu fördern und es zu Ruhm und Ehre zu bringen, begnügt er sich mit dem Dasein eines Teilzeit-Barpianisten. Statt sein sprachgestalterisches Talent für ein schriftstellerisches Werk zu nutzen, begnügt er sich mit gelegentlichen Auftragsarbeiten. Und sein Leben an der Seite seiner langjährigen Freundin bleibt im Wagen und Unbestimmten hängen, ohne eine wirklich tiefgreifende Entscheidung der Situation. Und immer fragt man sich als Leser und damit Beobachter dieses Charakters: Ist seine Mittelmäßigkeit und sind seine Bindungsprobleme Folge der Einflüsse aus Elternhaus und Jugenderfahrung (vor allem der Missbrauchserfahrung)? Oder ist der Mensch Roland Baines doch sein Leben lang ganz für sich allein verantwortlich und frei und unabhängig in all seinen Entscheidungen?
    Mein Fazit: Lektionen ist für mich ein „Wohlfühlbuch“. Sprachlich holt mich McEwan darin komplett ab und auch sein Charakter ist mit den vielen Anknüpfungspunkten an das eigene Leben und Erleben jemand, mit dem ich ungeheuer viel Gemeinsamkeiten teile und eine große Nähe erkenne. Und doch wird die Lektüre nicht zu einem bloßen Hineinfallen in Bekanntes. Das Bekannte erhält darin vielmehr ein neues Leben und wird neu eingeordnet. Das macht die Würze dieses Buches aus, der durch die intelligent gestalteten konkreten Zeitbezüge zu einem Roman unserer Zeit wird. Ich gebe gern 5 Sterne.

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  1. Die Lektionen der Jahre

    „Dies war die Erinnerung eines Schlaflosen, kein Traum. Wieder die Klavierstunde – der orangerot geflieste Boden, ein hohes Fenster und in dem kahlen Raum in der Nähe der Krankenstation ein neues Klavier.“
    Schon mit diesem ersten Satz hat mich Ian McEwan an seinen neuen Roman gefesselt, der ein meisterliches Alterswerk darstellt. Der Leser begleitet Hauptfigur Roland Baines durch wesentliche Stationen seines Lebens, die gekonnt eingebunden werden in das jeweilige historische Zeitkolorit. Aufgewachsen ist Roland als Sohn eines Armeeoffiziers in Libyen. Mit 11 Jahren wird er von seinen Eltern getrennt, weil er ein englisches Internat besuchen soll. Die Einsamkeit dort setzt ihm zu, während er die Kameradschaft mit seinen Altersgenossen zu schätzen weiß. Im Dunst der Kuba-Krise lässt er sich auf eine grenzüberschreitende sexuelle Beziehung zu seiner deutlich älteren Klavierlehrerin Miriam Cornell ein, die ihn letztlich aus der Bahn wirft und nicht nur seinen Ausbildungsweg erheblich beeinträchtigt. Als Roland Jahre später von seiner Frau Alissa verlassen wird, beginnt er, Vergangenes zu reflektieren. Dabei überdenkt er nicht nur die eigenen Entscheidungen, sondern auch die Wege seiner Eltern und Schwiegereltern, die wiederum Alissa und ihn geprägt haben.

    McEwan gestaltet ein höchst atmosphärisches Erzählpanorama durch die Zeiten. Nach einem Abstecher ins Nachkriegsdeutschland erleben wir mittelbar den Reaktorunfall von Tschernobyl („Eine Wolke der Selbsttäuschung legt sich über Europa.“ S. 105), die DDR-Diktatur, den Mauerfall, den Weg vom Brexit bis hin zur Corona-Pandemie. Die Handlung wird organisch in diesen historischen Kontext eingebunden. Im Mittelpunkt steht immer Roland, der als eher passiver Mensch durch sein Leben gleitet, der selten beständige Partnerschaften hat, aber stets versucht, seinem Sohn Lawrence ein fürsorglicher Vater zu sein. Im Lauf der Jahre entwickelt sich Roland dabei zu einem verantwortungsvollen, versöhnlichen und sympathischen Charakter, dem ich gerne gefolgt bin.

