Kreutzersonate: Novelle - Penguin Edition

Buchseite und Rezensionen zu 'Kreutzersonate: Novelle - Penguin Edition' von Leo Tolstoi
3.45
3.5 von 5 (7 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Kreutzersonate: Novelle - Penguin Edition"

Autor:
Format:Taschenbuch
Seiten:208
Verlag:
EAN:9783328106746

Rezensionen zu "Kreutzersonate: Novelle - Penguin Edition"

  1. Auch ein Klassiker darf fragwürdigen Inhalts sein

    Nun, Leo – was hast Du zu deiner Verteidigung zu sagen? Da schreibst du ein Jahrhundertwerk á la „Anna Karenina“ und veröffentlichst dann Jahre später die diskussionswürdige „Kreutzersonate“???

    Nun gut, man muss einem der größten Literaten Russlands auch mal einen kleinen (literarischen) Fauxpas durchgehen lassen. Und ganz so negativ, wie die einleitende Übertreibung suggerieren könnte, ist die „Kreutzersonate“ nun auch wieder nicht *g*. Nicht umsonst gilt sie ja als Klassiker und wurde jetzt in einem fröhlichen Grünton (im Nachhinein wird mir klar, warum Grün als Farbe des Einbands gewählt wurde *g*) in der Reihe „Penguin Edition“ in der Übersetzung von Olga Radetzkaja neu veröffentlicht. Und doch...

    Der Ich-Erzähler trifft auf einer Bahnreise quer durch Russland auf einige Frauen und Männer, die sich in einem angeregten Gespräch über Liebe und ihre „Auswirkungen“ unterhalten. Dann fängt Gutsbesitzer Posdnyschew an, seine Geschichte zu erzählen und die geneigte Leserschaft reibt sich verwundert die Augen: was bitteschön passiert hier gerade? Ist es der gleiche Autor, der Jahre zuvor eine der tragischsten Liebesgeschichten der jüngeren Literatur veröffentlicht hat und jetzt einen auf Moralapostel macht?

    Tolstoi legt Posdnyschew einige gewagte Thesen über die Versklavung der Frau, Enthaltsamkeit etc. in den Mund, die den geneigten Leser zunächst mit offenen Augen sprachlos werden lässt. Doch im Nachgang bzw. –wort finden sich Erklärungen zu den teilweise fragwürdigen Äußerungen; so hat Tolstoi vor der „Kreutzersonate“ eine Zäsur durchlebt, die ihn in eine recht orthodoxe Richtung „driften“ ließ – davon zeugt auch seine im Nachwort zitierte „Beichte“ von 1882. Ob und was die geneigte Leserschaft von diesen verschriftlichten Thesen hält – nun, dass muss jede*r für sich entscheiden.

    Posdnyschew ist ein von krankhafter Eifersucht Besessener, der in allem, was seine Frau und ein befreundeter Musiker unternehmen, Anzeichen der Untreue sieht. Diese Eifersucht steigert sich in ihrem (seinen) Wahn bis zum dramatischen Finale...

    Möge der Inhalt der „Kreutzersonate“ moralisch nicht (immer) einwandfrei und darum überaus diskussionswürdig sein – sprachlich ist die Novelle ein Meisterwerk. Die heraufbeschworenen Stimmungen und Bilder, die Tolstoi bravourös formuliert hat, wirken nach und lassen mich (mit etwas Abstand) meine Bewertung von knappen 3,5 auf durchaus verdiente (mit steigender Tendenz) 4 Sterne erhöhen.

    ©kingofmusic

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  1. Eifersucht macht blind

    In dieser Novelle erzählt Tolstoi von mehreren Reisenden. Einer von ihnen namens Posdynyschew , berichtet einem anderen Reisenden, der gleichzeitig der Ich- Erzähler ist, warum er seine Frau getötet hat. Dies hat in seinen Augen viele Gründe, und er muss lange ausholen um auf den Kern, den eigentlichen Mord, zu kommen.
    Bis dahin lässt er den Leser an seinem Frauenbild teilhaben. Die Frau ist laut ihm an eigentlich allem Schuld. Sie trägt auch die Verantwortung für seine Eifersucht, da sie die schönen Kleider und den Schmuck und ihre Reize nur zu diesem Zweck einsetzt.
    Sicher muss man die Zeit bedenken in der die Novelle geschrieben wurde, aber das meiste erschien mir sogar unter Berücksichtigung dessen, ein wenig übertrieben. Oder war genau das gewollt?

