Kantika
Elizabeth Graver war mir vor der Lektüre von "Kantika" nicht wirklich ein Begriff. Daher ging ich ohne jegliche Erwartungshaltung an die Lektüre des Romans heran. Die Geschichte ist wohl biografisch inspiriert, wobei die Großmutter der Autorin wohl für die Figur der Rebecca als Vorbild fungiert hat. Wir lesen über eine starke, selbstbewusste Frau, die den schwierigen und durchaus für sie und ihre Familie auch gefährlichen Umständen im Europa der 1920er Jahre trotzt.
Zunächst wird ein farbenfrohes Bild von Konstantinopel gezeichnet, wo Rebecca als Tochter eines wohlhabenden Textilunternehmers in privilegierten Verhältnissen aufwächst. Doch der Vater ist leichtsinnig, setzte alles aufs Spiel, während sich für Juden in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts die Stimmung spürbar verschlechtert. Und so kommt es, dass die Familie Rebeccas zunächst nach Spanien, wo sie ihre Wurzeln hat, über Kuba in die USA flüchtet. Es wird deutlich, wie hart Migrationsbiografien sein können. Rebecca hat es nicht leicht, muss vieles entbehren und sich immer wieder neu in der Fremde zurechtfinden. Sie lässt immer wieder wichtige Menschen und Bezugspersonen zurück, lässt sich in der Fremde immer wieder neu auf die bestehenden Herausforderungen ein. Sie heiratet, wird verwitwet, sucht erneut ihr Glück. Rebecca ist eine starke Frau, die allen Widerständen trotzt und mutig ihr Glück sucht und sich immer wieder neu erfindet.
Die Thematik ist im Grunde genommen stets aktuell, doch geht es hier speziell um das Schicksal sephardischer Juden, die aufgrund ihrer Herkunft zu Flucht und Migration gezwungen sind. Bisher habe ich nur ein Werk über sephardische Juden gelesen, so dass ich hier noch Einiges dazu lernen konnte. Gut gefallen hat mir die Schilderung Rebeccas, die wohl ein Musterbeispiel für Resilienzfähigkeit wie auch für weibliche Emanzipation ist. Sicher werde ich noch weitere Werke der Autorin lesen.
Im Konstantinopel des frühen 20. Jahrhunderts lebt Rebecca ein friedliches, ruhiges und durch viele Kontakte und Anregungen ihrer Umgebung bereichertes Leben. Das ist für sie und ihre Familie alles andere als selbstverständlich, denn als jüdische Familie haben sie und ihre Vorfahren immer wieder mit Verfolgungen, Diskriminierungen, Vertreibungen zu tun gehabt. Insbesondere das Land, das sie als ihr Herkunftsland betrachten – Spanien – hat da böse Erinnerungen zurückgelassen.
Rebecca wird in ihrem weiteren Leben diese friedliche Stimmung und Ruhe auch nicht aufrechterhalten können, wird in der Welt herumreisen auf der Suche nach einem Ort, an dem sie ihr Leben selbstbestimmt gestalten kann.
Die Geschichte der Rebecca erzählt Elizabeth Graver in dem Roman „Kantika“ als Familiengeschichte (ausgeschmückt mit authentischen Fotografien der handelnden Personen) und als Geschichte von Migration und Suche nach dem Ort, an dem Leben möglich ist.
