Kremulator

Buchseite und Rezensionen zu 'Kremulator' von Sasha Filipenko
3.65
3.7 von 5 (8 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Kremulator"

Pjotr Nesterenko ist mit dem Tod auf vertrautem Fuß. Als Direktor des Moskauer Krematoriums in der Stalin-Zeit hat er sie alle eingeäschert: die Abweichler, die angeblichen Spione und die einstigen Revolutionshelden, die den Säuberungen zum Opfer fallen. Er jedoch, davon ist er überzeugt, kann gar nicht sterben. So oft ist er dem Tod schon knapp entronnen. Bis der Tag seiner eigenen Verhaftung kommt. Wird er auch diesmal den Hals aus der Schlinge ziehen?

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:256
Verlag: Diogenes
EAN:9783257072396

Rezensionen zu "Kremulator"

  1. Alles wird zu Asche

    Als wird zu Asche

    Sascha Filipenko befasst sich diesmal mit Geschehnissen aus der Stalinzeit um 1913. Hierbei stützt er sich auf Aufzeichnungen und erzählt dem Leser anhand des Lebens des Pjotr Nesterenko viel über die Zustände in der damaligen UdSSR.
    Nesterenko war der Leiter des Krematorium in Moskau. Als er 1941 verhaftet wurde, kann er auf ein ereignisreiches Leben zurück blicken. Die Zeit im Krematorium hat ihn geprägt, die Arbeit mit dem Tod hat Spuren hinterlassen, er denkt, er könne ihm nichts mehr anhaben., zumindest äußert Nesterenko dies während seiner Gefangenschaft häufig.
    Die Arbeit selbst war sicher nichts für schwache Nerven, viele Leichname mussten eingeäschert werden, fast alle durch einen Schuss getötet. Makaber, dass Nesterenko nach all den Jahren an der Art der Verletzung erkennen kann, wer der Todesschütze war.

    Da Nesterneko sehr schlau ist, war mir bei den Verhören, nie ganz klar, ob man ihm berechtigt Untreue gegenüber dem Staat vorwerfen konnte, oder ob er nur intelligent genug war, die Ereignisse in einem anderen Licht dastehen zu lassen. Beim lesen wird allerdings schnell klar, dass hier eigentlich nie ernsthaft nach echten Beweisen gesucht wurde. Das Verhör diente nur der Rechtmäßigkeit, es hatte so den Anschein, dass die Angeklagten eine faire Beurteilung bekamen.

    Während des weiteren Verhörs nimmt der Leser an Pjotrs Leben teil, begleitet ihn auf seinem Lebensweg. Man erfährt einiges über seine große Liebe Vera, und den schicksalshaften Verlauf dieser Verbindung.

    Dies als solches ist durchaus erzählenswert, allerdings hat mir die Art und Weise wie der Autor alles umgesetzt hat überhaupt nicht gut gefallen. Sein Hauptcharakter blieb mir rätselhaft und es kam auch kein Mitleid für ihn auf, eher Unverständnis wegen seiner humorvoll angelegten Einschübe, die auf mich deplatziert wirkten, die ich auch in keiner Weise nachvollziehen konnte. Die anderen Romane des Autors die ich kenne haben mir deutlich besser gefallen. Dennoch muss man anerkennen, dass es gut ist von einem Landsmann Kritik am System aufgezeigt zu bekommen, auch wenn er aus dem Exil heraus schreibt.

