Leinsee

Buchseite und Rezensionen zu 'Leinsee' von Anne Reinecke
4.55
4.6 von 5 (11 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Leinsee"

Karl ist noch nicht einmal 30 und hat sich schon als Künstler in Berlin einen Namen gemacht. Er ist der Sohn von August und Ada Stiegenhauer, ›dem‹ Glamourpaar der deutschen Kunstszene. Doch in der symbiotischen Beziehung seiner Eltern war kein Platz für ein Kind. Nun ist der Vater tot, die Mutter schwer erkrankt. Karls Kosmos beginnt zu schwanken und steht plötzlich still. Die einzige Konstante ist ausgerechnet das kleine Mädchen Tanja, das ihn mit kindlicher Unbekümmertheit zurück ins Leben lockt. Und es beginnt ein Roman, wild wie ein Gewitter, zart wie ein Hauch.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:368
Verlag: Diogenes
EAN:9783257070149

Rezensionen zu "Leinsee"

  1. 3
    06. Mai 2018 

    Farbenspiel

    Karl ist Sohn und er ist es nicht. Seine Eltern, ein bekanntes Künstlerehepaar, sind sich in der Ausübung ihrer Kunst genug. Karl war da irgendwie über und kam auch bald ins Internat. Später ist er selbst ein anerkannter Künstler. Es hat es aus sich selbst heraus geschafft. Als jedoch seine Mutter schwer erkrankt und sein Vater stirbt, macht sich Karl auf nach Leinsee, den Ort der Kunst, sein Elternhaus. Für Karl ist es keine einfache Heimkehr, zumal die Öffentlichkeit nun hinter sein Geheimnis gekommen ist. Mäßig berühmter Sohn sehr berühmter Eltern. Eltern, die nicht mehr präsent sind. Karl könnte verzweifeln, gäbe es nicht die sporadischen Begegnungen mit der 8jährigen Tanja,

    Wie ist es zwischen Eltern und Kindern, wenn die Lebens- und Beziehungsumstände sagen wir ungewöhnlich sind. Dieser Frage widmet sich Anne Reinecke mit ihrem gefühlvollen Erstlingswerk. Ein junger Mann, der wohl zurecht damit hadert, dass er als Kinde beiseite geschoben wurde. Von Eltern darf man möglicherweise schon etwas mehr erwarten als in relativ jungen Jahren ins Internat abgeschoben zu werden, oder? Und nun kann die Grübelei beginnen. Haben nicht auch die Eltern ein Recht auf Verwirklichung? und was ist, wenn sie sich selbst genug sind? Wäre es dann besser ein Kind wegzugeben oder nicht erst entstehen zu lassen? Wie wirkt es sich aus, wenn später die Eltern alt werden und der Hilfe bedürfen? Sicher können sie sich wünschen, dass ihr Kind sich kümmert. Einen Anspruch haben sie gewiss nicht. Doch Karl kümmert sich und hadert wieder. Der Vater hinterlässt einen kalten Abschiedsbrief, in dem er verzeiht und nicht einemal die Überlegung anstellt, ob er um Verzeihung bitten müsste. Die Mutter übersteht eine schwere Operation, doch sie erkennt Karl nicht, sie seiht nur ihren Mann. Die Begegnungen mit Tanja wirken wie kleine Fluchten. Sucht Karl ein Kind, bei dem er es besser machen kann?

    Vielleicht sind der Autorin beim Schreiben ganz andere Überlegungen in den Sinn gekommen. vielleicht ist die Art zu lesen von der persönlichen Situation des Lesers bestimmt. Doch obwohl man Karl eine umsorgtere Kindheit gewünscht hätte und ihn in seinen Wunsch, den Eltern gerecht zu werden, respektiert, so kann man nicht jede seiner Handlungen nachvollziehen. Man versucht, nicht allzu sehr zu werten und Karl so zu nehmen wie er ist, doch bei allem Verständnis fällt dies nicht immer leicht. Dennoch hinterlässt das phantasievolle Farbenspiel und die ruhige klare Sprache Anne Reineckes eine eindringliche Spur.
    3,5 Sterne

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  1. Karl findet sich selbst

    Karl findet sich selbst

    Leinsee ist der Debütroman der Autorin Anne Reinecke.
    Als Vielleser hat man ja oft das Gefühl, dass alles irgendwie schon mal Thema war in einem Buch. Mit diesem Klischee räumt Anne Reinecke in meinen Augen auf. Dieser Roman konnte mich in vielfacher Hinsicht überraschen.

    Der 26 jährige Karl ist der Sohn des erfolgreichen Künstlerehepaars Ada und August Stiegenhauer. Viele Jahre bestand kein Kontakt zwischen den Eltern und Karl. Dieser wurde in jungen Jahren auf ein Internat geschickt, und es kommt einem so vor, als wäre diese Trennung gleichzeitig ein Versuch das Kind aus dem Leben der Eltern zu verbannen. Karl leidet, und bricht nach dem Abitur den Kontakt gänzlich ab. Er tritt aber in die Fußstapfen seiner Eltern und wird ebenfalls Künstler, sogar recht erfolgreich. Seine Beziehung zur 8 Jahre älteren Mara ist für ihn gleichzeitig das eintauchen in eine fremde und neue Welt.
    Als die Mutter, Ada, mit einem Hirntumor plötzlich zusammenbricht und es kaum Aussichten auf ein überleben gibt, erhängt August sich. Karl reist nach Leinsee, zurück an den Ort seiner Kindheit. Dort bekommt er die Chance doch noch Zeit mit seiner Mutter zu verbringen. Und Karl lernt die 8 jährige Tanja kennen. Zwischen ihm und dem Kind entwickelt sich etwas, was man schwer beschreiben kann. Der weitere Verlauf der Handlung dreht sich um Tanja und Karl, bis zu ihrem 19 Lebensjahr.

    Für mich war es sehr interessant Karls Weg zu verfolgen. Vieles war offensichtlich, einiges geschah unerwartet und auf vieles gibt es keine eindeutige Antwort. Und genau das hat mich im Nachhinein so fasziniert, dieser Roman schafft es, das man sich so fühlt als hätte man die Fäden in der Hand.
    Das Ende hatte für mich etwas befreiendes, für mich ist Karl endlich angekommen. Seiner Kindheit beraubt, lernt der Erwachsene Karl von einem Kind im Leben zu bestehen. Das ist meine Sichtweise, aber das muss nicht zwangsläufig das sein, was andere Leser in diesem Roman sehen.

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  1. 4
    22. Mär 2018 

    farbenfroh und originell

    Irgendwo in Deutschland gibt es einen Ort, den gibt es gar nicht: Leinsee - eine märchenhafte Idylle und Titel des Romans von Anne Reinecke.

    In Leinsee, zu dem natürlich auch besagter See gehört, steht das Domizil des berühmten Künstlerehepaars Ada und August Stiegenhauer, die sich durch ihre Harz-Plastiken in der internationalen Kunstszene einen Namen gemacht haben. In Leinsee hielten die beiden Hof und gewährten manch einem Stiegenhauer-Jünger ihre Gunst, indem sie ihm Einblick in ihr Leben und Schaffen ermöglichten.
    Ada und August waren eine Einheit, durch innige Liebe miteinander verbunden. Niemandem wäre es gelungen, die Verbundenheit der beiden Seelenverwandten zu stören. Selbst Karl nicht, ihrem Sohn, der schon als Kind in die Welt hinausgeschickt wurde. Seine Schulzeit verbrachte er in Internaten. In den Ferien kehrte er nach Leinsee zurück. Doch immer war da dieses Gefühl, dass er ein Störfaktor in der Einheit Ada/August war.