    McEwan erzählt nicht linear. Es wechseln Geschehnisse der Gegenwart mit welchen der Vergangenheit. Hinzu kommen die umfangreichen Reflexionen des Protagonisten. Das alles ist jedoch so gekonnt konstruiert, dass man nie Schwierigkeiten hat, sich im Geschehen zu verorten. Man liest das Buch in einem Fluss, möchte es am liebsten nicht aus der Hand legen. Roland hat einiges an persönlichen Brüchen und Schicksalsschlägen zu verarbeiten. Der Autor hat sich dabei offensichtlich auch in der eigenen Biografie bedient, ein autofiktionales Werk ist dieser Roman jedoch nicht. Vielleicht beschreibt McEwan seinen Schreibprozess selbst: „Ich borge mir hier was und da. Ich erfinde. Ich schlachte mein eigenes Leben aus. Ich bediene mich überall, verändere, biege es mir so zurecht, wie ich es brauche.“ (S. 678)

    Der Schreibstil ist im hohen Maß elegant und geschliffen, er besticht immer wieder durch wunderschöne Sätze, der Ausdruck ist klar und präzise. McEwan vermag es nicht nur, facettenreiche und glaubwürdige Charaktere zu gestalten, sondern auch deren Gefühlslagen und innere Zustände sensibel abzubilden. Manch bekanntes Rollenmuster wird von ihm umgekehrt. Der Autor überrascht ständig durch neue Handlungsfäden, die er zwar zeitweilig bei Seite legt, jedoch zum gegebenen Zeitpunkt erneut aufnimmt, um sie zum Ende zu führen. Leerstellen schließen sich. Das ist Schreibkunst par excellence! Die Übersetzung von Bernhard Robben lässt dabei keine Wünsche offen.

    Es wird deutlich, dass die Vergangenheit immer in der Gegenwart fortwirkt, dass jede Entscheidung Konsequenzen hat. In seine „Lektionen“ lässt McEwan unglaublich viel Lebensklugheit und (Alters-)Weisheit einfließen. Anhand seines Protagonisten Roland behandelt der Autor die großen Fragen des Lebens. Auch wenn den Text eine latente Melancholie durchzieht, wird er niemals schwermütig. Das dürfte Rolands Naturell geschuldet sein, das versucht, aus allem das Beste zu machen. Er hegt keinen Hader, keinen Groll. Er kann auch Menschen verzeihen, die ihm übel mitgespielt haben. Er vermag, stets das Gute zu sehen. Dieses Verhalten kann man sich tatsächlich zum Vorbild nehmen. Allerdings geht es einher mit immensen Nehmerqualitäten, man könnte Roland auch als Stoiker bezeichnen. Er hat durchaus Parallelen zu William Stoner, einer meiner literarischen Lieblingsfiguren (aus „Stoner“ von John Williams).

    Ich habe bereits einige Romane von Ian McEwan gelesen. Nach „Abbitte“ und „Kindeswohl“ hat mich dieser wieder restlos überzeugt. Ich bin sicher, dass er breite Leserschichten begeistern und zum modernen Klassiker mutieren wird. Das Buch eignet sich perfekt als Weihnachtsgeschenk für alle, die versiert geschriebene, epische Familienromane mögen.

    Riesige Lese-Empfehlung!

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  1. Was prägt uns?

    Wie alles anfing

    Zu Beginn des Buches lernen wir den 11-jährigen Roland Baines als sehr sensibles Kind kennen, das dem Leben im britischen Jungsinternat bang entgegensieht. Obwohl die schlimmsten Ängste sich als unbegründet erweisen, fühlt er sich zunächst entwurzelt. Und da kommt diese Klavierlehrerin daher und quält ihn mit fiesen Kniffen und herabwürdigender Sprache, verunsichert ihn mit übergriffigen Berührungen, gibt ihm aber gleichzeitig das Gefühl, dies alles machte ihn zu etwas Besonderem. Das fällt auf fruchtbaren Boden – ein Kind wie Roland, das sich nach einer Veränderung haltlos fühlt, lässt sich von Erwachsenen sehr leicht zum Opfer machen.

    Wenige Jahre später wird aus diesem verstörenden Innuendo mehr; Miriam nutzt die ganz normalen sexuellen Neigungen eines Kindes aus und pervertiert sie, überschreitet alle Grenzen des Rechts und der Moral.

    Wie es die Weichen stellt

    Das prägt Roland fürs ganze Leben, zieht sich unterschwellig durch die Jahrzehnte. An seiner zwanghaften Hypersexualität scheitern Beziehungen; tiefsitzende Rastlosigkeit und Entscheidungsunfähigkeit führen zu einem Leben, das zwar überaus ereignisreich verläuft – und das von McEwan komplett auserzählt wird –, in dem Rolands außergewöhnliche Talente jedoch nie voll zum Erblühen kommen. Nur die Vaterschaft, die gelingt ihm ganz ohne Zweifel, indem er seinem Sohn immer mit Respekt und Wertschätzung begegnet.