Ihre Geschichte verschlägt Rebecca von Konstantinopel/Istanbul aus voller Mistrauen nach Barcelona in das eigentlich so verhasste Spanien, wo die Familie in deutlich ärmeren Verhältnissen lebt als in der türkischen „Heimat“. Doch zunächst immerhin ohne Verfolgung und Gewalt. In der Abgeschlossenheit der jüdischen Gemeinschaft lässt es sich leben. Schwer fällt es aber, einen passenden Ehemann zu finden, denn die Auswahl in dieser kleinen Gemeinschaft ist nicht groß. Und so heiratet Rebecca einen Mann, der ihr keine Sicherheit und Geborgenheit bieten kann, sondern sie mit fadenscheinigen Informationen in die Tiefen der Türkei lockt, ohne dort für sie und die Kinder eine Grundlage für ein Leben zu haben. Als er dann auch noch stirbt, ist Rebecca zumindest frei, wieder zu ihren Eltern nach Barcelona zurück zu kehren. Dort entwickelt sie weiter ihre Aktivitäten und ihre Kreativität. Aber die Zukunftsperspektive „ein Mann an ihrer Seite“ stellt sich für sie nicht ein. Gleichzeitig werden die Verhältnisse in Spanien (unter dem Franco-Regime) für Juden immer unwägbarer und so geht sie auf ein Angebot ihrer Schwester ein, den Ehemann ihrer verstorbenen Jugendfreundin kennenzulernen, um ihn anschließend vielleicht zu heiraten. Nur lebt dieser Mann in New York, am anderen Ende der Welt. Ein Kennenlerntreff wird organisiert in Kuba und dort lässt sich Rebecca tatsächlich darauf ein, mit ihm nach New York zu ziehen, um irgendwann auch die Kinder nachzuholen, die vorerst bei den Großeltern in Barcelona geblieben sind. In New York angekommen, muss Rebecca feststellen, dass die familiären Verhältnisse ihres Partners komplizierter sind als erwartet und berichtet. Die Tochter Luna ist mit einem Paket von körperlichen Gebrechen geboren und zu einem verhätschelten Pflegefall erzogen worden.
An dieser Stelle verlässt der Roman seinen mehrdimensionalen Charakter als Familien– und gleichzeitig Migrationsgeschichte und konzentriert sich vollständig auf die Familiengeschichte rund um Luna, die in diesem Teil auch die Erzählposition einnimmt. Es ist deshalb für mich der schwächste Teil des Romans gewesen. Ich bedauerte das Eindimensionalere und vermisste das Weiterspinnen der jüdischen Migrationsgeschichte, die aber im späteren Verlauf, wenn nach langem Warten auch die beiden Söhne Rebeccas nach New York kommen können und in Spanien das Leben für die verbliebenen Familienangehörigen immer gefährlicher und unwägbarer wird, auch wieder etwas an Fahrt gewinnen kann.
Elizabeth Gravers Roman begeistert durch die Farbigkeit der Situationen, Figuren und Handlungsorte und schafft einen Kosmos jüdischen Lebens, wie er sich ein wenig im Schatten und im Vorfeld der großen Katastrophe des Holocaust in der Welt entwickelt hat. Leseempfehlung mit 5 Sterne!
Die Hardfacts hat Elizabeth Graver der Familiengeschichte ihrer Großmutter Rebecca Baruch Levy (1902-1991) entnommen. Die Softfacts wie z.B. das Innenleben der Protagonisten entspringen der Fantasie der Autorin. „Ich habe historische Ereignisse, Familiengeschichten und Fotografien eingeflochten, aber auch Fakten geändert und bei jeder Gelegenheit frei erfunden.“ (S. 361) Um es kurz zu machen: Diese Kombination ist der Autorin hervorragend gelungen, „Kantika“ ist eine wahre Lesefreude!
Rebecca Cohens Leben beginnt in Konstantinopel. Ihre Familie ist jüdischen Glaubens, stammt zwar ursprünglich aus Spanien, hat sich aber am Bosporus bestens assimiliert, so dass sie sich türkisch fühlt. Vater Alberto genießt seinen ererbten Wohlstand und das Ansehen, das er in der Stadt genießt. Leider lassen seine Fähigkeiten als vorausschauender Geschäftsmann zu wünschen übrig, so dass sich das Familienvermögen kontinuierlich reduziert. Die Autorin zeichnet ein sorgloses, fröhliches Leben dieser Kinderjahre in einer Stadt, die viele Religionen und Nationalitäten beherbergt und sich durch hohe Toleranz auszeichnet.