    "Sie waren Ada und August, August und Ada, das war alles, und alles andere war zuviel." (S. 55)

    Nach seiner Schulzeit schlägt Karl ebenfalls eine Künstlerlaufbahn ein. Er hat das Talent seiner Eltern geerbt, ist erfolgreich - ob ihm dabei der Ruf der Eltern Schützenhilfe leistet, sei dahingestellt. Von Leinsee hält er sich fern und versucht, sein eigenes Leben in Berlin zu leben.
    Als sein Vater Selbstmord begeht und die Mutter an einem Gehirntumor operiert wird, kehrt der mittlerweile 28-jährige Karl notgedrungen nach Leinsee zurück. Während seine Mutter noch im Krankenhaus liegt, quartiert sich Karl in seinem Elternhaus ein. Zunächst ist er allein und nutzt die Zeit, sein eigenes Leben in Frage zu stellen. Er lässt Berlin, den Trubel um seine anstehende Kunstausstellung sowie seine Lebensgefährtin Mara erstmal hinter sich und lässt die Stille und den Zauber von Leinsee auf sich wirken.

    Dabei freundet er sich mit einem kleinen Mädchen aus der Umgebung an, die eines Tages in einem Baum auf seinem Grundstück sitzt. Die Freundschaft, die sich hier entwickelt, bedarf keiner Worte. Die Kommunikation zwischen den Beiden findet hauptsächlich non-verbal, anhand von kleinen Geschenken und Gesten statt. Wie bei seinen Eltern scheint sich hier eine Seelenverwandschaft anzubahnen. Irgendwann holt Karl die Berliner Wirklichkeit jedoch wieder ein und er kehrt zurück in sein altes Künstlerleben. Sechs Jahre müssen verstreichen, bis Karl weiß, was er will. Die Sehnsucht nach Leinsee war unterschwellig immer bei ihm vorhanden und am Ende kehrt er zurück.

    "Es ging ihm gut mit seinem Entschluss. Er misstraute sich selbst deswegen, aber es fühlte sich richtig an. Karl wollte nicht weg. Er wollte seine Mutter im Atelier lachen sehen, auch wenn es geschummelt war. Er wollte hierhergehören. Das hatte er schon immer gewollt." (S. 205)

    Ich möchte mit meiner Beschreibung nur einen Teil dessen wiedergeben, was dieses facettenreiche Buch zu bieten hat. Es wäre schade für die nachfolgenden Leser, wenn ich weitere Details zu diesem Roman ausplaudere. Daher möchte ich mich von jetzt an auf einige wenige Aspekte dieses Buches konzentrieren:
    Leinsee ist ein farbenfroher Roman - und damit ist weder die Abbildung auf dem Cover gemeint noch irgendwelche bunten Illustrationen. Nein, Anne Reinecke spielt verbal mit Farbe. Jedes Kapitel - und davon gibt es einige, denn die Kapitel sind sehr kurz gehalten - ist mit einem ganz besonderen Farbton überschrieben. Und man wird staunen, was es alles für Farben gibt: Regentageblau - Schaumstoffgelb - Föhnblond ... um nur einige zu nennen. Die Fantasie kennt keine Grenzen. Diese Farben haben einen Bezug zu dem jeweiligen Kapitel. Und man ertappt sich bei dem Versuch, diesen Bezug herauszuarbeiten. Das macht einfach nur Spaß und fordert die volle Aufmerksamkeit beim Lesen. Wobei es nicht schwierig ist, die Aufmerksamkeit zu halten. Denn Anne Reineckes Sprachstil macht es dem Leser leicht: kurze Sätze, angenehmer Lesefluss, subtiler Humor, der mit der Vorstellungskraft des Lesers spielt. Lesen wird zum Hochgenuss.

    "'Gott weiß', das hatte der Vater schon immer gesagt. Immer schon, obwohl er überhaupt nicht religiös gewesen war. Als Kind hatte Karl geglaubt, das sei eine Farbe: allerweißestes Weiß, die Bartfarbe Gottes oder so." (S. 39)

    Leinsee ist ein Findungsroman
    Karl stand von Kindheit an im Schatten seiner Eltern. Durch das Abgeschobenwerden auf Internate fehlt ihm das Verhältnis, das zwischen Eltern und Kindern vorherrschen sollte. Er ist quasi allein groß geworden. Als Orientierung hatte er lediglich den Ruhm seiner Eltern. Vielleicht ist der eigene Werdegang ins Künstlerdasein ein Versuch, seinen Eltern näher zu kommen. Anfangs ähnelt seine Kunst der seiner Eltern. Als seine Eltern tot bzw. im Krankenhaus sind, nutzt er die Zeit in Leinsee, sich Gedanken über sein Leben zu machen. Bisher lebte er fremdbestimmt. Andere aus einem Umfeld, inklusive Lebensgefährtin, entschieden für ihn, was das Beste für ihn ist. Mit der Episode "Leinsee" nabelt er sich endlich von den Anderen ab und entscheidet fortan selbst über sein Bestes. Diese Entwicklung macht sich auch in seiner Kunst bemerkbar. Denn Karl schlägt künstlerisch neue Wege ein.

    Leinsee ist ein Liebesroman
    Auch wenn die Aura von Leinsee von der Liebe zwischen Ada und August bestimmt wird, geht es am Ende um die besondere Beziehung zwischen Karl und Tanja. Anfangs ist der Umgang der beiden miteinander schwer zu verstehen. Karl sieht in dem unbeschwerten und fantasievollen Verhalten Tanjas ein Abbild seiner nichtvorhandenen Kindheit. Er lässt sich auf ihre Kindereien ein, wird selbst nochmal zum Kind. Mit den Jahren verändert sich das Verhältnis der Beiden. Tanja wird reifer, legt das Kindliche ab. Fast scheint es, als ob Karl auf sie gewartet hat.
    Am Ende kriegen sich Karl und Tanja, oder vielleicht auch nicht. Denn das bleibt der Fantasie des Lesers überlassen.

    "Die Möglichkeit, dass sie kommen und ihm zuschauen würde, reichte schon aus, damit Karl sich Mühe gab. Er ließ auch tagsüber das Licht an, damit Tanja ihn sehen konnte." (S. 271)

    Ich gebe zu, dass ich meine Schwierigkeiten mit der Beziehung zwischen Karl und Tanja hatte. Anfangs hat mich der Altersunterschied zwischen den Beiden gestört und das Fixiertsein von Karl auf Tanja. Sein Verhalten ihr gegenüber nahm stalkerhafte Züge an. Entweder mangelte es mir an Fantasie, mir solch ein bizarres Verhältnis zwischen einem erwachsenen Mann und einer 8-Jährigen vorzustellen. Oder ich hatte zuviel Fantasie, weil ich Karl bei seiner Fixierung auf Tanja Böses unterstellt habe. Als mit den Jahren aus dem kindlich naiven Verhältnis der Beiden eine ausgewachsene Beziehung mit allen körperlichen Aspekten wird, fühlte ich mich mit dem großen Altersunterschied zwischen den Beiden nicht wohl. Wahrscheinlich bin ich zu altmodisch für derartige Herzgeschichten.

    Und dennoch war es ein großes Vergnügen für mich, diesen Roman zu lesen, was allein an dem grandiosen Sprachstil von Anne Reinecke liegt.

    Fazit:
    Leinsee ist ein facettenreicher und origineller Roman, der voller Überraschungen steckt: Künstlerroman, Selbstfindungsroman, Liebesroman und vieles mehr, wobei mich eher der Sprachstil als die Handlung überzeugt hat. Denn Anne Reineckes Sprachstil macht das Lesen ihres Erstlingswerk zu einem Hochgenuss.

    © Renie

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  1. 5
    18. Mär 2018 

    Wer ist Karl?

    Wenn unbekannte Namen beim Diogenes Verlag erscheinen, so darf man neugierig sein, denn der Verlag bewies schon oft ein feines Händchen bei der Entdeckung vielversprechender Autoren. Und nach der Lektüre des Debüts von Anne Reinecke steht nun für mich fest: hier war es ebenso.

    In diesem Roman geht es im Wesentlichen um Karl, einen gerade einmal 26 jährigen Mann, der mit seiner acht Jahre älteren Freundin in Berlin lebt und sich bereits als Künstler einen Namen gemacht hat. Doch zuallererst begegnet der Leser Karl in einem Zug, in dem er sitzt, nachdem er die Nachricht von der Tragödie erhalten hat. Der Vater tot, erhängt, am Lampenhaken, im Salon, in Leinsee. Die Mutter Notoperation, Hirntumor, kaum Überlebenschancen. Der Sohn nun auf dem Weg, zurück, in die Vergangenheit, dorthin, wo er seit sieben Jahren nicht mehr war.