    Obwohl Posdynyschew von der Sexualität im Grunde angewidert zu sein scheint, kann er den Reizen seiner Frau doch nicht widerstehen und zeugt mehrere Kinder mit ihr. Die Ehe selbst wirkt lieblos und ist von unnötigen Streitigkeiten durchsetzt. Kinder sieht er eher als leidvolle Sorgenträger.
    Als seine Frau dann nach der Geburt des letzten Kindes keine weiteren mehr bekommen soll und der Arzt ihr Tipps gibt, wie sie dies erreichen kann, ist er entsetzt.
    Als seine Frau dann mit dem Violinist Truchatschewsky gemeinsam musiziert, unter anderem die Kreutzersonate, kocht seine Eifersucht, die schon immer sehr ausgeprägt war, über.

    Ich erkenne an, dass Tolstoi und seine Werke in der Weltliteratur nicht wegzudenken sind, und sie sicher auch mit recht diesen Ruhm genießen. Doch ich habe mich durch diese Novelle eher durchgequält, weil ich mich mit den Ansichten des Mörders überhaupt nicht anfreunden konnte, und ich nicht nachvollziehen kann, warum es dem Autor so wichtig war, dies hervorzuheben. Tolstoi wird vieles aus dieser Zeit weitergegeben haben, das Denken und die Ansichten sind nicht mit der heutigen Zeit zu vergleichen. Dennoch habe ich mir zumindest ein paar positive Eindrücke gewünscht. Die Novelle spiegelt für mich in weiten Teilen eigentlich nur negatives wider.

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  1. Fragwürdig

    Die Kreutzersonate ist eine Novelle von Leo Tolstoi, die in den Jahren 1887-89 entstand. Zu diesem Zeitpunkt war er schon ein berühmter Schriftsteller, der allerdings eine Sinnkrise durchlebte. Schon seit 1881 hatte er sich intensiv religiösen und moralischen Fragen zugewandt.
    In der Novelle schildert Tolstoi die Geschehnisse einer Zugreise. Die Passagiere kommen miteinander ins Gespräch über Liebe und Ehe und während dessen Verlauf offenbart sich der Gutsbesitzer Posdnyschew als Mörder seiner Ehefrau. Die meisten der Mitreisenden wechseln daraufhin empört das Abteil, doch ein Passagier, der Ich-Erzähler, möchte aus Mitleid oder Neugier die ganze Geschichte erfahren.
    Zu Beginn ist das Ganze eine unaufhörliche Tirade gegen die herrschende Moral der Gesellschaft, gegen eheliche Untreue und Sexualität an sich. Der Geschichte vorangestellt sind zwei Bibelzitate, die mich schon gleich etwas verstörten. Es gab zu der Zeit eine russische Sekte, die sogenannten „Skopzen“, die völlige sexuelle Enthaltsamkeit propagierte und deswegen sogar die Verstümmlung der Geschlechtsteile, wie Kastration oder Amputation der Brüste, unterstützte. Sie beriefen sich auf ebendiese Textstellen der Bibel.
    Dieser Abschnitt hat mich sehr ermüdet und befremdet, weil ich mit den kruden Ansichten des Protagonisten Posdnyschew überhaupt nichts anfangen konnte. Offensichtlich hatte Tolstoi hier versucht, seine eigenen Ansichten im Deckmantel einer Novelle unters Volk zu bringen. Erst als die eigentliche „Handlung“ begann, konnte ich mich ein wenig mit der Geschichte anfreunden. Aber auch hier ufert das Erzählte immer wieder aus und P. stellt sich mehrfach als Opfer der Umstände dar. Er versucht sich zu rechtfertigen und ist doch im Grunde nur ein Mörder, der aus rasender Eifersucht, begründet oder nicht, die physische Stärke gegenüber seiner Frau ausnutzt.
    Das Nachwort von Olga Martynova, einer russischen Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin, versucht der Novelle noch einen bedeutenden gesellschaftlichen Stellenwert beizumessen. Eine, in Anbetracht der Berühmtheit des Autors, verständliche Auslegung, der ich aber nicht folgen konnte. Überzeugen konnte mich einzig und allein die manchmal aufblitzende Erzählkunst Tolstois, weswegen ich auch noch zwei Sterne vergebe.