Doch die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse ändern sich. Zahlreiche Juden verlassen Anfang der 1920er Jahre das Land, die meisten in Richtung USA. Diese Möglichkeit hat Familie Cohen nicht mehr. Ihre Firma wurde enteignet, das verbliebene Vermögen lässt keine großen Sprünge zu. Man ist auf internationale jüdische Hilfe angewiesen, Vater Alberto fühlt sich als Bittsteller, als er sich schließlich dazu durchringt, eine Stelle als Schammes in einer kleinen Synagoge in Barcelona anzunehmen. Der Umzug bringt zahlreiche Veränderungen mit sich, die die Familienmitglieder sehr unterschiedlich empfinden. Rebecca ist eine Kämpferin. Sie jammert nicht, sondern passt sich an und baut sich als Schneiderin eine Existenz auf. Um nicht als alte Jungfer zu enden, heiratet sie auf Anraten ihrer konservativen Eltern den undurchsichtigen Luis, der nicht hält, was sich Rebecca von ihm versprochen hat. Das weitere Leben meint es nicht immer gut mit dieser selbstbewussten, eigenständigen Frau, deren Tradition es verlangt, sich dem Ehemann unterzuordnen. Es gibt weitere dramatische Entwicklungen, bevor sie 1934 schließlich in die USA einreisen kann, wo ein völlig neuer Lebensabschnitt beginnt.
Elizabeth Graver hat ihren Vorfahren Leben eingehaucht. Sie erzählt chronologisch, wechselt dabei aber laufend die Erzählperspektiven, die die Handlung vorantreiben. Kurze Vorschauen erhöhen die Spannung, sensibilisieren und geben dem Text immer wieder neue Aspekte. Die Autorin lässt uns ihre Protagonisten hautnah erleben. Eine Fülle von unterschiedlichen Episoden, Gedanken und Erlebnissen bringen sie uns näher. Jeden einzelnen Charakter lernt man in seiner Vielschichtigkeit kennen, was ihnen einen hohen Grad an Authentizität verleiht. Ebenso viel Sorgfalt wendet Graver für die Gestaltung ihrer Schauplätze auf. Man kann sich die verschiedenen Orte mit ihren Besonderheiten bestens vorstellen. Zudem werden das jeweilige Zeitkolorit, die Bedingungen, unter denen die Menschen leben, in die Handlung eingeflochten. Dasselbe gilt für menschliche Interaktionen und Konflikte. Sämtliche Szenen und Dialoge wirken realistisch und echt, ebenso wie großfamiliäre Verstrickungen. Im Mittelpunkt steht immer Rebecca. Auch wenn wir gegen Ende des Romans einen Ausflug in den zweiten Weltkrieg machen, bleibt die politische Großwetterlage doch weitgehend außen vor.
„Kantika“ ist ein großartiger Familienroman mit einer Frau im Zentrum, die sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu behaupten weiß. Anfangs braucht man etwas Konzentration, um das Figurenkarussell zu sortieren. Bereits im zweiten Kapitel ist man aber angekommen.
Elizabeth Graver erzählt eine Familiengeschichte über rund fünf Jahrzehnte, die genau so hätte stattfinden können. Die Fotografien zu Beginn jedes Kapitels legen das sogar nahe. Die Perspektivwechsel geben den einzelnen Figuren umfassende Konturen. Höhen und Tiefen dieser jüdischen Familie werden fesselnd erzählt, ohne je in Gefühligkeit oder Larmoyanz abzugleiten. Auch individuelle Fehler und Fehlentscheidungen werden nicht ausgespart. Das Ganze wird stilistisch ansprechend in einer kurzweiligen Prosa vorgetragen. Elizabeth Graver hat sich seit ihrem letzten Roman „Der Sommer der Porters“ (2016) enorm gesteigert.
Tolle Erzählkunst! Dafür eine riesengroße Leseempfehlung und fünf hellglänzende Sterne!
Kantika ist ein Roman in dem sehr viel mehr steckt, als man auf den ersten Blick vermutet. Elizabeth Graver stützt sich in diesem Buch aus Erfahrungen aus ihrem eigenen Leben, besser gesagt, sie schildert was ihrer eigenen Großmutter, Rebecca Cohen, widerfahren ist.