    Man könnte Roland als gescheiterte Existenz bezeichnen, und dennoch, dennoch … Er hat viel erlebt, ist Zeitzeuge von Ereignissen geworden, die in Geschichtsbüchern weitergetragen werden. Lässt sich der Wert seines Lebens wirklich am Erfolg messen, an der Karriere? Ist ein scheinbar unbedeutendes, unspektakuläres Leben nicht lebenswert? Im Literarischen Quartett am 14.10.2022 nannte Thea Dorn ihn »eine Figur, die sich selber staunend bei der Katastrophe namens Leben zuguckt«, und das trifft es für mein Empfinden sehr gut.

    Träume und Traumata

    McEwan stellt die Innenleben seiner Charakter so prägnant wie feinfühlig dar, mit viel Gespür für die Zwischentöne, das zutiefst in der persönlichen Geschichte Verwurzelte. Dabei verfällt er meines Erachtens nie in Kitsch oder abgedroschene Allgemeinplätze; er zeichnet mit fein dosierten Worten ein sehr dichtes, differenziertes Bild. Dieser Roman ist so autobiographisch geprägt wie kein anderer seiner Romane zuvor, bleibt aber nichtsdestotrotz innerhalb der Grenzen der Autofiktion.

    »Ich empfinde eine heimliche Bewunderung und gleichzeitig ein Misstrauen gegenüber Autoren, die ihr Leben endlos ausplündern. (…) Aber dieses Mal dachte ich, ich nehme mir meine gesamte Existenz und verpacke sie in eine Fiktion.«
    (AUS EINEM INTERVIEW MIT IAN MCEWAN, ÜBERSETZT)

    Allenfalls könnte man dem Roman vorwerfen, dass er sich allzu ausschweifend treiben lässt durch die Zeitläufe der Geschichte, mit einem Helden, der dazu neigt, passiv zu erdulden, statt aktiv anzupacken. Ich kenne Leser:innen, die Rolands Gleichmut unsäglich störte, für mich persönlich las es sich indes wie aus einem Guss. Denn Roland mag der Fix- und Angelpunkt des Romans sein, um ihn herum tobt jedoch das wunderbare, schreckliche Chaos des Lebens, das McEwan so gekonnt in Worte fasst.

    Patriarchalische Verwerfungen im Lebenslauf

    Obwohl Roland ohne Zweifel der Schlüsselcharakter ist, gibt McEwan auch den Frauen in seinem Leben viel Raum, was einen feministisch geprägten Themenkomplex eröffnet. Immer wieder geht es um weibliche Selbstbehauptung und weibliche Fremdbestimmung im Laufe der Zeit, insbesondere im Kontext der traditionellen Rolle der Mutterschaft – weibliche Entwicklung als Auflehnung gegen die gesellschaftlichen Erwartungen.

    Da ist Alissa, die Ehefrau, die Roland mit dem kleinen Sohn sitzenlässt, um ungestört schreiben zu können – was die üblichen Geschlechterrollen umgekehrt! –, und schon mit dem Debütroman zur literarischen Sensation wird. Da ist Jane, Alissas Mutter, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Journalistin mit der Weißen Rose auseinandersetzt, deren eigene literarische Ambitionen mit der Mutterschaft indes jäh zum Erliegen kommen. Da ist Rosalind, die Großmutter, die bis ins hohe Alter ein Geheimnis mit sich trägt, das sie über viele Jahrzehnte hinweg gequält haben muss – auch hier wieder: Mutterschaft als Sollbruchstelle der weiblichen Selbstbestimmung.

    Vom Größten ins Kleinste: Weltereignisse und private Verletzungen

    Tschernobyl, Kubakrise, sexueller Missbrauch, das Leben im Internat, die Weiße Rose, der Mauerfall, Brexit: McEwan greift viele Themen auf, persönliche wie zeitgeschichtliche, und jedes davon stellt die ureigene Entwicklung eines oder mehrere der Charaktere in den Fokus – die Ziele, die Konflikte mit dem Status Quo oder die Auflehnung dagegen, die Sackgassen und Abwege. Was macht das mit den Charakteren? Was sagt das aus über sie? Die Art, wie der Autor die Wechselwirkung zwischen politischen Ereignissen und intimstem individuellem Leben darstellt, ist in meinen Augen eine echte Kunst.

    Fazit

    McEwan bettet die Romanhandlung differenziert und überzeugend in die Zeitgeschichte ein, verliert die persönliche Entwicklung seiner Charaktere dabei aber nie aus dem Blick. Er verwendet Versatzstücke seines eigenen Lebenslaufes, ohne die Grenze zur Autofiktion zu überschreiten. Der Roman liest sich im besten Sinne wie ein Alterswerk, stilistisch und inhaltlich gereift wie ein guter Wein.