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  1. Niedere Instinkte

    Der Inhalt dieser Novelle, die in meinen Augen zu den schwachen Werken der Weltliteratur gehört, ist schnell erzählt. Ein eifersüchtiger Kerl der höheren gebildeten Schichten Rußands, bringt aus Eifersucht seine Gattin um.

    Mag sein, dass es zu Lebzeiten Tolstois (1828-1910) schon ein unerhörtes Novum und eine unerhörte Gesellschaftskritik war, wenn man geradeheraus über Sex sprach und Tolstois Figuren sprechen über Sex. Allerdings verwechseln sie Sex mit Liebe. Und über Spielarten der Liebe ist nicht die Rede.

    Mag also sein, dass es schon dann Gesellschaftskritik ist, wenn Tolstoi seinen Helden sich darüber beklagen lässt, wie verdorben die jungen Männer der höheren Gesellschaftsklasse wären, wenn sie vor der Ehe jede Menge Sex mit Bezahlmädchen haben und auf nichts anderes als auf Fleischeslust auswären, wenn sie heiraten. Und dann ihre Frauen betrügen.

    Und wie es doch mit zweierlei Maß zu messen sei, wenn man von den jungen Mädchen reine sexuelle Unschuld (und in aller Regel auch Unwissenheit) verlangt. Da hat er ja recht. Nur die Schlüsse, die sowohl Autor wie auch Protagonist daraus ziehen, lassen einem Leser des 21. Jahrhunderts die Haare zu Berge stehen und die Fussnägel sich kräuselnd aufrollen.

    Die Frauen sind nämlich schuld. Wer hätte es gedacht? Wer denn sonst? Und der Trieb an sich. Aber niemals der arme Mann selber, der ja nicht mehr anders kann, weil er wie ein Tier dem Sexus ausgeliefert sei. Mei, mei, mei, da fällt mir nichts mehr ein. In was für tolldreiste Ideen hat sich der Autor hineingesteigert, der selber mit einer 16 Jahre jüngeren Frau verheiratet war, so dass man auf biografische Analogien geradezu gestoßen wird.

    Fazit: Mit diesem Werk hätte der Autor, Leo N. Tolstoi, der mich mit seinem Roman Krieg und Frieden zutiefst beeindruckt hat, mich dazu veranlasst, seine Gips-Büste an die Wand zu pfeffern, wenn ich denn eine gehabt hätte.

    Kann aber natürlich auch sein, dass ich das Werk nicht verstanden habe. Ich bin ja nur eine Frau. Kann aber auch sein, dass ich beim nächsten Flohmarkt gezielt nach einer solchen Büste Ausschau halte.

    Kategorie: Klassische Literatur
    Verlag: Penguin, 2021

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  1. Gesellschaftsstudie und Psychogramm einer zerrütteten Ehe

    Die vorliegende Novelle wurde bereits 1890 in deutscher Übersetzung veröffentlicht. In der farbenfrohen Penguin Klassiker Edition ist sie nun, aus dem Russischen von Olga Radetzkaja übersetzt, als preis- und empfehlenswerte Taschenbuchausgabe erschienen.