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  1. 3
    24. Mär 2023 

    Im Chaos der Ereignisse

    In „Kremulator" bringt Sasha Filipenko dem Leser die russische Geschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts näher. Dabei bedient er sich der Lebensgeschichte des Tausendsassas Pjotr Nesterenko, amüsanter Ich-Erzähler dieses Romans und zu Beginn der Handlung Direktor des Moskauer Krematoriums. Nesterenko ist soeben verhaftet worden, wird des Verrats beschuldigt und tritt erstmalig seinem Verhörbeamten gegenüber. In den kommenden Monaten wird es eine Vielzahl an Verhören geben, in denen Nesterenkos Schuld nachgewiesen werden soll.
    Nesterenko ist dabei aufgefordert, seine Geschichte zu erzählen, angefangen mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zu seiner Verhaftung im Jahr 1941.
    Während dieser Zeit hat Nesterenko geb. 1886, als Offizier im Krieg gekämpft, hat die Oktoberrevolution miterlebt, wurde verwundet. Als Offizier adliger Abstammung stand er auf der falschen Seite, sobald in Russland die Bolschewisten an die Macht kamen. Daher suchte er sein Heil in der Flucht, die ihn von Serbien, über Konstantinopel bis nach Frankreich führte. 1926 zog es ihn wieder nach Russland, das mittlerweile zur kommunistischen Sowjetunion geworden war, wo er die Stelle des Direktors des Moskauer Krematoriums antrat. Das totalitäre Regime brachte viele Leichen mit sich, die es auf effektive Weise zu entsorgen galt. Dies war nun die Aufgabe von Nesterenko.
    So viel zum Inhalt, der sich hauptsächlich auf den Werdegang Nesterenkos sowie die geschichtlichen Zusammenhänge konzentriert.
    Der Einstieg in den Roman ist gewöhnungsbedürftig, denn hier treffen Grauen und Humor aufeinander. In Nesterenko haben wir einen Protagonisten, der über seine Arbeit in einer humoristischen Abgebrühtheit spricht, dass es wehtut. Zudem scheint ihn der Größenwahn befallen zu haben, denn er betrachtet die Verhöre mit seinem Ermittlungsbeamten als Kräftemessen, bei dem er, der Delinquent, die Oberhand hat. Doch Nesterenko kann diesen Kampf nicht gewinnen, was ihm auch mit jedem weiteren Verhör bewusst zu werden scheint. Denn seine anfängliche Überheblichkeit gegenüber dem Beamten schwindet, seine ursprüngliche gute Laune, die sich in einer unangemessenen Witzigkeit äußerste, kommt abhanden.
    Der Erzählweise ist dabei vielfältig. Zunächst konzentriert sich die Handlung auf die Verhöre, welche aber von Nesterenkos eigenen Gedanken und Erinnerungen unterbrochen werden, genauso wie durch kurze Auszüge aus seinen Tagebüchern, die er über einen Zeitraum von 30 bis 40 Jahren geschrieben hat. Darüber hinaus finden sich „offizielle" Dokumente, wie Vernehmungs-und Abschlussberichte, Autobiografien, Beschlüsse von offizieller Seite etc. sowie Fotos von Nesterenko. Ob diese offiziellen und historischen Dokumente echt sind, sei dahingestellt. Zumindest gibt es den Hinweis, dass der Autor Sasha Filipenko Zugriff auf historische Dokumente hatte, die ihm die Organisation Memorial zur Verfügung gestellt hat. Aus dem Roman geht auch nicht hervor, inwieweit die Protagonisten der Realität entstammen, was aber für den Roman keine Rolle spielt, da die einzelnen erzählten Schicksale austauschbar sind mit denen Tausender anderer Menschen der damaligen Zeit in der Sowjetunion.
    Anhand des Lebensweges von Nesterenko versucht Filipenko, dem Leser die Geschichte Russlands näher zu bringen, was ihm allerdings nur bedingt gelingt. Nesterenkos Erinnerungen sind chaotisch, er springt zwischen den Ereignissen, die sein Leben bestimmen kreuz und quer, so dass man als Leser den Fokus verliert. Es ist kaum auseinander zu halten, in welcher Zeit, an welchem Ort wir uns befinden, ganz zu schweigen davon, dass man kaum erkennt, wer gerade gegen wen Krieg führt und auf wessen Seite sich Nesterenko gerade befindet.
    Hinzu kommen unzählige historische Zeitgenossen, die dem Leser in Nesterenkos Erinnerungen en passant begegnen und genauso schnell verschwinden, wie sie aufgetaucht sind. Die Namen dieser Figuren waren mir unbekannt, eine Recherche wäre aufgrund der Vielzahl müßig gewesen.
    Anfangs konnte mich dieser Roman noch für sich einnehmen. Ein Protagonist wie Nesterenko ist außergewöhnlich: sarkastischer Humor, Wahnwitz und Nervenstärke, der trotz der lebensbedrohlichen Situation, in der er sich befindet, glaubt, dem Tod von der Schippe springen zu können. Filipenko lässt seinen Protagonisten Gedanken über Themen äußern, die einen Bezug zu aktuellen Ereignissen in unserer Gegenwart haben: Krieg, Flüchtlingswellen und natürlich immer wieder Kritik am russischen Regime. Die Gedankenspiele, die dabei beim Lesen hervorgerufen werden, halten das Interesse an diesem Roman aufrecht. Doch leider hat mich Filipenko im weiteren Verlauf des Romans abgehängt, da sich die Handlung leider in den Irrungen und Wirrungen historischen Ereignisse verliert sowie der Odyssee von Nesterenko.
    Nesterenkos Verhalten wird immer fragwürdiger und die Motive für seine Handlungsweisen werden immer diffuser. Hier hätte ich mir von Filipenko eindeutigere Hinweise erhofft, was die Entwicklung seines Protagonisten betrifft. Die Frage, ob wir es bei Nesterenko mit einem traumatisierten Menschen zu tun haben, dessen Unberechenbarkeit auf seine seelischen Beeinträchtigungen zurückzuführen sind, die er durch die Kriege erlitten hat, oder, ob Nesterenko ganz einfach ein größenwahnsinniger Egozentriker ist, bleibt ungeklärt.
    Fazit: Der Roman hat einen starken und vielversprechenden Anfang. Das Niveau flaut jedoch mit fortlaufender Handlung ab, denn sowohl Protagonist als auch Autor verlieren sich in dem Chaos der Ereignisse. Dadurch wird aus dem anfänglichen aberwitzigen Roman am Ende ein chaotischer Roman, der mich nicht mehr erreicht hat.
    Aber Filipenko wäre nicht Filipenko, wenn in all diesem Chaos nicht die Wortgewandtheit des Autors durchgeblitzt hätte, die er auch schon in anderen Roman bewiesen hat. Somit gab es aus sprachlicher Sicht auch viele gute Momente, die mich bis zum Schluss bei Laune gehalten haben.