    In Leinsee angekommen, erfährt Karl, dass seine Mutter die Operation wider Erwarten überstanden hat. "Karl zog die Nase hoch und freute sich über die Unberechenbarkeit seiner Mutter." (S. 15 f.) Doch sein Vater ist unwiderruflich tot - unerträglich war diesem der Gedanke, künftig ohne seine Frau weiterleben zu müssen. Ada und August Stiegenhauer, das berühmte Künstlerpaar, August und Ada, die Unzertrennlichen, die sich selbst stets genug waren. So eng die Verbindung zwischen den beiden, dass auch für ein Kind nie wirklich Platz war. Karl, der einsame Junge, der mit 10 Jahren in ein Internat verbracht wurde, inkognito, um unbelastet von dem berühmten Namen seiner Eltern aufwachsen zu können. Nun Halbwaise, einen Abschiedsbrief des Vaters in der Hand.

    "Er atmete aus, rollte sich in den Sessel und trank. Er hielt die Augen geschlossen, befühlte das Papier in seiner Hemdtasche und ließ sich vom Raum hin- und herwiegen." (S. 22)

    Je länger Karl in der großzügigen Villa seiner Eltern bleibt, desto mehr scheint die Zeit stillzustehen. Erinnerungen, schmerzhaft oft, das mühsame Heraufbeschwören einzelner Bilder, in denen es einen Kontakt wenigstens mit seiner Mutter gab, das Gesicht des Vaters bereits verloren. Karl wirft die Möbel aus seinem ehemaligen Zimmer und baut sich ein Nest zum Schlafen. Er trinkt viel, streift durch das Atelier seiner Eltern und lässt die Gespenster der Vergangnheit ein. Bis er ein kleines Mädchen im Kirschbaum entdeckt: Tanja.

    Das achtjährige Mädchen ist einfach da, immer wieder, unbeschwert und willensstark, und Karl lässt sich auf ihr Spiel ein, erfreut sich an ihren kleinen Geschenken und erwidert diese, hängt Überraschungen in den Kirschbaum und genießt die Anwesenheit des Kindes. Tanja scheint das einzig Konstante in seinem Leben zu sein, in dem nun alles ins Wanken geraten ist.

    "Von allen Fehlern, die er gemacht hatte, schien ihm das auf einmal der schimmste zu sein, von allen Problemen das schwerste und von allen Traurigkeiten die tiefste. Das war natürich völlig absurd, nüchtern betrachtet, aber Karl fühlte sich nicht nüchtern, Karl fühlte sich falsch und durchsichtig." (S. 220)

    Wer ist Karl? Dieser Gedanke drängt sich bei der Lektüre zwangsläufig auf. Und er selbst weiß es wohl am allerwenigsten. Desorientiert folgt er in Leinsee dem 8jährigen Kind hinterher, fühlt sich wohl, wenn er Tanjas Blicke im Nacken spürt, wie unwirklich übernimmt er aber auch die Rolle seines Vaters, für den ihn seine Mutter nach der Gehirnoperation hält, lässt sich treiben und alles geschehen, so widersinnig es auch sein mag. Karl ist auf der Suche nach sich selbst, nach seiner Kunst, nach seinem Leben. Und im Mittelpunkt dieser Suche steht Tanja, bei der er einfach sein kann, wie er ist. Doch wie lange wird sie da sein?

    "'Weißt du, Karl, (...) die gute Nachricht (...) ist: Es wird jetzt nicht mehr schlimmer werden. Ab jetzt wird es nur noch besser.' Karl zuckte mit den Schultern und drückte seine Zigarette aus (...) Wenn man den Gedanken allerdings zu Ende dachte, war er falsch. Denn dass es beser würde, müsste bedeuten, weniger an Tanja zu denken. Und weniger an Tanja zu denken konnte unmöglich besser sein, denn die Gedanken an Tanja waren ja das Beste, was er noch hatte, und, ach, egal, es war sowieso alles falsch..." (S. 356 f.)

    Doch weshalb nun die fünf Sterne, die ich wahrlich nicht häufig vergebe? Zuallererst ist es die Sprache, die mich hier mitgerissen hat, der ganz besondere Schreibstil, behutsam und poetisch zuweilen, dann wieder wuchtig und gewaltig, aber stets ungemein bildhaft. Überhaupt strömt hier eine schöpferische Kraft durch die Zeilen, die ihresgleichen sucht. Kunst spielt hier natürlich eine große Rolle, zwangsläufig, wo Karl doch ein bekannter Künstler ist und seine Eltern berühmt sind für ihre Kunstwerke, aber die Schilderungen der Autorin sind eben auch kleine Kunstwerke, die Bilder und Farben erstrahlen lassen, die Wortneuschöpfungen kreieren ('der Vaterbrief', 'das Fiepsen des Mutterpulses' oder 'ein klebriges Plastikbechereis'), und die alle Sinne ansprechen: das Sehen - das, wenn es in reiner Form unterträglich wird, auch gerne über Spiegelbilder oder, noch abstrakter, durch ein Opernglas erfolgt -, das Hören - die kleinen Wellen des Sees, die ans Ufer schlagen, die Schwalben, die über den Abendhimmel jagen - oder auch das Riechen - Tanja riecht beispielsweise meist nach Honig und Basilikum.

    Ein besonderes Vergnügen haben mir in diesem Roman die Kapitelüberschriften bereitet, die allesamt Farbbezeichnungen sind, aber eben in besonderen Nuancen: Kanarienvogelgelb - Regentageblau - Klirrsilbern - Kaugummigrau oder Föhnblond sollen hier als Bespiele genügen. Dabei beziehen sich die Überschriften stets auf den Inhalt des nachfolgenden Kapitels, und ich war jedesmal gespannt, auf den Zusammenhang zu stoßen. Oftmals gibt es konkrete Gegenstände, denen die Farbbezeichnungen geschuldet sind, manchmal gibt es aber auch herrlich schräge Zusammenhänge, z.B. in dem Kapitel 'Gottweiß':

    "'Gott weiß', das hatte der Vater schon immer gesagt. Immer schon, obwohl er überhaupt nicht religiös gewesen war. Als Kind hatte Karl geglaubt, das sei eine Farbe: allerweißtestes Weiß, die Bartfarbe Gottes oder so." (S. 39)

    In jedem Fall ist dies ein Roman, der sich in keine Schublade stecken lässt. Eine Erzählung über eine verlorene Kindheit, über eine Selbstfindung, über eine Liebe, über Loslassen und Ankommen - und über Farben. Die Bilder von einer verrückten Teeparty, von einer riesigen Schneekugel und einer Taube im Käfig werden mich wohl noch eine Zeitlang begleiten - und vor allem hat mich der Roman mit einem Lächeln entlassen. Was will man mehr?

    Ein Roman, der sich in keine Schublade stecken lässt. Eine leise Erzählung von ungeahnter Wucht, voller Farben und Poesie. Einfach schön! Ich gratuliere Anne Reinecke zu ihrem ersten großen Wurf und hoffe sehr, bald mehr von dieser Neuentdeckung lesen zu können!

    © Parden

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  1. Ein neuer Stern am Autorinnenhimmel...

    Versprochen bekam ich seitens des Verlages (Klappentext), dass es sich bei diesem Roman um ein Debüt handelt, das Aufsehen erregen wird, geliefert bekam ich so viel mehr.

    In der Geschichte geht es um den Mittzwanziger Karl, dessen Eltern gefeierte Kunststars sind. Als sein Vater stirbt, kehrt er nach langer Abwesenheit heim und was ihn da erwartet, damit hat er selbst nie gerechnet.

    Durch die Handlung führt uns ein auktorialer Erzähler, der uns Karl und seine Umgebung näher bringt.

    Karl ist als Figur schon etwas Besonderes. Am Anfang weiß man noch nicht so recht was mit ihm anzufangen, da er sich direkt in der Einstiegsszene übergibt und generell zu viel trinkt. Doch je mehr man über ihn erfährt, desto mehr Verständnis hat man für ihn. Ich konnte mich gut in seine Lage hineinversetzen und mit ihm mitfühlen.