    Die Gegenwartshandlung findet komplett in einem Zugabteil statt. Der Ich-Erzähler ist bereits den zweiten Tag unterwegs, als sich unter den Mitreisenden eine interessante Debatte über die Ehe entwickelt. Dabei treffen im Kern zwei gegenläufige Ansichten aufeinander: Eine offenbar moderne, mittelalte Dame proklamiert, die Ehe dürfe nur aus Liebe geschlossen werden, nur sie bilde die Basis für eine lebenslange Bindung. Ein älterer Herr indessen plädiert für die arrangierte Ehe, in der sich die Frau komplett unterzuordnen habe und sich vor ihrem Gemahl fürchten solle. Liebe könne man lernen. Auf der Grundlage dieser Thesen entwickelt sich eine angeregte Debatte unter den Reisenden. Als der alte Mann gegangen ist, beteiligt sich auch ein bisher schweigsamer Mann am Gespräch, der sich recht bald als Posdnyschew vorstellt. Er empfindet die Liebe, die sich seiner Ansicht nach ausschließlich aus der Leidenschaft speist, als vergänglich. Die Männer heirateten nur, um der Möglichkeit des regelmäßigen Beischlafs willen, die Frauen, um möglichst gut versorgt zu sein. Letztere würden sich dadurch lebenslang prostituieren.

    Posdnyschew setzt seine für die damalige russische Gesellschaft fortschrittlichen Thesen interessant auseinander. Die sexuelle Sinnlichkeit ist für ihn das Grundübel, das die Menschen von der wahren Liebe abhalte. Er legt die Paradoxien zwischen den Geschlechtern dar: Männer dürfen sich ungehemmt der Unzucht hingeben, Frauen müssen auf ihre Unschuld und Sittsamkeit achten. Als Leser setzt man sich automatisch mit dieser ethisch-moralischen Diskussion auseinander. Teilweise ist man überrascht, wie aktuell und modern argumentiert wird, teilweise ist man irritiert, weil die gezogenen Schlüsse doch gar so abstrus sind.

    Posdnyschew gibt sich seinen Mitreisenden als pressebekannter Mörder seiner Gattin zu erkennen. Sodann schildert er seine problematische Ehe mit der deutlich jüngeren Frau. Fünf Kinder sind daraus hervorgegangen. Auch er hat ehedem den Kardinalfehler begangen, sich aufgrund seiner Leidenschaften zu verheiraten. Die Ehe war nicht glücklich, außer dem Geschlechtstrieb gab es nichts Verbindendes. Posdnyschew rechtfertigt sich, er sieht das Grundübel in den gesellschaftlich-moralischen Verwerfungen. Würden alle Menschen enthaltsam leben, würde es niemals solche Spannungen geben, die zum Mord an seiner Frau führten.

    Seine Thesen sind fragwürdig. Posdnyschew monologisiert, redet sich in Rage. Er schildert unterschiedliche Zerwürfnisse, denen zwar Versöhnungen folgten, jedoch wurde die Dynamik stärker, die Abwärtsspirale unübersehbar. Er steigerte sich zunehmend in rasende Eifersucht und war überzeugt, dass seine Frau ihn mit einem Musiker betrog…

    Das alles liest sich spannend und kurzweilig. Für damalige Zeiten dürften die vertretenen Theorien fortschrittlich gewesen sein, insbesondere was die erstrebenswerte Gleichberechtigung von Mann und Frau betrifft. Geschmunzelt habe ich darüber, dass auch damals schon Kinder ins Fadenkreuz zerstrittener Eltern gerieten und entsprechend für deren Ziele missbraucht wurden. Manches ist (leider) zeitlos.

    Insgesamt konnte mich die zweite Hälfte der Novelle aber nicht mehr so sehr fesseln wie die erste. Dieses Psychogramm einer Ehe, das in einem Mord aus Eifersucht mündet, wächst sich zu einem ungeheuren Drama mit viel Theatralik aus. Mord- und Selbstmordphantasien wechseln sich ab. Man bekommt zunehmend den Eindruck, dass der vermeintliche Betrug nur im Kopf des Ehemannes stattgefunden hat, was sein Misstrauen nährte und den Argwohn befeuerte – einer Paranoia gleich. Dabei rechtfertigt sich der Täter, dreht sich im Kreis, wiederholt sich. Seine Gedankengänge kann man schwer nachvollziehen, zu sehr kreist er um seine eigenen männlichen Befindlichkeiten.