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  1. Kritik am Stalinismus mit brennend aktuellen Parallelen

    Sasha Filipenko (geb. 1984) ist ein belarussischer Schriftsteller, der heute im Schweizer Exil lebt. Er hat bereits einige Romane geschrieben, in denen er politische und gesellschaftliche Schieflagen seiner Heimat thematisiert. Im vorliegenden Roman „Kremulator“ setzt er sich mit dem System und den großen Säuberungen der Stalin-Ära auseinander.

    Im Mittelpunkt steht Pjotr Nesterenko, der am 23. Juni 1941 wegen Spionage und Verrat am Vaterland verhaftet wird. Es ist seine Perspektive, die das Buch trägt. Dabei bedient er sich verschiedener Formen: mal schildert er seine gegenwärtigen Erlebnisse in der Haft, mal erinnert er sich an bedeutende und berührende Ereignisse aus seinem bewegten Leben, mal wendet er sich tagebuchartig an seine verflossene Geliebte Vera oder zitiert aus Protokollen und Gerichtsdokumenten.

    Zentral sind dabei zunächst die Verhöre durch Oberuntersuchungsführer Perepeliza. Nesterenko war zuletzt tätig als Direktor des Moskauer Krematoriums, wo er zum Teil in Nacht- und Nebelaktionen Staatsfeinde (Politiker, Zivilisten, einstige Helden oder Künstler) verbrannt und ihre Überreste im Kremulator zermahlen hat. Dadurch wurde er zweifellos zum Mitwisser und Geheimnisträger. Er hat den Job lange genug gemacht, so dass er die Handschriften, die Genossen und die Seilschaften kennt. In den Verhören soll Nesterenko zunächst harmlos über seine Arbeit berichten, aber natürlich ist es das Ziel, Fallen zu stellen, um weitere Namen von Verdächtigen zu erfahren. Die Dynamik der Verhöre nimmt stetig zu.

    Der Ton Nesterenkos ist gewöhnungsbedürftig. Der Delinquent scheint keine Angst zu haben. Teilweise reagiert er respektlos bis süffisant auf die Fragen des Ermittlers. Er antwortet mit sarkastischer Ironie. Das erschien mir zunächst völlig unpassend. Später erklärte ich es mir damit, dass Nesterenko das System bereits zu gut kennt: Er weiß, dass es völlig gleichgültig ist, was er zu seiner Verteidigung vorzubringen hat, weil das Urteil, der Tod, bereits unumstößlich feststeht. Das macht ihn frei: „Jede Diktatur, Bürger Ermittler, hält sich durch Korruption aufrecht“, (S.33) „…aber kaum hatten die Kampfhandlungen begonnen, verwandelte sich die Front in ein Fließband. Angekommen- gefallen- angekommen- gefallen….“ (S.62), „Was soll ich sagen? Die russische Denunziation ist gnadenlos.“ (S. 125), „Der Zweifel ist zum Verbrechen geworden.“ (S. 209)

    Nesterenko hinterfragt den Krieg, die Widersprüche des Stalinismus, die Diktatur als solche. Dadurch gewinnt der Roman im Angesicht der jüngsten Ereignisse rund um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine erschreckende Aktualität. Im Zuge seiner Berichte wird man sich immer wieder der Willkürherrschaft diktatorischer Regierungen bewusst. Im Grunde wollte Nesterenko seit dem Großen Krieg nur überleben. Er versuchte, sich an die Gegebenheiten anzupassen, war aber auch ein Abenteurer und zudem unsterblich in die Schauspielerin Vera verliebt, der er hinterher reiste und für die er keine Gefahren scheute.