Die Handlung beginnt in Rebeccas Kindheit, setzt also Anfang des 20. Jahrhunderts an, und zwar in Konstantinopel. Sie ist die Tochter einer wohlhabenden, sephardischen Familie. Sie genießt die Zeit mit ihrer besten Freundin, und ist sich dabei des Klassenunterschiedes gar nicht bewusst.
Als der Krieg ausbricht, zieht die Familie ihrer Freundin in die Staaten, und gleichzeitig ändert sich auch viel für die Cohens, sie müssen nun mit wenig auskommen. Aus Angst entschließen sich Rebeccas Eltern nach Spanien auszureisen, das Land, das Juden gegenüber eigentlich nicht positiv gestimmt war in der Vergangenheit, bietet
den Rückkehrern die Aussicht auf eine Wiedereinbürgerung an.
In Spanien läuft aber nicht alles so wie gewünscht, sie fühlen sich als Juden auch dort nicht wie zu Hause. Vor allem Beccas Vater hat damit zu kämpfen.
Doch Rebecca versucht das Beste daraus zu machen, und schafft es sogar mit ihrem Talent als Schneiderin Fuß zu fassen.
Als ihre erste Ehe, die gekrönt wird von zwei Kindern, ein tragisches Ende nimmt, zieht sie wieder zu den Eltern, bis die ersten Vorboten neues Unheil ankündigen in Form des zweiten Weltkrieges.
Im weiteren Verlauf dieser einfühlsamen Geschichte, wird der Leser in einer Strudel an Emotionen und Ereignissen geworfen. Rebecca wandert aus, das Schicksal beschert ihr einiges Gutes, doch es ist auch ein steiniger Weg, der für sie nicht immer leicht war.
Die Autorin hat mich mit dieser Lebensgeschichte wirklich fesseln können. Ich habe die Handlung sehr gerne verfolgt, und mit Rebecca mitgelitten. Eine starke Frau, die sich nicht unterkriegen ließ. Der Erzählstil und das Tempo sagten mir auf jeden Fall zu. Die geschichtlichen Hintergründe sind teilweise Neuland, teilweise bekannt, doch sie fließen eher nebenher ein. Der Fokus liegt definitiv bei den Charakteren und deren Hürden, die sie in dieser schweren Zeit zu meistern hatten.
Da mir Kantika so gut gefallen hat, werde ich sicher demnächst zu einem anderen Buch der Autorin greifen. Von mir gibt es daher eine klare Leseempfehlung!
„Kantika“ singt das Lied des Lebens der Großmutter der Autorin Elizabeth Graver; zumindest die erste Hälfte der Strophen, denn am Schluss Romans – so viel darf verraten werden – ist die Protagonistin des Romans noch nicht einmal 50 und dem sehr anrührenden Dankeswort darf man entnehmen, dass Rebecca noch sehr viele Jahre zu leben hatte, nachdem die Handlung des Romans geendet hat.
Rebecca Cohens bewegtes Leben beginnt als Tochter eines gutsituierten Unternehmers im kosmopolitischen Konstantinopel der Jahrhundertwende. Weltoffenheit und das Verschmelzen von Kulturen und Religionen prägen ihre Kindheit und Jugend bis sich das wirtschaftlich-politische Klima mit dem Ersten Weltkrieg ändert und der Vater nicht mehr in der Lage ist, die Familie in der Türkei zusammenzuhalten und zu ernähren und den widerwilligen Aufbruch nach Spanien wagt. Hier entwickelt sich Rebecca zur eigenständigen Frau, trifft aber auch eine schwerwiegende Fehlentscheidung, welche jedoch im großen Lied des Lebens Sinn macht und ohne die sie vielleicht nie in die USA ausgewandert wäre.