    Nicht umsonst gehört die Kreutzersonate zum Kanon der Weltliteratur. Tolstoi war seiner Zeit voraus und hat wichtige sozio-gesellschaftliche Themen angesprochen und Diskussionen darüber entfacht. Er hat erkannt, dass die Unterordnung der Frau nicht wünschenswert sein kann. Ob sexuelle Enthaltsamkeit allerdings die Lösung aller zwischenmenschlichen Probleme wäre, wage ich anzuzweifeln. Genau das war das Ziel des Autors: Zweifel säen, Diskussionen und Veränderungen in Gang bringen. Gemäß Nachwort von Olga Martynova war Widersprüchlichkeit Tolstois Triebkraft.

    Die Novelle bewegt sich vom Allgemeinen zum Persönlichen Posdnyschews und endet in einer Tragödie. Sprachlich hat mir das Buch sehr gut gefallen. Tolstoi ist ein guter Beobachter seiner Zeit gewesen, sprachlich überzeugt er unter anderem mit exemplarischen Figuren und ironischen Bildern, auch wird die kranke Raserei des Protagonisten bis zum Ende psychologisch dicht und glaubwürdig transportiert. Die Redundanzen in der zweiten Hälfte führen zwar zum Abzug eines Sternchens, trotzdem möchte ich die Kreutzersonate allen Freunden klassischer Literatur ans Herz legen. Sie ist leicht verständlich und eignet sich auch als Einstieg in das Werk des Autors.

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  1. 5
    19. Aug 2021 

    Eifersucht - Der unschuldige Mörder???

    In einer Neuübersetzung von Olga Radetzkaja hat der Penguin-Verlag in diesem Jahr die „Kreutzersonate“ von Leo Tolstoi neu herausgegeben. Den Wirbel, den dieses literarische Werk bei seinem Erscheinen im Jahr 1891 verursachte, ist auch heute bei der Lektüre noch sehr verständlich: die Offenheit, mit der hier über die sexuelle Seite des Ehelebens bzw. der Mann-Frau-Beziehungen berichtet wird, stellt für die damalige Zeit sicher einen Tabubruch ungeheuren Ausmaßes dar. Und auch wenn heute die Analysen und Ausführungen des Protagonisten Posdnyschew deutlich nicht mehr unserem modernen Frauenbild entsprechen, so ist doch erkennbar, dass er sich damit weit über die zeitgenössischen Sichtweisen hinweggesetzt haben muss und der Roman damit stark anstößig und polarisierend wirken musste. Das drückt der literarische Zeitgenosse des Autors Anton Tschechow sehr gut aus, der im Nachwort zitiert wird:

    „Wenn du sie [die Kreutzersonate] liest, willst du beinahe schreien: ‚Das ist wahr!‘ oder ‚Das ist unsinnig!‘“.