    Der Roman bemüht sich, alle Stationen Nesterenkos zu skizzieren. Das kann einen Leser, der sich nicht dezidiert in der russischen und stalinistischen Geschichte auskennt, verwirren. Ich selbst habe irgendwann den Faden verloren in dem Gewühl aus Erlebnissen und Grenzüberschreitungen, die dem Angeklagten später zum Verhängnis werden. Der sprunghafte Stil lässt keine Lesefreude aufkommen. Filipenko hat im Zuge der Recherchen für diesen Roman Einsicht in die Archivunterlagen der Menschenrechtsorganisation MEMORIAL erhalten, die 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Insofern darf man davon ausgehen, dass das Schicksal Nesterenkos nicht nur authentisch ist, sondern auch typisch für zahlreiche Opfer des Systems. Wahrscheinlich war es das Ziel des Autors, möglichst nah am Quellenmaterial zu bleiben. Mir wären etwas mehr Fiktion, etwas mehr Fluss im Geschehen, ein paar Namen weniger, lieber gewesen.

    Was ich dem Roman aber unbedingt zu Gute halte, ist seine Aktualität. Filipenko ist mutig, dass er sich so kritisch mit der russischen Vergangenheit auseinandersetzt, deren Spielarten leider auch in der Gegenwart omnipräsent sind. Wieder fallen Menschen aus dem Fenster, begehen Suizid, sterben auf dem Feld der Ehre oder verschwinden auf Nimmerwiedersehen. Wieder werden Lügen verbreitet, gibt es keine fairen Prozesse. Der Unrechtsstaat urteilt willkürlich ab, indem das Urteil bereits zu Beginn des Prozesses feststeht. Wieder dienen junge Männer als Kriegsmaterial im Kampf um Ländergrenzen. Es ist so bitter!

    Trotz aller Aktualität hält sich meine Begeisterung für den Roman in Grenzen. Der permanente Galgenhumor war meine Sache einfach nicht, auch wenn er sich begründen lässt. Die Figuren bleiben auf diese Art zudem sehr auf Distanz zum Leser. Ich rate unbedingt zu einem Blick in die Leseprobe und gebe nur eine eingeschränkte Leseempfehlung.

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  1. 4
    12. Mär 2023 

    Mit dem Tod auf Du und Du...

    Am Tag nach Beginn des deutschen Angriffskriegs auf die UDSSR unter Stalin (22.6.1941) werden über 1000 Menschen verhaftet - angeblich alles Spione, Saboteure oder Landesverräter. Unter ihnen auch Pjotr Nesterenko, der 55jährige Direktor des Moskauer Krematoriums.

    "Ein Gott der Asche war ich. Ale Vulkane der Welt (...) erblassen angesichts der Mengen von Asche, die ich jeden Tag produziere. Mein Keller auf dem Donskoi-Friedhof war eine richtige Unterwelt. Hades - (...), ich war der, dessen Namen man mied. (...) Zeus verfügte über die Welt der Menschen und den Himmel, Poseidon über die Meere, ich über alle Friedhöfe Moskaus und das erste Krematorium der Sowjetunion - einen Ort, den sogar die Götter verabscheuten..." (S. 39)

    Aus der Haft wird er nicht mehr entkommen, so viel ist Nesterenko klar. Er hat schon zu viel gesehen und erlebt um sich Illusionen zu machen und weiß wie das "Spiel" läuft - das Urteil steht bereits fest, nur der Schein muss gewahrt bleiben. Und womöglich fallen während seiner Verhöre noch einige Namen, die dann wieder auf die endlose Säuberungsliste gelangen, der Hunger der unmenschlichen russischen Maschinerie ist grenzenlos. Doch so leicht macht es Nesterenko dem Ermittler der Staatssicherheit nicht, Perepeliza, keine dreißig Jahre alt. Mit Zynismus und Sarkasmus hat Nesterenko sein Leben bisher gemeistert, das, so wird es sich im Verlauf des Romans zeigen, viele Begebenheiten aufwies, die andere hätten verzweifeln lassen. Und diese nahezu lakonische Art lässt ihn auch die Verhöre fast schon gelassen überstehen.

