Kinderseele

Buchseite und Rezensionen zu 'Kinderseele' von Hermann Hesse
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Inhaltsangabe zu "Kinderseele"

Diskussionen zu "Kinderseele"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:72
EAN:9783864060663

Rezensionen zu "Kinderseele"

  1. 5
    08. Mai 2017 

    ein Ausflug in die 90er mit Hesse

    Kandierte Feigen hatten es dem damals 11-jährigen Hermann Hesse angetan. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen und schwups, stiebitzt er sie aus dem Arbeitszimmer seines Vaters. Die Folge sind Seelenqualen und Angst vor Entdeckung und Strafe. Jahre später verarbeitet Hesse dieses gravierende Erlebnis in seiner Erzählung "Kinderseele".
    Die Kindheit von Marie Wolf, die die vorliegende Ausgabe der Edition Büchergilde illustriert hat, fand ca. 100 Jahre später statt, um genau zu sein, in den Neunzigern des 20. Jahrhunderts. Die Kindheit verändert sich im Laufe der Zeit, doch die Ängste eines Kindes bleiben die gleichen - egal um welche Epoche es sich handelt.

    So ist es Marie Wolf mit ihren Zeichnungen gelungen, die Erzählung aus einer Zeit, wo noch "Zucht und Ordnung" herrschte, auf eine lässigere und scheinbar ungezwungere Zeit zu adaptieren.

    Ihre Zeichnungen sind im Stil der 90er gehalten: farbenfroh und verspielt. Dabei beweist Marie Wolf sehr viel Sinn fürs Detail. So findet man Karottenhosen, Bonanzaräder, Gameboys, Ballonjacken. Dieses bunte Szenario bildet einen krassen Kontrast zu dem doch eher düsteren Umfeld, das Hermann Hesse in seiner Erzählung schildert. Sein Wohnhaus gleicht einer Gruft, in dunklen Farben gehalten und Stille, die ihn fast erdrückt. Sein Tagesablauf ist von strengen Regeln geprägt. Drei Mahlzeiten im Kreis der Familie, Hausaufgaben, Unterricht und natürlich der sonntägliche Kirchgang bzw. der Besuch der Sonntagsschule mit anschließendem Familienspaziergang. Kindsein war damals nicht leicht. Vermutlich gab es damals keine Kinder mit ADHS oder mit (zu) viel Energie. Denn die wurde im Keim erstickt. Kindsein bestand damals aus dem strikten Einhalten von Regeln, Gottesfurcht und das Ehren von Vater und Mutter.

    "Da mit dem Duft von Stein und feuchter Kühle überströmte mich plötzlich Erinnerung, hundertfach. O Gott! Es roch nach Strenge, nach Gesetz, nach Vater und Gott." (S. 51)

    Insbesondere sein (Über-)Vater hatte einen großen Teil zu Hesses Kindersorgen und Angst beigetragen. In seiner Beschreibung erinnert der Vater eher an einen Gott. Zwischen Vater und Sohn herrschte eine riesengroße Distanz, die allein der Vater überbrücken konnte. Doch statt Liebe und Zuneigung ließ er den kleinen Hermann nur Strenge spüren. Er präsentierte sich selbst als tadellos und unbescholten - ein Mann von Zucht und Ordnung sowie Hüter von Sitte und Moral. Und Hermann war darauf bedacht, ein folgsamer Sohn zu sein, und es seinem Vater recht zu machen. Teilweise hasste Hermann seinen Vater für dessen Perfektion und Anspruch an ihn, der unmöglich zu erfüllen war. Und aus diesem Zorn heraus, stahl er seinem Vater todesmutig ein paar kandierte Feigen, damals eine Köstlichkeit, heute kann man wahrscheinlich kein Kind damit locken. Erschrocken über seine eigene Dreistigkeit, litt er die folgenden Tage Höllenqualen. Sein schlechtes Gewissen machte ihm zu schaffen, seine Frömmigkeit trug ihr Übriges dazu bei, und natürlich war da noch die Angst vor Entdeckung und Strafe, die am Ende auch eintraten.

    "Wenn ich alle die Gefühle und ihren qualvollen Widerstreit auf ein Grundgefühl zurückführen und mit einem einzigen Namen bezeichnen sollte, so wüßte ich kein anderes Wort als: Angst. Angst war es, Angst und Unsicherheit, was ich in allen jenen Stunden des gestörten Kinderglücks empfand: Angst vor Strafe, Angst vor dem eigenen Gewissen, Angst vor Regungen meiner Seele, die ich als verboten und verbrecherisch empfand." (S. 20)

    Jedes Kind, egal in welcher Zeit es lebt, kennt dieses Gefühl. Eine vermeintliches "Bagatellvergehen" entwickelt sich zu einer "Todsünde". Hesse beschreibt diese Seelenqualen, die er damals durchmachte, sehr eindrucksvoll. Die Nöte einer Kinderseele sind damals wie heute in etwa die gleichen. Nur das Verhältnis zwischen Eltern und Kinder hat sich bei den meisten Familien heutzutage etwas entspannt. Die Kluft zwischen Vater und Sohn ist nicht mehr so groß wie in Hesses Kindheit. Fast scheint es, als ob heutzutage ein Vater-Sohn-Verhältnis auf Augenhöhe angestrebt wird. Die Bereitschaft zur Diskussion mit seinem Kind ist bei der heutigen Erziehung deutlich gestiegen - auch, wenn dies nicht immer pädagogisch ratsam ist.

    Marie Wolf verpasst ihren Figuren Tierköpfe. So hat der kleine Hermann den Kopf eines Äffchens mit dicken runden Kulleraugen, seine Schwestern haben die Köpfe von Zicken (Mädchen halt ;-)). Den Vater ziert ein Adlerkopf mit einer "Vokuhila"-Frisur. (Danke an Marie Wolf, dass sie auf dieses Symbol der 90er Jahre nicht verzichtet hat). Der Adler war schon immer ein Symbol der Macht, so dass Marie Wolfs Auswahl für die Vaterfigur mehr als passend ist. (Die Mutter ist im Übrigen die personifizierte Kuh, was mir als Mutter schon ein bisschen weh tut ;-))

    Fazit:
    Hermann Hesse ist immer lesenswert. Seine Erzählung "Kinderseelen" ist ein sehr persönliches Buch, welches demonstriert, dass Kindsein und Kindsein-Lassen in der Welt der Erwachsenen eine fast unlösbare Herausforderung ist, damals wie heute. Die farbenfrohen Illustrationen im Stil der 90er Jahre von Marie Wolf unterstreichen die Zeitlosigkeit dieser Erzählung und gewähren einige Erinnerungsmomente an eine Zeit, in der viele Leser selbst noch Kind waren.
    Ein wunderschönes und immer aktuelles Buch!

    © Renie

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