    Ebenfalls nicht unerwähnt lassen möchte ich die Figur der Tanja. Auch wenn man nicht sonderlich viel über sie erfährt, so macht sie den Leser doch aber neugierig auf sich. Besonders gefallen hat mir wie gut sie Karl tut und das wo sie zu Beginn der Handlung gerade einmal acht Jahre alt ist.

    Das Besondere an dem Roman ist zudem, dass jedes Kapitel mit einer Farbe überschrieben ist, die dann später in der Handlung auftaucht. Dabei sind das keine normalen Farben wie rot, grün oder blau, sondern Farben wie föhnblond, geranienrot oder nebelgrau.

    Kunst spielt in der Handlung zwar eine Rolle, liegt aber nie im Fokus.

    Ansonsten besticht das Geschriebene vor allem durch überaus gelungene Sätze, die lange im Gedächtnis bleiben. Ich habe selten ein Buch voll so schöner Worte und Formulierungen gelesen. Ich bin ja ein Fan von sprachlichen Bildern und die bekommt man geboten.

    Hier mal ein Beispiel: "Das Laken, mit dem sie den Vater bedeckt hatten, trug rechtwinklige Linien, wo es gefaltet gewesen war, ein schöner Kontrast zu der unregelmäßigen Form darunter, fand Karl." (S. 21) oder "Aufregung kroch seine Wirbelsäule hoch, wie eine Ameisenstraße, in den Nacken und dann in den Kopf hinein, bis an die Schädeldecke." (S.81)

    Diesen geschriebenen Appetithappen habe ich innerhalb von zwei Tagen regelrecht inhaliert.

    Fazit: Wer eine besondere Geschichte sucht, der ist hier genau richtig. Ich kann nur eine absolute Leseempfehlung aussprechen. Auch wenn das Lesejahr 2018 noch recht jung ist, so zählt dieses Buch bereits jetzt zu meinen Highlights.

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  1. Regentageblau – Gottweiß – Erstehilferot – Föhnblond

    Künstlerroman, Liebesgeschichte, Drama?

    Das Buch lässt sich in keine Schublade stecken: mal ist es im allerbesten Sinne unbequem und schwer zu fassen, dann wieder locker-leicht und unterhaltsam, sogar lustig. Diese Ambivalenz macht für mich einen großen Teil des Reizes aus. Hier kann viel Widersprüchliches nebeneinander existieren, denn man nimmt die Geschichte aus Sicht eines Protagonisten wahr, der im Wandel begriffen ist – ob er das selber will und wahrnimmt oder nicht.

    Karl ist kein Mensch, der sich über harte Fakten definieren lässt. Er ist Künstler, und damit fängt die Ambivalenz schon an:

    Mit ungläubigem Staunen nimmt er zur Kenntnis, dass er sich mit seinen Werken einen Namen in der Kunstszene gemacht hat. Seine Selbstwahrnehmung ist geprägt von einem Gefühl der Unzulänglichkeit, gleichzeitig verraten seine Gedanken ein sehr feines Gespür für Formen und Farben.

    Regentageblau – Gottweiß – Erstehilferot – Föhnblond

    Seine Eltern sind ebenfalls Künstler. Aber August und Ada Stiegenhauer sind nicht einfach erfolgreich, sie sind Kult. Ihre Liebe ist legendär: August gibt es nicht ohne Ada, Ada gibt es nicht ohne August. Sonst brauchen und wollen sie nichts von der Welt – und das schließt ihren Sohn mit ein, der im Alter von 10 Jahren ins Internat abgeschoben wurde.

    "Kinder muss man loslassen!" – dazu sollte man sie erstmal festgehalten haben, aber in der Zweisamkeit seiner Eltern war kein Platz für Karl.

    Das Buch beginnt mit dem totalen Zusammenbruch des Status Quo.

    Ada hat einen Hirntumor, ihre Überlebenschancen sind gering. August will nicht leben in einer Welt ohne Ada und bringt sich um. Und Karl kehrt zurück nach Leinsee, den Ort seiner Kindheit, um die Angelegenheiten seiner Eltern zu klären.

    Überhaupt ist Rückkehr ein zentrales Thema des Buches, in vielerlei Hinsicht: Rückkehr in die Heimat, Rückkehr in die Kindheit, Rückkehr in alte Verhaltensmuster. Doch die Rückkehr bietet für Karl zunächst nur wenig Tröstliches oder Heilsames. Für vieles ist es zu spät, anderes erweist sich als Selbstbetrug.

    Rückkehren. Festhalten. Später Loslassen. Manchmal Zerstörung, um auf den Trümmern etwas Neues bauen zu können.

    Die Autorin findet viele Bilder für das, was in Karl vorgeht. Oft ist die Verbindung so offensichtlich, dass sie plump wirken könnte – wäre Karl sich dessen nicht zumindest ansatzweise bewusst. Letztendlich findet er darüber eine Brücke zurück zu seiner eigenen Kunst, die er erst.selber zu begreifen lernt.

    Für mich ist einer der interessantesten Aspekte des Buches, wie viel ihre Kunst über Karl und seine Eltern aussagt – aber das sollte jeder Leser für sich entdecken und interpretieren, deswegen möchte ich das so stehen lassen.

    Aber ich kann nicht über dieses Buch sprechen, ohne über Tanja zu sprechen.

    Karl fühlt sich verständlicherweise um seine Kindheit betrogen. In trotzigem Aufbegehren gegen diesen Verlust baut er sich ein Nest in seinem alten Zimmer und versucht, wieder die Rolle eines kleinen Kindes einzunehmen.

    Als die 8-jährige Tanja eines Tages in seinem Kirschbaum sitzt, fühlt Karl sich daher unweigerlich von ihr angezogen und beginnt eine Freundschaft, die sich zunehmend intensiv über Jahre erstreckt. Nach meinem Empfinden bewegen sich die beiden dabei aufeinander zu, was ihre emotionale Reife betrifft:

    Tanja wird zunehmend erwachsener und reifer, Karl jedoch will seine Kindheit nachholen. und das geht zwangsläufig mit einer gewissen emotionalen Rückentwicklung einher. Schließlich erreichen sie einen Punkt, irgendwo im Niemandsland zwischen Kindheit und Erwachsensein, an dem sie fast auf Augenhöhe sind.

    Dennoch ist diese Freundschaft nicht ohne Spannungen, und es wird immer fragwürdiger, wo die Grenzen verlaufen – oder verlaufen sollten.

    Letztlich wird jeder Leser selber entscheiden müssen, wie er diese Freundschaft / Beziehung empfindet. Auf jeden Fall wirf das Buch da interessante Fragen auf, und die Entwicklung der beiden Charaktere wird glaubhaft und schlüssig geschildert.

    Abschließend noch ein paar Worte zum Schreibstil: er ist mal locker und leicht, dann wieder beinahe poetisch, oft voller interessanter Bilder, aber nie belanglos. Die Autorin verleiht Karl eine sehr starke, einzigartige Stimme, wobei er oft einen überraschenden Humor zeigt.

    Fazit:

    Die Liebe von Ada und August Stiegenhauer ist legendär: die beiden Künstler sind unzertrennlich, das scheinbar perfekte Paar – aber in ihrer Zweisamkeit war nie Platz für ihren Sohn Karl. Der ist inzwischen 26, hat sich selber einen Namen als Künstler gemacht und pflegt keinerlei Kontakt mehr zu seinen Eltern. Als deren Zweisamkeit jedoch auf tragische Weise zerbricht, muss Karl zurückkehren ins Haus seiner Kindheit und versuchen, mit dieser abzuschließen. Ganz unerwartet tritt dort die 8-jährige Tanja als Muse und kindliche Freundin in sein Leben.

    "Leinsee" ist von allem ein bisschen: Künstlerroman, Drama, Liebesgeschichte. Ich fand es durchaus unterhaltsam, aber es ist meines Erachtens kein Buch, dass man nebenher runterlesen kann, ohne darüber nachzudenken. Lohnend fand ich es trotzdem, alleine schon wegen der wunderbar geschilderten Entwicklung der Charaktere.