    "Die russische Denunziation ist absurd und gnadenlos..." (S. 125)

    Die Ermittlungen befassen sich mit dem gesamten Leben des Delinquenten, das viele Stationen beinhaltete. Eine Jugend unter dem letzten Zar, der Erste Weltkrieg, die Oktoberrevolution und der anschließende Bürgerkrieg, die Flucht vor den Bolschewisten nach Belgrad, Istanbul, Paris, schließlich die Rückkehr in die Sowjetunion. Dabei sehnt sich Pjotr Nesterenko eigentlich nur danach, Pilot zu werden und seine Jugendfreundin Vera wiederzufinden. Einmal zurück in Russland, wird Nesterenko Direktor des ersten Moskauer Krematoriums, und nur zu bald wird deutlich, wie vielseitig und praktisch diese Anlage einzusetzen ist. Tagsüber verbrennt er die offiziell angemeldeten Toten - und nachts kommen die Hingerichteten, die Opfer des stalinistischen Terrorregimes, von denen am Ende nur die Kugeln übrig bleiben.

    "Jetzt ist mir klar, dass er wirklich nichts in der Hand hat gegen mich - aber das ist das Gefährlichste (...) Das Schlimmste ist, dass das mustergültiger sowjetischer Irrsinn ist. So was glauben sie sofort." (S. 197)

    Über weite Strecken empfand ich den Roman als chaotisch und verworren. Ebenso wie die Geschichte Russlands zu der geschilderten Zeit turbulent und undurchsichtig war, gerät Nesterenko zum Spielball der Historie. Wer sich mit den historischen Gegebenheiten (und wichtigen historischen Persönlichkeiten) nicht ausreichend auskennt, der schlackert hier doch so manches Mal mit den Ohren. Mir jedenfalls ist es phasenweise so ergangen, und ich hatte ehrlich gesagt keine große Lust, bei jedem zweiten Satz wieder anderweitig zu recherchieren, was es mit den jeweiligen Andeutungen nun auf sich hat. Denn hier wird in der Tat vieles nur angerissen und offenbar als bekannt vorausgesetzt. Ist dem nicht so, gerät das Lesen durchaus auch zur Anstrengung.

    "Fanatismus ist immer noch die gefährlichste Art von Dummheit" (S. 183)

    Diesem Roman liegen Verhörprotokolle zugrunde, die Filipenko von der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“ erhalten hat, die im vergangenen Jahr den Friedensnobelpreis erhielt. Etliche Fragen der Verhöre Nesterenkos stammen somit wohl aus den originalen Protokollen. Das erklärt auch, weshalb der Ermittler Perepeliza hier weniger Wert auf Folter und Gewalt legt als man es vielleicht erwarten würde und weshalb Nesterenko bei den Befragungen seine "Witzchen" reißen kann - hier ging es Filipenko wohl sehr darum, möglichst viele Fragestellungen der originalen Protokolle in seinen Text einzubauen. Der Autor schreibt "eher journalistisch als literarisch" befindet denn auch der Kommentar von WDR-Kultur zu dem neuesten Roman Filipenkos.

    Dies geht m.E. zulasten der Tiefe von Handlung und Personen. Sarkasmus und Zynismus helfen Nesterenko nicht nur dabei, sein Leben zu ertragen und nicht zu verzweifeln, diese Stilmittel halten auch die Lesenden auf Distanz. Stellenweise sorgt der Roman für ein Schaudern oder kurze Betroffenheit, wirklich berühren kann er aber nicht. Atmosphärische Schilderungen oder psychologische Charakterzeichnungen sucht man hier vergeblich.

    Dennoch hat mir der Roman letztlich gefallen, denn die Willkür der wechselnden totalitären Regierungen Russlands, das Vergebliche des Versuchs sich "richtig" zu verhalten, die Allgegenwärtigkeit denunziierender Mitbürger:innen, die geringe Bedeutung (mit-)menschlicher Aspekte - all das wurde hier glaubwürdig transportiert. Und damit wurde dann auch der Bogen geschlagen zum Russland von heute. Denn - um mal eine altgediente Weisheit zu bemühen - die Geschichte wiederholt sich...

    Ein düsterer Blick auf russische Verhältnisse von einem Autor, der nach Weißrussland schließlich auch Russland verlassen musste.

    © Parden

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  1. Den Tod durch Übung überwinden!

    Pjotr Iljitsch Nesterenko (55) ist davon überzeugt und reagiert entsprechend gelassen, als er im Juni 1941 als Direktor des Moskauer Krematoriums verhaftet wird. Er wird nach Saratow gebracht, wo ihn der Leutnant der Staatssicherheit Wassili Perepeliza der Spionage und/oder des Landesverrats überführen soll. In den sich über Wochen und Monaten hinziehenden Verhören, wird das Leben Nesterenkos und die verändernden Zeiten Russlands zwischen den Weltkriegen aufgerollt.