Elizabeth Graver gelingt es mit ihrer mitunter etwas distanziert-kühlen Erzählweise den außergewöhnlichen Lebensweg ihrer Großmutter nachzuzeichnen, ihre Entscheidungen, Gefühle, Ängste, Sorgen und vor allem auch ihre Entwurzelung und ihre Suche nach dem Ankommen darzustellen ohne je ins Sentimentale, Triviale oder ins Klischee abzugleiten. Wer nach einem üppig-leichten historischen Roman sucht, wird bei „Kantika“ nicht fündig, der Roman ist alles andere als kitschig und bequem und gerade in den ersten Kapiteln mit seinem etwas eigenwilligen Stil durchaus fordernd, denn Graver erzählt in Schlaglichtern, die räumlich und zeitlich durchaus weiter auseinanderliegen können. Der historische Kontext dräut dabei nur ganz entfernt am Horizont, man braucht schon ein wenig Hintergrundwissen um sich im weltpolitischen Rahmen zurechtzufinden und die Geschichte der sephardischen Juden zumindest ein wenig einordnen zu können.
Das Interesse des Romans liegt auch nicht auf der Vermittlung von historischem Wissen, sondern auf wesentlichen Meilensteinen und erzählenswerten Passagen aus Rebeccas Leben und doch ist der Text keinesfalls episodenhaft, denn Graver versteht es ganz ausgezeichnet, ihre Erzählbögen zu spannen, der rote Faden wird nie aus den Augen gelassen und die überaus authentische Entwicklung Rebeccas ist zumindest in den ersten 2/3 des Romans der Dreh- und Angelpunkt der Handlung. Danach wird das Zepter an ihre Kinder Luna und David übergeben, was die Darstellung Rebeccas zwar um weitere Aspekte bereichert, gleichzeitig aber die Wahrnehmung Rebeccas auf die Mutterrolle verengt. Auch wenn ich die Entscheidung der Autorin sehr gut nachvollziehen kann, habe ich persönlich es doch etwas schade gefunden, dass durch den Wechsel der Fokalisierungsinstanzen ein Frauenleben ab Anfang 30 wieder sehr stark in gewohnte Bahnen überführt wird. Rebecca ist in den Kapiteln, die aus Luna und Davids Sicht erzählt werden zwar immer noch präsent, aber sie rutscht etwas in den Rand, so als ob mit dem Heranwachsen der jungen Generationen über die Frau, deren Entwicklung man mit großem Interesse bis hierhin verfolgt hat, nun nichts mehr zu berichten wäre, außer der Tatsache, wie sie ihre Mutterrolle ausfüllt.
Überaus begeistert hat mich indes die sehr überzeugende und tragfähige Metapher des Gartens, die sich als verbindendes und illustrierendes Mittel durch den Roman zieht, Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Heimat und Fremde, Verzweiflung und Hoffnung schlägt und äußerst dosiert und elegant in die Handlung eingeflochten wird – für mich funktionierte diese Idee fast noch besser als das titelgebende Motiv des Liedes.
Ich habe diesen Roman äußerst gern gelesen, er bietet ein sehr faszinierendes und begeisterndes Leseerlebnis, eine Reise durch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, einen Blick auf ein in seinen Emotionen und Herausforderungen wohl nicht ungewöhnliches Auswandererschicksal, das aber geographisch auf eher unbekannten Wegen wandelt. Ein ansprechendes und überzeugendes Leseerlebnis, das auf der Familiengeschichte der Autorin basiert und durch Fotos Authentizität einfordert, dabei aber höchst einfühlsame und überzeugende Fiktion ist.
Kurzmeinung: Literarische Entwicklung einer Autorin vom Feinsten!
Die Autorin liebt es, ihre Sujets in historische Gegebenheiten einzubinden, ohne jedoch gleich einen historischen Roman zu schreiben, sie bleibt ganz bei ihren Figuren.
Ich habe von Elizabeth Graver bereits „Der Sommer der Porters“ gelesen („The end of the point”) und hatte damals zahlreiche Kritikpunkte, weswegen meine Erwartungen gegenüber dem neuesten Roman von ihr, „Kantika“, nicht besonders hoch waren. Doch die Autorin hat, gemessen an ihren früheren Werken, literarisch sehr gewonnen. The end of the point ist eingebunden in das Geschehen des Zweiten Weltkrieges, „Kantika“ siedelt Elizabeth Graver nicht weit davon entfernt, aber deutlich früher an. Ihre Figuren agieren von 1907 bis 1950.