    Die Schwere mancher angesprochenen Themen weicht immer wieder einer versöhnlichen Leichtigkeit, und diese Mischung macht aus »Lektionen« in meinen Augen einen unterhaltsamen Schmöker mit Tiefgang.

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  1. 5
    17. Nov 2022 

    Meisterhafte Fülle

    Vom Blitzkrieg zum Brexit – McEwans neuer Roman umfasst 70 Jahre Zeitgeschichte, erlebt von Roland Baines und dessen Eltern, dem wir zum ersten Mal zum Zeitpunkt der Tschernobyl-Katastrophe begegnen. Roland wurde gerade von seiner Frau verlassen, die ihm mitteilt, sie habe „das falsche Leben gelebt“, und ist gefordert, seinem neugeborenen Sohn ein Vater zu sein. In den Rückblenden seiner Erinnerung erleben wir die (Vor-)Geschichte, die geprägt ist von den „Lektionen“ dreier Frauen.

    Es gibt einige Parallelen zur Biografie des Autors: Eine Kindheit in Libyen, sein Vater ein Militär, eine schwache Mutter, ein geheim gehaltener Bruder, die harte Schulzeit in einem englischen Internat. Im Internat erfährt Rolands Vita den entscheidenden, von der des Autors abweichenden Knick: Seine attraktive Klavierlehrerin Miriam verstrickt den 14jährigen in obsessive Hörigkeit. Dies wird möglich, weil Roland während der Kuba-Krise befürchtet, als Jungfrau sterben zu müssen. Später versteht er: „Die Welt würde sich weiterdrehen. Er hätte überhaupt nichts tun müssen.“ Aus dieser toxischen Gemengelage kann er sich nur durch Flucht bzw. Abbruch seiner Ausbildung entziehen. Die Intensität dieser Erfahrung wird zum unmöglichen Maßstab für künftige Beziehungen. Erst 20 Jahre später wird er in der Lage sein, den Missbrauch und seine daraus resultierenden Verhaltensmuster zu erkennen.

    Infolge gelingt es Roland (im Gegensatz zu McEwan) nicht, aus seinen Talenten Gewinn zu ziehen – er lässt sich treiben, wird Barpianist statt Konzerte zu geben, schreibt Sprüche für Glückwunschkarten anstelle von Gedichten und gibt Tennisstunden, statt selbst im Court zu siegen. Er ist kein Macher, im Gegenteil: in seiner Passivität und Reaktivität ist er das Inbild des geworfenen Menschen. „Wie leicht es doch war, sich durch ein nicht selbst gewähltes Leben treiben zu lassen und einzig auf Ereignisse zu reagieren. Nie hatte er eine wichtige Entscheidung getroffen.“ Die einzige aktive Entscheidung, die Roland in seinem Leben trifft, ist die für seine langjährige Freundin und Geliebte Daphne, die ihm schließlich hilft, seine Geschichte zu verstehen und ihm somit die letzte „Lektion“ erteilt.

    Alissa, Rolands halb-deutsche Frau, entwickelt sich unterdessen zur Literatur-Ikone, die in einem Atemzug mit Thomas Mann und Günter Grass genannt wird. Schöne Ironie McEwans: Roland werden quasi von der Literatur Hörner aufgesetzt. Die Beschreibung ihrer Werke trifft auch auf die McEwans zu, der „selbstbewusst und wie in Zeitlupe direkt unter den Blicken der Leser die riesige Materialfülle organisiert.“ Permanent springt die Erzählung zwischen den Zeiten; dennoch verliert man beim Lesen niemals die Orientierung oder fühlt sich durch die Menge der eingebauten Fakten überfordert. Ihm gelingt das Kunststück, Breite und Tiefe zu vereinen. Noch jede Nebenfigur hat Profil.

    Was macht nun ein gutes Leben aus? Ist Alissas Regal voller Weltliteratur, das sie geschaffen hat, das Opfer der Beziehung zum leiblichen Sohn wert? Ein schöner Kunstgriff von McEwan, einer Frau diese Rolle zuzuweisen – denn bei männlichen Genies hat sich diese Frage noch nie gestellt. Nebenbei weiht er uns durch Alissa in seinen Schreibprozess ein: “Ich borge mir hier was und da. Ich erfinde. Ich schlachte mein eigenes Leben aus. Ich bediene mich überall, verändere, biege es mir so zurecht, wie ich es brauche. […] Alles, was ich je erlebt habe. Alles, was ich weiß, und jeder, dem ich jemals begegnet bin – all das wird von mir zu dem vermengt, was ich erfinde.“

    „Lektionen“ mag in seiner (niemals langweiligen) Opulenz ein altmodischer Roman sein; sicherlich hat er nichts gemein mit dem Solipsismus aktueller Buchpreisträger. Wie McEwan die Folgen von Rolands Beschädigung durch Miriam nachempfindet, und wie sich diese Verletzung mit dem Zeitgeschehen zu genau diesem Lebenslauf verbindet – das ist die ganz große Kunst eines Altmeisters. Dieses vollkommen durchschnittliche Leben zu begleiten, das am Ende doch gut wird, weil „ein wenig Anstand“ vorhanden war, war für mich ein wunderbar befriedigendes und versöhnliches Leseerlebnis.