    Perepeliza ist ein junger überzeugter Sowjetbürger, während Nesterenko im Ersten Weltkrieg für die Weißgardisten kämpfte. Nach der Oktoberrevolution 1917 wechselte er zur Roten Armee, kam nach Charkow in die Ukraine, floh nach dem Angriff der Deutschen und schloss sich wieder den Weißen an, die ihm seinem Wunsch zu fliegen erfüllen sollten. Nach einer Verwundung kam er nach Serbien und über Umwegen letztlich nach Paris, wo er sich als Taxifahrer verdingte. Die Sehnsucht nach einem Zuhause und seiner großen Liebe Vera lässt ihm aber keine Ruhe und so begibt er sich zurück in seine Heimat. Seine Heimat ist aber nicht mehr Mütterchen Russland, seine Heimat ist jetzt der Adel verachtende, alles gleichstellende neue Sowjetstaat. Die Arbeit auf dem Moskauer Friedhof fällt Perepeliza eher zufällig zu.

    Filipenkos Roman ist eine Aufzeichnung der Verhöre in Saratow, gespickt mit fiktiven Tagebuchaufzeichnungen Nesterenkos, als auch seinen Gedanken, die er Perepeliza wohlweislich nicht erzählt. Ist Nesterenko anfangs noch vorwitzig und selbstsicher, erweist sich Perepelizas hartnäckiges, im neuen Sowjetsprech vorgebrachtes Verhör als zermürbend. Nesterenkos Philosophie, unsterblich zu sein, provoziert Perepeliza.

    Dieses gerade einmal 250 Seiten starke Büchlein überzeugt mit seiner verdichteten Information zur russischen Geschichte (Übergang Russlands zum Sowjetstaat, mit seinen Sowjetmenschen), einschließlich der Auswirkungen auf die Peripherien (starkes Beispiel, war der Umgang der Türkei mit den Flüchtlingen) und damit den unübersehbaren Parallelen zum aktuellen Krieg. Aber auch die persönlichen Beweggründe des Protagonisten, sehenden Auges in die Hölle zurückzukehren und damit sein Leben aus Spiel zu setzen, die Entscheidungen, die seine Mitmenschen treffen, um zu überleben, und schließlich der Wahn der Überzeugung, der jede Rationalität schachmatt setzt.

    Ich las ähnliche Romane in den letzten Monaten, dieser aber gab mir ein authentisches Gefühl der Glaubwürdigkeit. Lag es an Nesterenkos Portraits, lag es an seinen menschlichen Entscheidungen, an seinen Glauben an die Unsterblichkeit, die trotz tiefster Finsterniss hoffnungsfroh stimmte, oder sogar an seiner Tätigkeit als Kremulator, der allein durch die Nähe zum Tod dem Schrecken die Kraft nimmt? Sehr angnehm fand ich auf jeden Fall, dass das Revolutions- und Kriegsgeschehen an der Oberfläche blieb, ich mich also nicht in kleinteiligen Fakten verlor, sondern viel Raum blieb, für den Wiedererkennungseffekt zu Gegenwärtigem.

    Dass Vieles ungesagt blieb und doch so offensichtlich zu Tage trat, haben wir wahrscheinlich dem Geschick des Autors zu verdanken, der selbst die Tücken eines Unrechtstaates kennt und mit den Konsequenzen bereits leben muss.

    Keine Unterhaltung, ein Manifest!

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  1. Der verlängerte Arm des Teufels

    Klappentext:

    „Pjotr Nesterenko ist mit dem Tod auf vertrautem Fuß. Als Direktor des Moskauer Krematoriums in der Stalin-Zeit hat er sie alle eingeäschert: die Abweichler, die angeblichen Spione und die einstigen Revolutionshelden, die den Säuberungen zum Opfer fallen. Er jedoch, davon ist er überzeugt, kann gar nicht sterben. So oft ist er dem Tod schon knapp entronnen. Bis der Tag seiner eigenen Verhaftung kommt. Wird er auch diesmal den Hals aus der Schlinge ziehen?“