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  1. Ausgezeichnet

    Karl ist der Sohn des legendären Künstlerehepaars Stiegenhauer. Er selbst tritt schon seit seiner Schulzeit unter dem Pseudonym Karl Sand auf. Das war nicht selbst gewählt, die Eltern bestimmten es bei seinem Eintritt ins Internat so. Karls Eltern waren sich selbst genug, ihre innige Zweisamkeit, verbunden mit der künstlerischen Symbiose, ließ kein Platz für ein Kind. Selbst in den Ferien war er eher ein unliebsamer Gast, der die Abläufe störte. So wandte sich Karl nach dem Internat auch völlig von den Eltern ab. Erst die Nachricht einer schweren, lebensbedrohlichen Krankheit seiner Mutter und der dadurch ausgelöste Suizid des Vaters führen ihn zurück nach Leinsee. Zurück im Elternhaus wird er nun mit einem Teil seines Lebens konfrontiert, den er weit von sich geschoben, aber doch nie abgeschlossen hat. Seine Mutter erkennt ihn nicht mehr, im Gegenteil, sie hält ihn für ihren geliebten Mann und Karl spielt – anfangs zögernd – das Spiel mit.

    Die für ihn völlig fremde Welt und die Situation wirft Karl völlig aus der Bahn. Er selbst hat sich inzwischen auch als Künstler einen Namen gemacht und seine Lebensgefährtin und Beraterin drängen auf eine baldige Rückkehr in die Hauptstadt. Doch Karl kann sich nicht lösen, da ist zum einem seine Mutter, die ihn zwar nicht mehr erkennt, der er aber zum ersten Mal richtig nahe ist und da ist Tanja, ein kleines Mädchen aus dem Ort, das ihm völlig unbekümmert begegnet und mit ihrer Alltagswelt erdet.

    Das Kind Tanja ist meines Erachtens die wichtigste Person in diesem Roman. Sie taucht auf und verschwindet, es findet kaum eine verbale Kommunikation statt, sie tauschen sich über kleine Schätze wie Gürtelschnallen, Vogelfedern und ähnliche Fundstücke aus. Die Atmosphäre zwischen diesen beiden Personen ist seltsam und geheimnisvoll, für Außenstehende sicher auch befremdend. Nur die Mutter Stiegenhauer in ihren eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten durch den Hirntumor, findet einen unkomplizierten Zugang zu Tanja. Es scheint, dass das Mädchen eine Saite in Karl zum Klingen bringt.

    Leinsee ist ein ganz besonderer Roman, ein Künstlerroman, ein Buch über eine fast gescheiterte Existenz, eine tragische Familiengeschichte und nicht zuletzt eine sensible und zarte Liebesgeschichte. Eigentlich entzieht sich das Buch jeder Einordnung. Die Autorin findet einen leichten, schwebenden Stil, der vieles nur andeutet und zwischen den Zeilen lesen lässt. Aber immer wieder durchbricht eine heitere, lustig geschilderte Szene den Ablauf, lässt manche Figuren – ich denke da an den Sekretär Torben – durch Überzeichnung bewusst zum komischen Kontrapunkt werden.
    Etwas ganz Besonderes sind die Kapitelüberschriften, die ganz besondere Farben benennen: Kanarienvogelgelb, Gottweiß, Regentageblau und viele mehr, die immer genau die Stimmung des Kapitels treffen.

    Leinsee ist ein Debütroman und ich bin beeindruckt, wie reif und stilsicher der Text ist.
    Der Diogenes Verlag beweist immer wieder, dass er ein Händchen für junge, bemerkenswerte Talente hat. Ich hoffe, es gibt mehr von Anne Reinecke zu lesen.

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  1. 4
    12. Mär 2018 

    Ein Debüt mit großer Klasse und Potential

    Als sich eine ansehnliche Gruppe von Bücherfreunden auf Whatchareading fand, um gemeinsam Leinsee von Anne Reinecke zu lesen, haben wir uns dabei alle auf ein Leseabenteuer eingelassen, denn mit dieser Autorin konnte keiner von uns zuvor etwas anfangen. Es ist ein Debütroman, mit dem der Diogenes-Verlag mal wieder einen besonders guten und perspektivischen Griff getan hat. Und wir als frühe Leser konnten davon quasi in erster Reihe profitieren. Dank hier nochmal an den Verlag und die Organisation der Leserunde durch Whatchareading.
    Worum geht es?
    Karl, kehrt nach vielen Jahren der absoluten Funkstille mit und zu seinen Eltern wieder in das Haus seiner Kindheit zurück. Es ist ein Heim in toller Umgebung – direkt am See gelegen – und mit einer künstlerischen Atmosphäre, in der die Eltern, ein VIP-Künstlerehepaar bisher ihre weltweit beachteten und begehrten Kunstobjekte aus Harz gefertigt haben.
    Karl kehrt wegen einer bzw. zwei Tragödie(n) zurück. Sein Vater hat sich das Leben genommen und seine Mutter liegt mit einer fast aussichtlosen Prognose im Krankenhaus. Das Haus verlassen hat er vor vielen Jahren, als die Eltern ihn in jungen Jahren in ein Internat gesteckt haben, aus dem er zwar noch einige Male in den Ferien zurückkehrte, nach dem Schulabschluss aber riss der Kontakt ohne irgendeinen Streit dann aber vollkommen ab. Der Roman vermittelt zunächst den Eindruck, dass diese Trennung einfach aus dem gleichseitigen Willen und Streben beider Seiten quasi selbstverständlich und ohne Leid und Trauer vonstatten gegangen ist. Die Eltern werden im Roman als sehr stark aufeinander und auf ihre gemeinsame künstlerische Arbeit fixiert geschildert. So leben sie quasi in einem eigenen Universum, in dem auch für den eigenen Sohn Karl kein Platz zu finden ist.
    Und auch von Karl erfährt der Leser zunächst nicht andeutungsweise von einer Trauer über diese Trennung. Er lebt in dieser Zeit ebenfalls als Künstler, aber ganz bewusst unter einem anderen Namen, um der Öffentlichkeit keinen Hinweis auf seinen verwandtschaftlichen Zusammenhang zu den berühmten Künstlereltern zu geben.
    Seine Rückkehr in das Haus seiner Kindheit und seiner Eltern aber löst etwas in ihm aus, dem der Roman sehr unaufgeregt, sensibel und interessant nachspürt. Karl richtet sich in diesem Heim so ein, dass er so weit es geht irgendwie wieder in die Kindheit zurückschlüpft, lässt sein dynamisches und nach ihm verlangendes Berliner Künstlerleben (recht oder schlecht) ohne ihn auskommen, bricht seine langjährige Beziehung ab, knüpft eine ganz zarte und besondere Bande zu einem kleinen Mädchen aus der Nachbarschaft und richtet sich als Künstler mit neuen Projekten und neuer Ausrichtung schließlich in Leinsee ein.
    Über diesen ganzen geschilderten Zeitraum, in dem Karl seine fehlende Kindheit irgendwie nachzuholen versucht, immer wieder in kindliche Handlungsmuster rutscht und den Kontakt eher zu der kindlichen Tanja und ihrer ungerichteten Kreativität statt zu dem professionellen Kunstbetrieb in Berlin sucht, begleitet ihn die Autorin in Leinsee zur Freude und zum Genuss ihrer Leser, denn sie schafft damit eine leise, stille, anmutige Innen- und Außenwelt ihres Helden, dem zumindest ich als Leserin nur allzu gerne gefolgt bin.
    Auch am Ende des Buches kann ich nun nicht genau ausmachen, was es denn ist, das mir an diesem Roman so gefällt und mich einnimmt, aber er tut es einfach auf seine ruhige und sensible Art. Hervorheben möchte ich aber doch auf jeden Fall das Farbenspiel des Romans, in dem jedes Kapitel einen sehr kreativen Farbtitel erhält und damit für den Leser dem Geschehen eine Farbe vorausschickt, der der Leser dann während der Lektüre des Kapitels nachspürt und Gegenstand, Ort und Bedeutung der jeweiligen Farbe zu finden und zu interpretieren sucht. Das ist ein ganz besonders interessanter Kunstgriff der Autorin, der dem Stoff dieses „Künstlerromans“ sehr angemessen ist und die künstlerische, sinnenorientierte Atmosphäre des Textes unterstreicht.
    Mein Fazit also:
    Ein Roman, der auf etwas rätselhafte, aber wirkungsvolle Weise für sich einnimmt und den Leser in eine Welt entführt, in der er sich mit seiner Lektüre gern einrichtet bei allen Schwierigkeiten und bei allem Leid, der in der Welt des Romans auch geschieht.
    Ich vergebe 4,5 Sterne.