    In jedem Fall lässt die Lektüre der Herzensergüsse Posdnyschews geäußert seinem Reisegefährten im Zug (dem Erzähler) gegenüber den Leser nie unbeeindruckt. Die Lektüre fordert den Leser heraus, sich dem Erfahrenen gegenüber zu positionieren – so oder so. Diese unvermeidbare Positionierung und den Anstoß zu einer Meinungsbildung bestimmt sicher die Wirkungsgeschichte der Novelle in der Weltliteratur. Dass sie dazu beitragen konnte, zu einer gesellschaftlichen Haltung zur Rolle der Frau in ehelichen und anderen Beziehungen einen Beitrag zu leisten, daran hatte sicher auch einen erheblichen Einfluss, dass Leo Tolstoi schon damals als echte moralische Instanz in Russland galt und mit „Anna Karenina“ ja auch schon eine Lanze gebrochen hatte für die „ehebrechende“ Frau.
    Der Inhalt ist schnell erzählt: Bei einer Zugfahrt trifft der Erzähler auf den Reisenden Posdnyschew, der nur zu gern die Geschichte seiner Ehe und seines damit verbundenen Unglücks mit sehr viel Emotionen erzählt. Dabei schlägt Posdnyschew einen größeren Bogen und analysiert die Beziehung von Männern und Frauen insgesamt als unheilbringend, da permanent bestimmt von den sexuellen Gelüsten und Anziehungskräften zwischen den Geschlechtern. Für die Männer bedeutet das für ihn, das sie sich ständig der sexuellen Anziehungsanstrengungen der Frauen quasi machtlos gegenübersehen. Und für die Frauen, dass sie sich in einer immerwährenden Prostitution bewegen müssen, um Männer zu verführen und anzuziehen. Trotz dieses negativen Bildes über die Beziehung von Mann und Frau meinte Posdnyschew irgendwann die eine Frau gefunden zu haben, die als seine Ehefrau ihn binden und heilen könnte von diesem ständigen verführt werden. Doch da täuscht er sich. Auch in der Ehe bleibt für ihn einzig der Geschlechtstrieb als verbindendes Element zu seiner Frau. Alles andere ist Leere und Inhaltslosigkeit. So wird das entscheidende Gefühl zwischen ihm und seiner Frau von seiner Seite aus eine unbarmherzige Eifersucht, denn immer und ewig sieht er seine Frau als verführendes Wesen und nicht etwa als Partnerin in der Ehe. Diese Eifersucht wird so übermächtig, dass sie Posdnyschew letztlich zum Mörder an seiner Frau macht. Interessant dabei ist, dass er für diese Tat vom zeitgenössischen Gericht freigesprochen wird, da es dieses Maß an Eifersucht nicht etwa dem Eifersüchtigen anzulasten weiß, sondern den äußeren Umstände ganz dafür die Verantwortung gibt. Das Gericht unterstützt damit letztlich die so vehement vorgebrachte Haltung Posdnyschews zur unabwendbar fatalen Beziehung zwischen Männern und Frauen.
    Dies unterstreicht besonders stark die Wichtigkeit dieses literarischen Klassikers, der in seinem Mann-Frau-Bild heute etwas überholt wirken mag, der aber in dieser Beziehung auch weiterhin Bedeutung hat. Wie häufig etwa spielt die Kleidung von Frauen in Vergewaltigungsprozessen eine Rolle im Sinne von „Die war doch selber schuld!“ und wie oft werden Gerichtsurteile gefällt, in denen die durch seine Geschichte geprägte Gefühlswelt des Täters ihn als unschuldig gelten lässt. Die Grenze dessen, wie weit der Täter für sich selbst verantwortlich ist bzw. inwieweit ihn die Gesellschaft zu dem gemacht hat, was er ist, ist immer wieder eine fragil und schwer zu bestimmende.
    Deshalb: auch heute noch aktuell und auch heute noch 5 Sterne-Weltliteratur!

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  1. Keuschheit als Ideal?

    Die Novelle spielt auf einer Zugfahrt, der Ich-Erzähler ist bereits den 2.Tag unterwegs und teilt das Abteil mit einer „hässlichen, nicht mehr jungen, zigarettenrauchenden Dame“ (7) und ihrem Bekannten, einem Anwalt, der tadellos angezogen ist sowie einem kleinen, fahrig wirkenden Herr, der zunächst jedes Gespräch meidet.
    Es kommt zu einem Streitgespräch zwischen einem älteren Kaufmann und der Dame, nachdem diese mit dem Anwalt über Ehescheidungen gesprochen hat und der zu dem Alten gewandt fragt: „Früher hat es sowas nicht gegeben, nicht wahr?“ (11)