    Wenn man Sasha Filipenko liest, liest man nicht einfach so eine Geschichte sondern man liest Zeitgeschichte kritisch, ehrlich und vor allem mit der nötigen Würze Zynismus und Sarkasmus beleuchtet. Wer seine Vorgänger-Bücher bereits kennt, wird sich hier den gehobenen Stil (die Zeitenwechsel sind äußerst rasch, man muss der Geschichte gut folgen und vor allem offen für die Geschichte Russlands sein) sehr gut und schnell erlesen haben. „Kremulator“ - was für ein grausamer Name aber zu Pjotr passt er perfekt. Er ist der Herrscher über das Feuer welches alles vernichtet, er ist der lange Arm des Teufels. „Säuberungen“ ist ebenfalls ein grässliches Wort und auch diese gab und gibt es bereits seit unzähligen Zeiten im Land Mütterchen Russlands. Sie merken schon, Filipenko lässt wieder kein grausames politisches Thema aus um es in seiner aktuellen Geschichte zu verpacken und was soll ich sagen? Sie könnte, wie bei Filipenko bekannt, nicht aktueller sein. Wer sich mal etwas tiefer mit der russischen Geschichte und ihrer politischen Entwicklung befasst, wird erschreckendes (mit dem heutigen und aktuellen Wissen) feststellen. Ihr Ruf kommt nicht von ungefähr aber ist Pjotr nur ein verlängerter politischer Arm der eben nur ausführt? Auch er hat ein Leben neben seinem Beruf und er hat sogar ein Herz welches er sogar an jemanden verloren hat - Vera. Aber als Direktor des 1. Moskauer Krematoriums prahlt man nicht unbedingt mit seinem Beruf herum.

    Filipenko zerpflückt seine Geschichte in verschiedene Äste. Einerseits haben wir Pjotrs Geschichte, erlesen aber auch viele geschichtliche Parts die es zu verstehen gilt um den gesamten roten Faden zu folgen. Wie ich bereits sagte, ist diese Geschichte anspruchsvoll und bedarf hierbei schon etwas Wissen rund um Russland. Unser Kremulator ist eine äußerst interessante Person, der sich mit dem Tod jeden Tag auseinandersetzt und dadurch abstumpft. So wirkt es zumindest für uns Leser. Pjotr erzählt uns Geschichten immer mit einer nötigen Prise Zynismus und Sarkasmus. Auch das muss man verstehen können! Und man muss verstehen, dass hinter der Figur „Pjotr Nesterenko“ eigentlich ein ganzes Land mit seiner gesamten politischen Entwicklung als Metapher verwendet wird - auch Russland ist stumpf geworden was den Tod angeht (das war schon immer so wenn man eben die entsprechende politische Geschichte kennt!), selbst Menschen, die eigenen Bürger des Landes sind lebende Munition und werden verheizt egal was es kostet. Russland, Pjotr Nesterenko sind stumpf geworden und haben in gewisser Weise ihre Seele an den Teufel verkauft. Autor Sasha Filipenko hat hier in meinen Augen wieder ein äußerst gewaltiges Werk geschaffen welches definitiv Vorwissen bedarf um es zu verstehen, deshalb auch meine 4 sehr guten Sterne. Sprachlich und auch den Ausdruck betreffend hat sich Filipenko hier mal wieder ein eigenes Denkmal gesetzt. Er schreibt so ehrlich und rein wie das Wasser des Baikalsees in Sibirien, und auch ebenso kalt und unverfroren wie es eben nur er kann.

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  1. 3
    11. Mär 2023 

    Stalins Terrorherrschaft in der Sowjetunion

    Teils Erzählung, teils journalistisch - wie zusammengeflickt, verworren und langweilig, kräftig mit Sarkasmus und Zynismus gewürzt

    Eine spannende Handlung hatte ich nicht erwartet, auch keine besonders schöne Sprache, aber tiefere Einsichten in die Stalinzeit, Anregungen zum Nachdenken, Diskussionsanlässe. Leider für mich alles Fehlanzeige. Vom ganzen Buch habe ich den Eindruck, dass die Teile nicht zusammenpassen: die Texte auf der Grundlage von historischen Dokumenten der Organisation 'Memorial', Tagebucheinträge, Berichte, Dialoge eines Verhörs, amtliche Bestimmungen, zwei Fotos.

    Pjotr Nesterenko ist Direktor des Moskauer Krematoriums und maßgeblich daran beteiligt, die Ermordeten des Stalinterrors verschwinden zu lassen. Sie wurden zu Hunderten erschossen und nachts von Nesterenko verbrannt. Er ist der Kremulator; durch seine Hände gehen auch Menschen, die er kennt, Dichter, Politiker. Und dann erwischt es ihn selbst: er wird verhaftet und langen Verhören unterworfen, in denen er seine Spionagetätigkeit zugeben und weitere Namen nennen soll, eine typische Vorgehensweise damals. In den Verhören erfahren wir bruchstückhaft einiges über das turbulente Leben von Nesterenko: Zarenarmee, Rote Armee, die Weißen (Denikin), Türkei, Serbien, Polen, Paris. Am Ende kehrt er der Liebe wegen wieder nach Moskau zurück.