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  1. 5
    11. Mär 2018 

    Die Suche nach der verlorenen Kindheit

    Zum Schreibkonzept
    Die Autorin beschäftigt sich in ihrem Stoff auch mit Themen, die in unserer Gesellschaft tabu sind ... Z.B. mit dem Tod und mit dem Umgang damit. Einer der Protagonisten lässt die Leiche seines Vaters aus dem Grab heben, damit diese zusammen mit seiner etwas später verstorbenen Mutter, die Ehefrau des Verstorbenen, eingeäschert werden kann. Was geschieht im Auge des lesenden Betrachters, wenn der Sarg geöffnet wird, um die Leiche herauszuholen? Von selbst entsteht das Bild einer Leiche, deren Verwesungsprozess längst in Gang gesetzt war. Es sticht außerdem in der Nase der Leserin, aber womöglich tragen die Totengräber eine Maske vor dem Gesicht, wenn sie den gehobenen Sarg öffnen.

    Das Buch behandelt einen Künstlerroman. Jedes Kapitel ist mit einer bestimmten Farbe nuanciert, dass ich erst nicht wusste, was dies zu bedeuten hat. Im Forum habe ich entnommen, dass diese bildhafte Ausdrucksweise zu einem Künstlerroman passen würde. Ein farbenfroher Roman.
    Die Kapitel sind alle relativ kurzgehalten.

    Zum Inhalt
    Man bekommt es hier mit einem symbiotischen Eltern- und Künstlerehepaar namens August und Ada Stiegenhauer zu tun, die beruflich alles gemeinsam gemacht haben, bis Ada einen schweren körperlichen- und geistigen Zusammenbruch erleidet, und man ihr eine globale Aphasie diagnostiziert hat. August bekommt es mit der Angst zu tun, das Leben ohne seine Ehefrau fortsetzen zu müssen und nimmt sich das Leben ... Das Künstlerehepaar hat einen 26-jährigen Sohn namens Karl, der keinen Kontakt zu den Eltern hat aufbringen können, da er sich von den Eltern vernachlässigt gefühlt hat. Karl wurde einst auf´s Internat geschickt und er wurde dort mit einem Pseudonym angemeldet. Karl Sud, damit niemand dahinterkommen konnte, dass Karl das Kind des berühmten Künstlerehepaars Stiegenhauer sei ..
    .
    Selbst die Geburtstage des Jungen ignorieren die Eltern, da sie egozentrische, berufliche Ziele nachgingen. Karl verlässt das Internat nach dem Abitur und bricht den Kontakt zu den Eltern ab.

    Gleich auf den ersten Seiten bekommt man es mit einer Ladung heftiger Problemen zu tun. Karl, auf dem Weg zu seinem Elternhaus, erbricht in dem ICE, als er sich den erhängten Vater vorzustellen versucht ...

    In seiner Trauerphase versucht Karl sich an das Gesicht seines Vaters zu erinnern und es gelingt ihm nicht. Für die Eltern schien nicht wirklich Platz für ein Kind gewesen zu sein. Karl bekommt einen Abschiedsbrief des Vaters zu lesen, der Karls Rückzug anspricht, den er nie verstanden hätte ...

    Karl betritt sein Elternhaus, eine Villa am Leinsee.
    Er begeht eine Expedition durch dieses Elternhaus. Dies finde ich eine wunderschöne Metapher, und sie zeigt, wie fremd Karl in seinem Elternhaus ist. Die Eltern hatten einen Assistenten engagiert, der das Zimmer bewohnt hatte, was einst Karls Kinderzimmer war. Karl zieht erst mal ins Gästezimmer. Zwischen Karl und dem Assistenten entsteht ein Rollenkonflikt …

    Ein weiterer Rollenkonflikt entsteht, als Karl seine Mutter in der Klinik besucht. Als die Diagnose sich geändert hat, die Mutter wurde wieder ansprechbar und konnte selbst erneut sprechen, verwechselte sie ihren Sohn mit ihrem Mann August. Ada litt an einer partiellen Amnesie, und es war nicht sicher, ob sie sich davon erholen würde. Von dem Tod ihres Mannes wurde sie nicht unterrichtet.

    Karl kümmert sich um die Mutter und ist erstaunt, dass sie ihren Sohn nicht wiedererkennt. Er löst dieses Missverständnis nicht auf, und schlüpft in die Rolle seines Vaters. Scheinbar scheint er die vielen verbalen süßlichen Liebkosungen seiner Mutter zu genießen, Zärtlichkeiten, Zuwendungen, die er als Kind beider Elternteile vermisste ... Karl sitzt auf dem Krankenbett, als ihm die Tränen kommen. Die Mutter tröstete ihn, August müsse nicht traurig sein, denn alles würde wieder gut werden …

    Auf der Seite 102 wird das Fremde nochmals deutlich, als es um Karls Familiennamen geht. Karl Stiegenhauer; er habe länger ohne diesen Namen gelebt als mit ihm. Durch den Tod seines Vaters betrachtet Karl sich gezwungenermaßen als den neuen Stiegenhauer ...

    Es beginnt eine Bekanntschaft mit dem achtjährigen Kind Tanja, die im Garten häufig auf den Kirschbaum klettert und Karl beobachtet. Karl und das Kind fühlen sich stark zueinander hingezogen. Wenn Tanja nicht auf dem Kirschbaum sitzt, schmückt Karl die Äste mit verschiedenen Gegenständen, um Tanja zu beschenken. Es lässt vermuten, um durch die Geschenke auf sich aufmerksam zu machen.

    Zwischen ihnen beiden entwickelt sich eine Freundschaft, und man sich als Leserin die Frage stellt, was bringt diese zwei Menschen zusammen, wo Welten zwischen ihnen liegen, was das Leben und der Altersunterschied betreffen. Wer sind Tanjas Eltern? Was halten sie von dieser Freundschaft eines erwachsenen Mannes mit einem kleinen Kind? Sind die Eltern davon in Kenntnis gesetzt? Wird man bei dieser Beziehung als Eltern nicht misstrauisch? Hat man nicht Angst, dass der unbekannte Mann pädophile Neigungen haben könnte? Fragen über Fragen …

    Beruflich ist Karl in die Fußstapfen seiner Eltern getreten, ohne dass er etwas von ihnen hatte, seelisch-emotional betrachtet. Geerbt hat er die künstlerische Begabung, aber nicht deren Liebe ...
    Seine Beziehung mit Mara Schlüter ist alles andere als stabil. Mara erinnert mich von ihrem Charakter und von ihren Ansprüchen her an denen von Karls Eltern. Hauptsächlich auf sich fixiert, egozentrische Ziele verfolgen, ohne an Karl zu denken. Mara strahlt eine seelische Kälte aus, die mir unangenehm war. Karl fühlt sich bei ihr unwohl. Zwischen ihm und Mara entsteht ein folgenschwerer Konflikt, der die Beziehung in Frage stellen lässt.

    Mehr möchte ich nicht verraten.