    Ein Buch, das ich aus vollem Herzen empfehlen kann.

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  1. Zeitzeuge Roland Baines. Zeitzeuge Ian McEwan

    Kurzmeinung: Was soll ich sagen? Die einen halten den Roman für ein Meisterwerk - die anderen nicht.

    Die Lebensdaten des Protagonisten Roland Baines stimmen mit denen des Autors exakt überein. Auch andere Ähnlichkeiten im familiären Beziehungsgeflecht finden sich in beider Leben wieder, zum Beispiel ein spät aufgetauchter Verwandter, eine gescheiterte Ehe sowie Schauplätze, die beide besucht haben und zu denen beide einen inneren Bezug haben. Dennoch ginge man in die Irre, würde man Ian McEwans Roman „Lektionen“ für eine reine Autobiografie halten. Das ist es nicht. Der Alter Ego McEwans geistert freilich durch alle Buchseiten.

    Es ist so, als ob Roland Baines und Ian McEwan gemeinsam durch die relevanten historischen Ereignisse ihrer Lebensspanne spazierten, sozusagen Hand in Hand und sich dabei ausgiebig erinnern, nostalgisch nachsinnen und resümieren. Wie hat dieses und jenes Politikum mein Leben beeinflusst?

    Roland Baines wird durch die Kubakrise und durch die Furcht vor der Atomisierung der Welt seine Sexualität überbewusst; seine Angst davor treibt ihn in eine toxische erotische Beziehung. Der Berliner Mauerfall wiederum führt ihn zum Zeitpunkt des Mauerfalls nach Berlin und die Pandemie 2021 in die soziale Isolation. Er lebt die meiste Zeit in London.

    Von einigen Spezifikationen abgesehen ist Roland Baines ein reiner Zuschauer der Weltgeschichte. Genau wie wir, die wir dieselben Lebensdaten haben, wir, die Leser dieser Geschichte. Und wie Ian McEwan. Und wie McEwan ist er ein Künstler. Allerdings ein gebrochener, wenn nicht gescheiterter, er hatte das Zeug zum Konzertpianisten, doch er fristet seinen Lebensunterhalt als Barpianist.

    Der Kommentar:
    Roland Baines begeistert mich nicht. Er ist im Grunde ein Lebenskünstler, einer, im Fluss der Zeit Treibender. Er ist ein passiver Mensch, der keine Entscheidungen trifft, das Leben passiert ihm, er gestaltet es nicht. Und über alles hat Roland eine Meinung, was nicht falsch ist und die er in 40 Bänden Tagebuch festhält.

    Dem Roman fehlt jegliches Vorwärtsstreben. Er nimmt den Leser mit in eine Erinnerungsspirale, in einen Kokon aus Worten (ausschweifend), er ist rückwärtsgewandt. Dieser fehlende Zug des Romans vermittelt Resignation. Stillstand. Die Zuschauerattitüde wird gehegt und gepflegt. Mitten drin die Figur Rolands, eine Figur, die reichlich umdichtet wird. An Einfällen mangelt es McEwan nicht. Und nicht an Themen der Zeit. Schließlich ist Ian McEwan immer noch der Künstler Ian McEwan. Alleinerziehende Männer verlocken mich jedoch nicht zu Begeisterungsrufen. Patchworkfamilies auch nicht.
    Was dem Roman zudem leider abgeht, ist ein Gefühl von Dankbarkeit für das Leben - und Zufriedenheit damit stellt sich ebenfalls nur bedingt ein. Dafür kreist der Protagonist ausgiebig über ihm entgangene oder nicht ergriffene Possibilities. Don’t cry over spilled milk, ist meine Meinung dazu.

    Auffallend, dass selbst die tragischen Stationen von Rolands Leben in diesem Roman eher einem sanften Wasserplätschern gleichen, als einem tosenden Wasserfall, der hinunter in die Schlucht stürzt. Ein nivelliertes Leben an dessen Ende folgerichtig das Verbrennen aller Aufzeichnungen steht. Also Nichtigkeit.