    Was auffällig ist: Nesterenko scheint mit dem Leben abgeschlossen und vor dem Tod keine Angst zu haben. Er wirkt aber keineswegs resigniert, sondern sarkastisch-zynisch. Die Zustände während der Haft nimmt er mit Gleichmut hin, was mir ein wenig unglaubwürdig vorkommt wie auch einige andere Begebenheiten und Zufälle.

    Es klingt lustig, wenn er sich über den jungen 'Genossen Ermittler' lustig macht, 'dieses Bürschchen, diesen Wonneproppen', ein Adlerküken in einem noch fremden Nest' (20). Oh, 'verzeihen sie gnädigst' (22). - Es gibt etliche gesellschaftskritische Anmerkungen und Einsichten über den Krieg, aber auch das alles kommt mir zu gewollt eingestreut vor.

    'Du kennst ja den Eifer unserer Behörden, wenn es um Vernichtung geht.' (9) - 'das neue Quasirechtswesen' (13) - 'Es gibt Spielregeln, die im Frieden gelten, und im Krieg sind es andere. Man muss darauf achten, sich rechtzeitig umzustellen...' - 'Der Krieg folgt keiner Logik...' (14) - 'Jede Diktatur, Bürger Ermittler, hält sich durch Korruption aufrecht.' (33) - 'Das Schlimmste am Krieg ist, dass er dich gegen deinen Willen zum Töten zwingt. (48).

    Ich habe einiges über das Thema gelesen, aber auch ich musste hin und wieder nachgucken, was geschichtlich gemeint war und manchmal hatte ich auch einfach keine Lust dazu. Ein wenig Arbeit darf sich auch der Autor machen, um dem Leser etwas plausibel vor Augen zu stellen. Ein Glossar wäre nicht schlecht gewesen.

    Das ganze Erzählen und Berichten ist von Sarkasmus und Zynismus durchzogen. Das mögen einige lustig finden, es mag Nesterenko geholfen haben, seine schlimme Arbeit zu tun, aber manchmal fand ich angesichts des Ernstes der Lage und der Würde der Toten das Ganze etwas zu viel.

    'Im Keller des Krematoriums gehörten Humor und Sarkasmus zu den wenigen Dingen, die mich davor bewahrten, wahnsinnig zu werden.' (221)

    Wie es letztlich mit Nesterenko endet, ist wohl nicht so wichtig ...

    Fazit

    Leider hat mir das Buch nicht zugesagt, Gründe. Da dies aber nur meine persönliche Meinung ist, hoffe ich um der Sache willen, dass Filipenko mit seinem Buch andere Leser erreicht und ihnen für die Gräueltaten der Stalinzeit die Augen öffnen kann. Daher runde ich meine 2,5 Sterne auf 3 auf.

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  1. 4
    10. Mär 2023 

    Direktor des 1. Moskauer Krematoriums

    Ich schätze, die historischen Dokumente der Organisation Memorial (Friedensnobelpreis 2022) würden wahrscheinlich die wenigsten Leser interessieren. Sasha Filipenko entwarf vor diesem Hintergrund einen Protagonisten mit dem Namen Pjotr Nesterenko mit einem interessanten und abwechslungsreichen Leben + einem Beruf, der erst einmal Erstaunen hervorruft: Kremulator.

    Wir tauchen ein in die Geschichte und das Chaos der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts in Russland und, haben teilweise Schwierigkeiten, den schnellen Wechseln der Politik zu folgen. Und dann gibt es noch Pjotrs große Liebe zu Vera, der Schauspielerin!

    Mir gefiel dieses Buch, weil es so aktuell ist, obwohl die Rahmenhandlung - in Form eines Verhörs –schon ab 1941 in Moskau spielt. Etliche Aussagen könnten jedoch genauso gut aus der Gegenwart sein, wie z.B. "Die russische Denunziation ist absurd und gnadenlos" oder der Ausdruck "aus dem Fenster gefallen wurde".

    Mein Lieblingssatz ist jedoch „Fanatismus ist immer noch die gefährlichste Art von Dummheit.“ (Der gilt 100%ig zu allen Zeiten und überall!)

    Vier Sterne gebe ich diesem Buch und hoffe, dass sich viele Leser dafür finden und sich mit diesem Thema auseinandersetzen!

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