    Die modernen Ansichten der Dame, man solle aus Liebe heiraten, stehen denen des Alten, das Weib habe den Mann zu fürchten und ihm zu gehorchen, gegenüber.
    Dieses Gespräch ist jedoch nur der Anlass, dass der kleine, fahrig wirkende Herr sich ins Gespräch einschaltet und die Position vertritt, es gebe keine wahre Liebe, eine Gegenseitigkeit der Gefühle sei unmöglich, „genausowenig, wie zwei gekennzeichnete Erbsen in einer ganzen Fuhre Erbsen nebeneinander zu liegen kommen könnten.“ (21)
    Zudem sei man irgendwann übersättigt. Die Ehe werde seiner Meinung nach geschlossen, damit man den Beischlaf vollziehen könne, nicht aus gemeinsamen Idealen heraus. Die Folge sei Betrug, da die Anziehung nachlasse. Er stellt sich als der Posdnyschew vor, der seine Frau umgebracht hat. Die Einleitung ist vollzogen und im Folgenden schildert er dem Ich-Erzähler, wie es zu jener schrecklichen Tat gekommen ist, wobei er immer wieder gesellschaftliche Missstände anspricht und über die Rolle der Sexualität spricht.
    Obwohl alle wüssten, dass die Männer vor der Ehe ihrem Vergnügen nachgehen, müssten die Mädchen jungfräulich sein. Tolstoi prangert sehr offen diese Diskrepanz an und sein Protagonist verurteilt dies deutlich, da er glaubt, ein „Schürzenjäger“ könne nie mehr ein reines Verhältnis zu einer Frau haben, während die jungen Mädchen die Betrogenen sind. Er glaubt die Lösung in der Enthaltsamkeit gefunden zu haben. Ziel sei es, dass sich alle Menschen in Liebe vereinten, "was ist es dann, was dem Erreichen dieses Ziels im Weg steht? Es sind die Leidenschaften. Und unter den Leidenschaften ist die stärkste, bösartigste und hartnäckigste die sexuelle, die der körperlichen Liebe (…)" (57)
    Ideal ist demnach die Jungfräulichkeit, eine sehr radikale Ansicht, die im Nachwort erläutert wird.

    Tolstoi erlitt Ende der 1870er, Anfang der 1880er Jahre eine schwere Lebenskrise, obwohl ein weltberühmter Autor, Familienvater und glücklicher Ehemann glaubte er, sein Leben sei sinnlos. Die Autorin des Nachwortes, Olga Martynova, sieht die Ursache in Tolstois Widersprüchlichkeit. Einerseits wurde er von seinen Leidenschaften Eifersucht, Jähzorn und Wolllust getrieben, wie sein Protagonist, andererseits wollte er eben jene überwinden. Daher entwickelte er nach seiner Lebenskrise eine "Weltanschauung, die nicht nur jede Gewalt (von der Wehrpflicht bis zum Fleischverzehr) ablehnte, nicht nur das Eigentum als eine abscheuliche Form des Lebens auf Kosten anderer verurteilte, sondern auch die Ehe, die Kunst, die Kirche und vieles andere, was früher Inhalt seines Lebens gewesen war, ganz verleugnete oder harter Kritik unterzog." (184) So gelangte er u.a. zu der radikalen Ansicht, dass die absolute Keuschheit ein erstrebenswertes Ideal ist. Gleichzeitig könne man auf diese Art und Weise Frauen zu ihrer Gleichberechtigung verhelfen, da sie nicht mehr gezwungen seien, die Rolle der Verführerin zu spielen, sich nicht mehr in der Ehe prostituieren zu müssen.
    Eine gleichberechtigte, respektvolle Partnerschaft, in der die Sexualität eine erfüllende Rolle spielt, scheint Tolstoi nicht für möglich gehalten zu haben.

    Eine Novelle, die zur Diskussion dieser radikalen Thesen einlädt, gleichzeitig aber auch das Psychodrama einer Ehe erzählt. Schließlich hat Posdnyschew seine Frau aus Eifersucht getötet. Wie es dazu kommen konnte, erzählt er seinem Zuhörer mit Leidenschaft und zunehmender Unruhe. Wie eine aus unserer Leserunde treffend beschrieben hat, könne man die Novelle auch als Psychogramm einer Ehe lesen statt als moralischen Leitfaden. So oder so ist sie lesenswert ;).

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