    Alles Leben ist nichtig und eitel und Haschen nach Wind? Irgendwie schon.

    Bei McEwans Roman „Lektionen“ bleiben als Lebensertrag nur diese eine Einsicht, "alles ist sinnlos", symbolisiert im Verbrennen der Tagebücher, die Perspektive beziehungsweise Hoffnung auf die nächste Generation und – wenigstens – die einzige aktive Lebensleistung Rolands, die Aussöhnung mit den Menschen, die ihn verletzt oder sogar beschädigt haben.

    Fazit: „Lektionen“ ist nicht der beste Roman des Autors. Man kann ihn trotzdem gut lesen und anhand der beiden, Roland und Ian, die jüngere Geschichte noch einmal Revue passieren lassen. Ein Nachhall wird allerdings ausbleiben.

    Kategorie: Anspruchsvoller Roman
    Verlag: Diogenes, 2022

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  1. Ein alleinerziehender Vater, sein Leben und seine Erinnerungen

    Als Protagonist ein serieller Monogamist, der auch in seinem beruflichen Leben so unstet ist wie bei seinen Frauengeschichten, als Sympathieträger? Ungewohnt, auch wenn wir die Ursache für seine Unstetigkeit beizeiten erfahren, die in seiner Internatszeit als Jugendlicher zu finden ist.

    Aber das Leben ist ein großer Lehrmeister und so muss auch Roland seine Lektionen lernen, verschärft noch durch seine Situation als alleinerziehender Vater! Wir begeben uns mit ihm auf eine Exkursion durch die Weltgeschichte und erkennen, wie Ereignisse indirekte (weil es schon die Eltern-Generation betraf) oder direkte Auswirkungen auf sein Leben haben.

    Das fängt z.B. intensiv mit der Widerstandsgruppe ‚Weiße Rose‘ 1942 in München an, geht weiter mit dem D-Day im Juni 1944, die Grenzöffnung in Berlin 1989 und endet mit der Corona-Pandemie und der Klimakatastrophe in unserer Gegenwart. Die Kubakrise im Okt. 1962 nimmt bei unseren Protagonisten einen besonders hohen Stellenwert ein, da die Angst vor einem totalen Atomkrieg ihn zu einem Schritt bewegt, der sein ganzes weiteres Leben beeinflussen wird.

    Automatisch kamen in der Folge auch bei mir Gedanken wie ‚in welcher Lebenssituation warst Du da gerade zu diesem Zeitpunkt?‘ bzw. ‚Welche Auswirkungen hatten diese Ereignisse auf Dein Leben?‘ Viele Szenen und die unterschiedlichsten Charaktere reizten mich außerdem zu psychologischen Interpretationen!

    Aber nicht nur Geschichtsfans kommen auf ihre Kosten, sondern auch Leseratten und Musikliebhaber, denn Roland ist ein Vielleser (‚Herr der Finsternis‘ von Joseph Conrad ist nur eines der Bücher, die genannt werden) und spielte auch Klavier (von klassischer Musik bis Jazz).

    Besonders gut hat mir der – schon philosophische - Lebensrückblick unseres Protagonisten gefallen – hier kommt die ganze Lebenserfahrung und Weisheit des Verfassers zum Tragen. Das Buch ist eines meiner Buch-Highlights des Jahres 2022 und wird mir lange in Erinnerung bleiben. Ich kann folglich nur die Höchstzahl der Rezensions-Sterne vergeben und empfehle dieses Meisterwerk wärmstens!

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  1. Der Roman eines Lebens

    „Die Zeiten seiner wilden Reisen waren zwar vorbei, aber der Wunsch nach Abenteuern und einer unmöglichen Freiheit verdarb ihn immer noch für die Gegenwart, die doch die meisten Befriedigungen des Lebens bereithielt. Es war eine Frage der inneren Einstellung. Sein wahres Leben, das grenzenlose Leben, fand anderswo statt.“ (Zitat Seite 237)

    Inhalt
    Im Spätsommer 1959 kommt Roland Baines, elf Jahre alt, mit seinen Eltern aus Libyen nach England. Für ihn beginnt, dreitausend Kilometer von seinen Eltern entfernt, das Internatsleben. Die Erfahrungen dieser Jahre verändern sein ganzes weiteres Leben. Er hat viele Pläne, reist, vermeidet Bindungen. Doch dann trifft er Alissa, verliebt sich, heiratet. Wenige Monate nach der Geburt seines Sohnes Lawrence verlässt Alissa völlig überraschend ihn und das Baby. Er ist fassungslos, sucht nach Alissa, doch sie will nicht gefunden werden. Gleichzeitig bringt das Leben mit seinem Sohn auch Routine und Ordnung in sein eigenes Leben. Mit den Jahren beginnt er, über sein Leben nachzudenken, über wichtige Entscheidungen, die er getroffen hat und die Konsequenzen. „Die Vergangenheit war nicht mehr zu retten, aber die Gegenwart konnte er vor dem Vergessen bewahren.“ (Zitat Seite 477)

