Kleider machen Leute

Buchseite und Rezensionen zu 'Kleider machen Leute' von Gottfried Keller
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Inhaltsangabe zu "Kleider machen Leute"

Diskussionen zu "Kleider machen Leute"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:160
EAN:9783864060571

Rezensionen zu "Kleider machen Leute"

  1. 5
    04. Apr 2016 

    Ein Klassiker in einem modernen Gewand

    Die Erzählung von Gottfried Keller ist erstmalig im Rahmen seines Novellenzyklus "Die Leute von Seldwyla" im Jahre 1874 erschienen. Es ist also eine Geschichte, die schon einige Jährchen auf dem Buckel hat. Und trotzdem hat sie nichts von ihrer Aktualität und Originalität eingebüßt.

    Worum geht es?
    Der Schneidergeselle Wenzel Strapinski verliert seinen Job, begibt sich auf Wanderschaft und wird unterwegs - quasi als Anhalter - von einer prunkvollen Kutsche mitgenommen. Bei diesem Gefährt handelt es sich eindeutig um die Kutsche eines wohlhabenden Mannes. Beim Halt im nächsten Ort (Goldach) kommt, was kommen muss: Jeder hält Wenzel für einen reichen Mann. Denn seine Kleidung (als Schneider hat er schon immer Wert auf gepflegte Kleidung gelegt) und die Tatsache, dass er mit einer prächtigen Kutsche reist, sind Beweis genug, dass es sich bei einem Mann seines Auftretens mindestens um einen Grafen handeln muss. Und so buhlen die Goldacher um seine Gunst, jeder möchte mit dem "Grafen" Freundschaft schließen und für seine Zwecke einspannen. Er wird verköstigt, erhält eine angemessene Unterkunft. Fehlende finanzielle Mittel bekommt er geliehen. Er wird mit Geschenken und Nettigkeiten überschüttet, seine Schulden kann er später begleichen. Er ist schließlich von "Adel" und ein "Ehrenmann", der seine Schulden nicht vergisst. Wenzel schafft es einfach nicht, das Missverständnis aufzuklären. Er hat sich auch an seinen vermeintlichen Status und die Bequemlichkeiten, die dieser Status mit sich bringt, gewöhnt. Aber, wie sollte es anders sein? Irgendwann fliegt der Betrug auf...

    "Nun wurde die Forelle aufgetragen, mit grünem bekränzt, und der Wirt legte ein schönes Stück vor. Doch der Schneider, von Sorgen gequält, wagte in seiner Blödigkeit nicht, das blanke Messer zu brauchen, sondern hantierte schüchtern und zimperlich mit der silbernen Gabel daran herum. Das bemerkte die Köchin, welche zur Türe hereinguckte, den großen Herren zu sehen, und sie sagte zu den Umstehenden:'Gelobt sei Jesus Christ! Der weiß noch einen feinen Fisch zu essen, wie es sich gehört, der sägt nicht mit dem Messer in dem zarten Wesen herum, wie wenn er ein Kalb schlachten wollte. Das ist ein Herr von großem Hause, darauf wollt' ich schwören, wenn es nicht verboten wäre! Und wie schön und traurig er ist! Gewiss ist er in ein armes Fräulein verliebt, das man ihm nicht lassen will! Ja, ja, die vornehmen Leute haben auch ihre Leiden!'" (S. 127)

    Martin Krusche, der diese Graphic Novel illustriert hat, hat aus einer Geschichte, die aufgrund ihres ursprünglichen Sprachstils in die Jahre gekommen ist, eine moderne und damit ansprechende Variante gemacht. Er siedelt die Geschichte in unserer Zeit an: Wenzel sitzt im Supermarkt an der Kasse, verliert seinen Job und seine Wohnung, wird als Anhalter von einer Stretch-Limousine mitgenommen und gerät in ein identisches Szenario wie der Schneidergeselle Wenzel vor 140 Jahren. Er hat halt das Auftreten eines Hipsters - schicke Klamotten, gepflegtes Äußeres, das obligatorische Tatoo, das zusammen mit den Sneakers, die er zum Anzug trägt, die notwendige Lässigkeit eines Underdogs vermitteln.

    Bei Martin Krusches Figuren fällt auf, dass alle in irgendeiner Form ein Schmuddel-Element an sich haben. Dadurch betont er deren Oberflächlichkeit und vermittelt mehr Schein als Sein. Die typischen Statussymbole sind überall präsent: Handy, dickes Auto, Schmuck, reichlich gutes Essen und Trinken. Es wird mit Geld um sich geschmissen, als ob zu jedem wohlhabenden Haushalt eine Gelddruckmaschine gehört. Und trotz allem Wohlstands wirken die Figuren ungepflegt und derb: dicke Bäuche, unrasierte Gesichter, grobe Gesichtszüge.

    Die Illustrationen, die in Grau/Schwarz-/Rot- und Blautönen gehalten sind, sind sehr detailliert und verleiten den Leser, bei einigen Zeichnungen länger zu verweilen. Es gibt halt sehr viel zu sehen und zu entdecken. Beispiel gefällig? Martin Krusche begnügt sich z. B. nicht damit eine Unterbuxe zu zeichnen. Er verpasst ihr auch direkt ein putziges Ankermuster.

    Die Texte sind natürlich auf unsere Zeit angepasst. Martin Krusche siedelt Seldwyn - also den Herkunftsort von Wenzel, wo dieser gelebt und als Kassierer gearbeitet hat - in Berlin an. Die Menschen in Wenzel's Heimat berlinern. Sie kommen aus sozial schwachen Verhältnissen bzw. leben am Rand der Gesellschaft. Also Berlinern und sozial schwach - das ist doch sehr klischeehaft! Ich bin mir nicht sicher, ob Leser, die aus Berlin kommen, ihren Spaß daran haben. Vielleicht sind sie es aber auch gewohnt ;-)

    Für diejenigen, die die Geschichte "Kleider machen Leute" nicht mehr parat haben, gibt es im hinteren Teil dieses Buches die Ursprungsversion von Gottfried Keller. Ich habe Keller's Version zuerst gelesen und somit mein Gedächtnis aufgefrischt. Im Anschluss habe ich mich dann in die illustrierte Version von Martin Kruschel gestürzt. Und dieser direkte Vergleich hat sehr viel Spaß gemacht.

    Fazit:
    Ich bin Laie auf dem Gebiet der Graphic Novel, bin eigentlich auch nicht in der Lage, Illustrationen angemessen zu bewerten. Daher gebe ich nur das wieder, was ich gesehen, gelesen und dabei empfunden habe. Ich finde das Prinzip, einen Klassiker in einer modernen Version zu präsentieren sehr ansprechend. Martin Krusche ist es gelungen, eine Geschichte, die schon manchen Schüler zur Verzweiflung gebracht hat, zu entstauben und durch seine Adaption auf die Gegenwart wieder zu neuem Glanz zu verhelfen.

    © Renie

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