    Meine Meinung?
    Schade fand ich, dass die gesamte Familie Stiegenhauer nichts getan hat, um die Konflikte, die sie untereinander hatten, zu klären. Aber das findet man in vielen Familien. Karl entwickelte sich zu einer instabilen Persönlichkeit mit depressiven Zügen, weil ihm die seelische Wärme seiner Eltern gefehlt hat. Dadurch ist er auch nicht wirklich beziehungsfähig gewesen. Eigentlich war er ein zu braves Kind. Er hätte rebellieren sollen, oder als Erwachsener die Eltern für ihr Versagen zur Rede zu stellen. Man bleibt nicht ewig Kind und man kann nicht ewig unter der Liebesarmut der Eltern leiden. Weil nichts geklärt wurde, schleppt Karl seine psychischen Probleme mit sich herum. Das Mädchen Tanja ist für mich eine Symbolfigur, die für innere Sicherheit und Stärke steht, sie steht auch für Liebe und Weichheit, sie steht für eine unbeschwerte Kindheit, weshalb sich Karl zu ihr hingezogen gefühlt hat. Tanja ist taff, sie weiß was sie will ... Und trotzdem bleiben Fragen offen. Warum hat sich Tanja zu Karl hingezogen gefühlt? Stimmt etwas mit ihrem Vater nicht? Es gibt nur eine Szene, in der man Tanja zusammen mit ihrer Familie auf dem Flohmarkt gesehen hat. Ist dies ein Kunstfehler oder die Absicht der Autorin, Tanjas Eltern aus dem Spiel rauszuhalten? Ohne diese Hintergründe bleibt für mich das Verständnis dieses Romans allerdings ein wenig unbefriedigt.

    Mein Fazit?
    Ein facettenreicher Künstler- und Familienroman, über den man noch lange nachdenken wird, und immer wieder entstehen neue Fragen und neue Gedanken.

    Das Cover
    Das Cover ist total gelungen. Es ist wunderschön, passt zu dem Roman.

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  1. Rückkehr in die Kindheit und Bereitmachen zum Neuanfang

    „Dieses Gelb war unangemessen. Woher die Farbe kam, konnte Karl sich nicht erklären. Soweit er sich erinnerte, hatte er nichts Gelbes gegessen. Seit zwanzig Minuten kotzte er sich – ja, was eigentlich? – aus dem Leib. Kanarienvogelgelb in silberner ICE-Kloschüssel, ganz hübsch, ein schönes Bild für – ach, auch egal.“ (S.7)

    So beginnt der Roman „Leinsee“ von Anne Reinecke. Sofort ist man mitten im – wenn auch nicht appetitlichen – Geschehen. Der erste Eindruck bestätigt sich beim Weiterlesen: Farben spielen eine große Rolle, aus ihnen bestehen auch die Kapitel-Überschriften, die immer einen starken Bezug zum Inhalt des entsprechenden Abschnittes haben, manchmal aber auch eine Wortspielerei enthalten wie „Gottweiß“, „Föhnblond“ oder „Grauseiden“.

    Der Protagonist Karl ist 26 Jahre alt und lebt mit seiner Freundin Mara in Berlin. Seit seinem Abitur vor sechs Jahren hatte er keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern, dem berühmten Künstlerehepaar Stiegenhauer. Er fährt nun mit dem ICE nach Süddeutschland in sein Elternhaus in Leinsee. Sein Vater August hat sich dort mit dem Strick erhängt, seine Mutter Ada liegt mit einem großen Gehirntumor im Krankenhaus. Karl wartet auf Nachricht, ob sie die lebensbedrohliche Operation trotz schlechter Prognose überlebt hat.

    Sehr schnell wird klar, dass die Beziehung zwischen Eltern und Sohn nicht unproblematisch war. Äußerlich relativ unberührt betrachtet er den am Boden liegenden toten Vater, spricht gefasst mit den Polizisten, hat keine Eile, den vom Vater hinterlassenen Abschiedsbrief zu lesen. Karl fühlt sich fremd im Haus, nie fühlte er sich als Kind geliebt und zu den Eltern dazugehörig. Bereits mit 10 Jahren wurde Karl ins Internat abgeschoben, selbst seinen Namen musste er dort abgeben: „Sie wollten ihm ein normales Leben ermöglichen, sagten sie, einen eigenen Weg außerhalb ihrer Berühmtheit. Deshalb besuchten sie ihn nie. Auch zu seinen Geburtstagen nicht, auch zur Abiturfeier nicht. Keine Ausnahme.“ (S. 47) Harter Tobak!

    Karl hat darunter gelitten, insbesondere das Fehlen der Mutter hat Spuren hinterlassen, er wirkt psychisch verletzt, scheint mitunter autistische Züge zu haben, flüchtet sich in den Alkohol. Umso bemerkenswerter scheint es, dass er trotzdem an der Kunsthochschule studierte und sich – ohne den Rückenwind des berühmten Elternpaares – bereits als Künstler in Berlin einen Namen gemacht hat.

    Wider aller Prognosen überlebt Ada die Operation, ist einige Tage später sogar ansprechbar. Mit gemischten Gefühlen eilt Karl ans Krankenbett und erlebt eine Überraschung. Während der folgenden Wochen kümmert sich Karl um seine Mutter, sehr zum Leidwesen seiner Freundin Mara und des ehemaligen Assistenten seiner Eltern.

    Karl bekommt Gelegenheit, einen Teil seiner verstrichenen Kindheit wieder aufzuholen. Eine sehr zentrale Rolle spielt dabei das 8-jährige Mädchen Tanja, das ihm das erste Mal im Garten auf dem Kirschbaum begegnet. Die Kontakte zwischen den beiden finden anfangs ohne Worte statt, sie tauschen heimlich kleine „Schätze“ aus, arbeiten gemeinsam und verstehen sich blind. Tanjas Anwesenheit wirkt auf Karl unglaublich beruhigend. „Vielleicht blieb er einfach, weil ihn jetzt niemand mehr daran hindern konnte, in seinem Elternhaus zu wohnen. Keine Ahnung. Vielleicht war es auch dieses Kind. Wenn das Kind da war, ging es ihm am besten.“

    Diese Freundschaft zwischen dem Mädchen und dem erwachsenen Mann ist eines der Hauptthemen des Romans. Daneben geht es natürlich auch um Freundschaft und Beziehungen: innerhalb der Künstlerfamilie, zu seiner Freundin Mara, zum Galeristen Raiken sowie dem Assistenten Torben. Es geht natürlich auch um Kunst, wie die eingangs erwähnten Farben schon symbolisieren. Letzes Thema bildet aber nur den Rahmen und interessante Verknüpfungen, weil der Künstler in seiner Kunst auch immer etwas von sich selbst und seinem Leben preisgibt. Ein richtiger Künstlerroman ist das Buch aus meiner Sicht nicht, eher ein Entwicklungsroman.

    Dieser Roman hat mich begeistert! Die Autorin kann so vielseitig schreiben, dass es eine reine Freude ist. Sie schreibt klare, verständliche Sätze, die trotzdem eine unglaubliche Tiefe haben und zum Nachdenken auffordern. Mal schreibt sie fast märchenhaft, als sie die Liebesgeschichte der Stiegenhauers beschreibt (S. 50-57), sie kann aber auch komisch, als zwei Polizisten ihn wegen Schüssen in seinem Garten vernehmen wollen (S. 90-97) oder während eines Ausfluges (S. 333-344). Die Dialoge sind sehr authentisch auf die Charaktere zugeschnitten und sprühen vor Esprit. Meistens schreibt Reinecke mit ruhiger, etwas melancholischer Sprachmelodie, was daran liegt, dass meistens aus Karls Perspektive erzählt wird.

    Nicht nur die Überschriften haben Symbolgehalt, man findet Vieles, das unterschiedliche Deutung zulässt. Dabei ist der Stil aber niemals gestelzt. Man wird nicht müde, sich auch während des Lesens seine eigenen Gedanken zu machen. Genau das ist es, was ich mir von einem Buch wünsche!
    Der Roman viele Entwicklungen bereit, die ich so nicht vorher gesehen hätte. Es gibt Wendungen, Überraschungen, die zum Weiterlesen drängen.

    Für mich ist der Roman „Leinsee“ ein weiteres Lese-Highlight des jungen Jahres 2018. Da es sich um das Debüt der Autorin Anne Reinecke handelt, hat sie ihre Messlatte gleich sehr hoch angelegt. Ich wünsche ihr und uns, dass man noch viele Geschichten aus ihrer Hand wird entdecken dürfen.
    Unbedingte Lese-Empfehlung!