    Thema und Genre
    Dieser Roman schildert ein Menschenleben von der Kindheit bis ins Alter, die Ereignisse und Entscheidungen, gleichzeitig ist es ein zeitpolitischer Roman und ein Familien- und Generationenroman. Es geht um Lebenspläne, um das Leben als Schriftsteller, um Träume, Enttäuschungen, Beziehungen, Liebe, Fragen und die Suche nach dem Platz im eigenen Leben.

    Charaktere
    In jungen Jahren träumt Roland Baines von einem Leben in Freiheit, ohne Verpflichtungen. Auch nach der Zeit im Internat macht ihn dies ruhelos, voller Ideen, die er rasch wieder vergisst, nie zu Ende bringt. Er lässt sich durch sein Leben treiben, reagiert, aber agiert nicht. Die Charaktere und die Geschichten der Hauptfiguren enthüllen sich langsam, zunächst fehlen viele Details, doch im Laufe der Handlung gewinnen wir immer mehr Einblicke in die Vergangenheit. Entscheidungen sind nachvollziehbar, erklärbar, auch wenn man selbst unterschiedlicher Meinung ist.

    Handlung und Sprache
    Die Handlung schildert das Leben der Hauptfigur Roland Baines chronologisch über viele Jahre, Zeitsprünge sind durch die entsprechenden Jahreszahlen oder Altersangaben leicht zu erkennen. Doch dies ist nur eine Seite dieser facettenreichen Geschichte, denn einen wichtigen Teil machen seine Erinnerungen, Gedankengänge, Überlegungen aus und werden durch viele Gespräche zwischen den Hauptfiguren ergänzt. Die Geschichten der Elterngeneration ergeben sich zum Teil aus Tagebüchern und aus Erzählungen. Chronologisch ist jedoch nur Rolands Geschichte, alle diese ergänzenden Episoden tauchen plötzlich auf, wenn Roland sich daran erinnert, darüber nachdenkt, nach Antworten für sein Leben sucht. Diese Art des Erzählens, des Schilderns und die genauen Beobachtungen, so vielseitig wie die sprachliche Umsetzung, machen das Lesen dieses Romans zu einem packenden Erlebnis.

    Fazit
    Ein epischer Roman über das Leben, als Wienerin fällt mir der Songtitel "mei potschertes Leb'n" ein, denn es ist kein einfaches Leben, das Roland führt. Held, Antiheld, gar kein Held, irgendwie doch ein Held, das alles in einer Figur. Gleichzeitig ein politisch-kritischer Roman über eine Generation, die den Fall der Mauer bereits im Erwachsenenalter erlebt hat, die damit verbundenen Hoffnungen, Erwartungen und dann in nur dreißig Jahren erleben musste, dass immer mehr neue Mauern errichtet wurden und werden. Ich wollte mich während dieser Lesestunden mehrmals überreden, Roland Baines nicht zu mögen, sein Zaudern, seine Antriebslosigkeit - und doch ist es mir in keiner Minute gelungen, dieses Buch nicht großartig zu finden. "Es gab Strömungen, Handlungsstränge, Entwicklungen, die niemand hätte vorhersehen können, auf den nun verbrannten Seiten hatte er nicht einmal die entsprechenden Fragen gestellt." (Zitat Seite 696). Hier schreibt ein Autor, der nicht nur alle Facetten der Sprache kennt, sondern auch alle Facetten des Lebens.

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  1. Lektionen fürs Leben

    Im Roman erzählt McEwan die Lebensgeschichte von Roland Baines verknüpft mit der realen politischen Geschichte, die Einfluss auf Baines nimmt, was dieser mehrfach reflektiert und thematisiert.

    McEwan erzählt nicht linear, sondern ausgehend von der Gegenwart im Jahr 1986 erinnert sich der der 38-Jährige an seine Klavierstunden als 11-Jähriger zurück. Dabei hat ihn seine Lehrerin sexuell belästigt hat, was bei ihm aber vor allem sexuelle Fantasien auslöst, so dass seine Lehrerin dem 13-Jährigen als Objekt der Begierde bei der Masturbation dient.

    Roland Baines wurde im Spätsommer 1959 ins Internat nach England geschickt, während seine Eltern in Libyen bleiben. Dort ist sein Vater als britischer Armeeoffizier stationiert. Die Zeit in Libyen hat Roland in guter Erinnerung, auch während der Suezkrise. In dieser Zeit war er in einem Camp evakuiert, in dem er trotz der Abschottung grenzenlose Freiheit erlebt hat, "sie prägte ihn in seiner Ruhelosigkeit, seinem unklaren Ehrgeiz mit Anfang zwanzig, bestärkte seine Aversion gegen jede Art regulärer Arbeit." (82)

    Auch der Einfluss des autoritären Vaters sowie der depressiven Mutter prägen ihn - Pflichtbewusstsein, Verantwortung, Erziehung zum Mann vs. Vertrauter der Mutter. In diesem Spannungsfeld wird er groß und versteht viele der Geheimnisse der "Familienwolke" (75) nicht: Warum wachsen seine älteren Geschwister, die einen anderen Vater haben, nicht mit ihm auf? Warum ist seine Mutter so traurig?

    Die Erinnerungen an seine Klavierlehrerin Miriam Cornell werden wach, weil er in der Gegenwart im Jahr 1986 von seiner Frau verlassen wird und nun mit seinem sieben Monate alten Sohn Lawrence allein dasteht. Folgende Nachricht hat Alissa ihm hinterlassen:

    "Versuche nicht, mich zu finden. Mir geht es gut. Es ist nicht Deine Schuld. Ich liebe dich, aber dies ist endgültig. Ich habe das falsche Leben gelebt. Bitte vergib mir, wenn du kannst." (20)

    - trotzdem wird er von der Polizei verdächtigt wird, seine Frau umgebracht zu haben.

    Während Roland wie gelähmt ist, legt sich eine atomare Wolke über Europa - der Supergau in Tschernobyl.

    "Er hatte gedacht, es sein seine Liebe, die das Kind schützte. Aber ein öffentlicher Notstand ist ein indifferenter Gleichmacher. Kinder eingeschlossen. (...) Was in den Augen eins Politikers gut für die Massen sein mochte, war womöglich für keinen Einzelnen gut, insbesondere nicht für ihn." (52)

    Ein Satz, der für viele politische Ausnahmezustände Geltung hat.

    Wir begleiten Roland von Ende 30 bis zu seinen 70ern, immer wieder durchbrochen von Rückblicken an seine Jugend, an die Klavierlehrerin, die sein Leben nachhaltig beeinflusst hat, und auch den Beginn seiner Ehe mit Alissa.
    Die Geschichte der Eltern der beiden wird erzählt, so dass Licht in die "Familienwolke" fällt und auch Alissas Verhalten wird anhand ihrer Familiengeschichte verstehbar - auch wenn die Tatsache, dass sie ihre Familie verlässt, um ihren Traum Schriftstellerin zu werden verwirklichen zu können, kaum nachvollziehbar bleibt.

    Die Geschichte Rolands wird in drei Teilen erzählt, die deutliche Zeitsprünge aufweisen.
    Teil 1: 1986
    Teil 2: 1989 - 1996
    Teil 3: 2002 - 2021

    McEwan webt in Rolands Lebensgeschichte die politische Geschichte ein und gemeinsam mit dem Protagonisten tauchen wir auch in die Höhepunkte des letzten Jahrhunderts - den Fall der Mauer, das vorläufige Ende des Kalten Krieges, das zu politischem Optimismus verführt hat, der bitter enttäuscht worden ist.

    "Wie - nach welcher Logik, welcher Motivation oder infolge welcher hilfloser Kapitulation - waren wir alle, Stunde um Stunde, innerhalb einer Generation vom erregenden Optimismus des Berliner Mauerfalls zum Sturm auf das US-Kapitol gelangt? Er hatte das Jahr 1989 für ein Portal, einen Torbogen gehalten, eine weite Öffnung hin zur Zukunft, durch die alle strömen würden. Dabei war es nur ein Höhepunkt, ein kurzer Ausschlag nach oben gewesen." (696)

    Die Kunst McEwan besteht für mich darin, dass er Rolands Entwicklung, aber auch die der anderen Figuren, authentisch und nachvollziehbar schildert. Ist man zunächst abgestoßen von Rolands Dahintreiben, wächst einem der Protagonist im Lauf des Romans ans Herz, so dass ich nach 710 Seiten immer noch gern weitergelesen hätte, obwohl fast alle Handlungsfäden aufgelöst werden. Viele kluge Sätze über das Elterndasein, das Älterwerden und den Einfluss der Geschichte auf unser Leben machen diesen Roman zu einem Lesevergnügen.

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