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  1. Auf der Suche nach der verlorenen Kindheit

    Bei der Einteilung der Abschnitte in der Leserunde ist mir sofort ins Auge gefallen, dass jedes Kapitel als Überschrift eine oder mehrere Farben benennt, manche sind sehr ungewöhnlich wie "teichgrün", "regentageblau" oder sind eigentlich keine Farben wie "Gottweiß", das eigentlich ein Zusammenziehen von "Gott weiß" ist. Ein Ausspruch, den der Vater des Protagonist, immer verwendet hat.

    Die Farben tauchen in dem jeweiligen Kapitel auf und haben eine besondere Bedeutung. Ob das daran liegt, dass die Hauptfiguren Künstler sind?

    Worum geht es?

    Karl ist Ende 20 und lebt mit seiner Freundin Mara in Berlin. Er ist ein aufstrebender Künstler, sie inszeniert Theaterstücke.

    Ein unerwarteter Anruf verändert sein Leben: Sein Vater hat sich erhängt, seine Mutter liegt mit einem Hirntumor im Krankenhaus und wird operiert. Ausgang ungewiss. Sofort macht er sich auf den Weg nach "Leinsee", dem Haus seiner Eltern. Er fährt mit dem Zug, weil er noch vom Abend zuvor betrunken ist.

    "Seit zwanzig Minuten kotzte er sich - ja, was eigentlich - aus dem Leib. Kanarienvogelgelb in silberner ICE-Kloschüssel, ganz hübsch, ein schönes Bild für -ach, auch egal." (S.7)

    Die Gedanken Karl, die in Ellipsen daherkommen, verleihen dem Roman etwas Unmittelbares - trotz der Vergangenheitsform.

    "Karl überlegte seitdem, wie das aussehen musste. sein Vater, erhängt. Am Lampenhaken, im Salon, in Leinsee." (S.8)

    Doch während er sich das Gesicht seiner Mutter vergegenwärtigen kann, fehlt ihm das des Vaters. Warum kann -will er sich nicht erinnern?
    Seine Eltern - Ada und August Stiegenhauer - gelten als das Künstlerpaar.
    Am gleichen Tag geboren, haben sie sich in München an der Akademie der Künste kennen gelernt und bilden seitdem eine feste Einheit, die sich in ihren Kunstwerken ausdrückt. Aus flüssigem Harz gießen sie Formen, in die alle möglichen Gegenstände, Autobiographisches und Zufälliges, zu Staub zermahlen eingeschlossen ist.
    Zwei Menschen, die nur sich sehen und wollen, eine Symbiose, die sich in ihrer Kunst widerspiegelt. Sie schließen sich symbolisch im Harz ein - abgeschottet von allen anderen.

    Da stört ein Kind, so dass Karl mit 10 Jahren bereits ins Internat abgeschoben wird - dort lebt er unter dem Namen Karl Sund. Um die Anonymität zu wahren, besuchen seine Eltern ihn nie. Nach seinem Schulabschluss kehrt er nicht nach Hause zurück, so dass der Kontakt seit sieben Jahren abgebrochen ist.
    Und jetzt ist er wieder in Leinsee und trifft auf den Assistenten seiner Eltern, den er wegen seines Aussehen kurzerhand Buddy Holly tauft und der genauso alt wie er selbst ist. Ein Ersatzsohn, der seine Stelle eingenommen hat? Zumindest hat er Karls ehemaliges Kinderzimmer in Besitz genommen,

    "er hatte die Stiegenhauers irrsinnig bewundert und war wahnsinnig glücklich gewesen, so eng mit ihnen zusammenarbeiten zu dürfen Jetzt war er total außer sich, wegen der total tragischen Situation, so was Schreckliches, so ein tolles Paar und dann so was. Er fühlte sich selbst auch total verwaist und wusst gar nicht, wohin mit seiner Trauer. Echt jetzt." (S.35)

    In der Wiedergabe der Worte Buddy Hollys blitzt der satirische Charakter des Romans auf, die übertriebene Wortwahl, die Wiederholung "total", das Überschwängliche "wahnsinnig" "irrsinnig", da muss man einfach lachen.

    Nach der Beerdigung seines Vaters beschließt Karl zunächst in Leinsee zu bleiben, gegen den Willen Maras, die ihn beschwört, nach Berlin zurückzukehren. Doch er weigert sich.

    "Vielleicht blieb er einfach, weil ihn jetzt niemand mehr daran hindern konnte, in seinem Elternhaus zu wohnen. Keine Ahnung. Vielleicht war es auch dieses Kind. Wenn das Kind da war, ging es ihm am besten." (S.129)

    Das Kind heißt Tanja und ist acht Jahre alt. Entdeckt hat Karl es oben im Kirschbaum, während es ihn beobachtet hat.
    Gemeinsam vakuumieren sie eine tote Taube, die Tanja für ihn aus der Dachrinne genommen hat - seine Form der Kunst, Gegenstände im Vakuum zu verpacken - um sich unangreifbar zu machen?

    Karl hinterlässt daraufhin Geschenke für Tanja im Kirschbaum, während sie die Steinplatten vor dem See zu Kontinenten formt. Begegnen sie sich im Dorf, folgen sie sich - immer auf Abstand und hüpfen im Gleichtakt oder stehen gemeinsam vor einem Schaufenster. Es scheint, als habe er eine Seelenverwandte getroffen, die ihn erdet. Wie wird sich diese Freundschaft entwickeln?

    Während dessen erwacht seine Mutter aus dem Koma, ihr Gedächtnis ist jedoch nur unzureichend wieder funktionsfähig. Wird sie ihn erkennen?

    Bewertung

    Wenn ich dem Roman eine Farbe zuordnen müsste, dann wäre es für mich - buchenblättergrün.

    Im Frühjahr, wenn die Buchen im Wald ihre ersten Triebe entfalten, riecht alles nach Neuanfang.

    So wie Karl in seinem Zuhause, das es nie für ihn gewesen ist, da für ein Kind kein Platz an diesem Ort sein durfte, einen neuen Anfang wagt. In seinem alten Kinderzimmer baut er sich ein "Nest", rollt sich ein, wie ein Neugeborenes.

    "Er wollte hierhergehören. Das hatte er schon immer gewollt." (S.205)

    Seine Sehnsucht nach der Kindheit manifestiert sich in der Freundschaft mit Tanja, in ihren Spielen und in der neuen Beziehung zu seiner Mutter - auch wenn die auf einem Missverständnis basiert, das hier nicht verraten wird.

    Tanja ist die Erste, die ihn sieht - als denjenigen wahrnimmt, der er ist und nicht der, der er zu sein scheint. Die Bedeutung der Wahrnehmung spiegelt sich auch in der genauen Beschreibung der Farben wider.

    Tanja führt ihn ins Leben zurück und ihr Blick in seinem Rücken verändert seine Kunst, verändert ihn.

    "Vor allem, wenn es darauf ankam, wenn er etwas besonders gut machen wollte, hatte er sich vorgestellt, sie sähe ihm zu." (S.234)

    Es ist nicht nur diese außergewöhnliche Freundschaft, die den Roman so faszinierend macht. Auch die Figuren überzeugen, ebenso wie viele komische Szenen.
    Herrlich, wenn Karl zwei Polizisten weis macht, er habe das Gewehr abgefeuert, weil er Kunst schaffen wollte. Ein Seitenhieb auf die Kunstszene? Die Autorin hat selbst Kunstgeschichte studiert, weiß, wovon sie schreibt.
    Faszinierend finde ich ihren Stil - die erlebte Rede Karls - Richtung Bewusstseinsstrom -, die satirischen Elemente und die farbenfrohe, bilderreiche und lyrische Sprache.

    "Er trank langsam seinen Kaffe aus und drehte sich nicht um. Er schob sich den winzigen Löffel in den Mund und drehte sich nicht um. Der Geschmack des Metalls war nicht von dem von Blut zu unterscheiden. Er rauchte eine Zigarette und drehte sich nicht um. Er bat um die Rechnung und drehte sich nicht um. Er zahlte und blieb noch drei Sekunden sitzen." (S.132)

    Ein großartiges Debüt, auf das hoffentlich noch viele weitere Romane folgen werden.

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