Die Person, die uns durch die Gesamtheit des Romans führt, ist Rebecca Baruch Levy, geborene Cohen. Sie ist die Tochter eines türkischen, wohlhabenden jüdischen Ehepaars, das in Istanbul zuhause ist. Der Vater ist nicht besonders begabt als Unternehmer und verspielt durch Unachtsamkeit und Gleichgültigkeit einen Großteil des Vermögens. Trotzdem wird Rebecca ein Leben lang von den turbulenten Straßenszenen Istanbuls wie auch dem familiären Hintergrund einer funktionierenden Großfamilie zehren. Die Istanbuler Atmosphäre hat die Autorin mit schlichten Strichen hervorragend eingefangen.
Als die Zeiten für die jüdische Bevölkerung schlechter und gefährlicher werden, emigriert die Kernfamilie nach Spanien, Barcelona. Das ist ein erzwungener, den Umständen geschuldeter Umzug mit Verlusten: Menschen werden für immer zurück gelassen, das soziale Ansehen sinkt in den Keller, der Wohnraum wird beschränkter, das gewohnte Umfeld ist weg, das neue ganz anders und muss erst erobert werden. Es ist ein gesellschaftlicher Abstieg; der der Emigration zugeschrieben wird, aber der Vater Rebeccas gesteht sich ein, dass der finanzielle Niedergang vor allem zu seinen Lasten geht. In diesem Abschnitt lässt die Autorin tief in das Herz des Vaters blicken und liefert eine perfekte Charakterisierung eines zwischen Anspruch und Wirklichkeit zerrissenen Menschen. Es dauert bis der alte Herr mit seinen Unzulänglichkeiten Frieden schließt. Ich mag ihn, er ist ein typischer gutmütiger, reicher Schlaffi, dessen angeborene Egozentrik durch das Patriarchat ungut verstärkt wurde, einer, der eigentlich nur das Leben genießen wollte, allerdings meint, dass ihm dies auch zusteht und nun gezwungen ist, kleine Brötchen zu backen und die Kehrschaufel selber in die Hand zu nehmen. Was er auch tut, bevor er wieder melancholisch auf dem Kanapee zusammenbricht. Gewisse Oblomowsche Züge sind nicht abzustreiten. Oblomow hätte sich freilich nie zu Gartenarbeit überwinden können, eine Tätigkeit, die Rebeccas alten Herrn tröstet. Und die Synagoge. Synagoge gehört zu jüdischem Leben wie Zucker in die Torte.
Die Familie macht trotz allem das Beste aus den Umständen, die Alten jammern nur heimlich. Naturgemäß kommen die Kinder am besten mit dem Neuen klar. Rebecca genießt Freiheiten, die sie als jüdisches Mädchen in der Türkei nicht hatte und wird Kleinunternehmerin mit fünf Angstellten, bevor es sie auf einigen Umwegen in die Staaten verschlägt. Dort ist sie äußerlich in Sicherheit vor den Schikanen und Verfolgungen durch die Nazis. Doch der Preis für ihr Glück ist hoch.
Der Kommentar:
Die Autorin arbeitet an dem Leben ihrer Großmutter entlang. Vielleicht ist sie deshalb den Figuren so nahe und vielleicht wirkt deshalb ihr Personal so authentisch.
Die Familie Cohen ist resilient. Das macht dem Roman so sympathisch. Sie sind im Grunde genommen alle keine Helden, werden aber durch das Leben gezwungen, welche zu sein. Dabei geht es nicht ohne Verluste ab, was wiederum ein Plus auf dem Konto Authentizität ist. Rebecca verliert zweimal ihre Heimat und zweimal ihre Wurzeln. Sie muss mit zahllosen Schwierigkeiten kämpfen, an denen manche zerbrochen wären. Ihr Pragmatismus, mit dem sie sich durch widrigste Umstände kämpft, ist dennoch authentisch. Was ihr hilft, ist ein starker Glaube an Gott. Das jüdische Leben bleibt in ihrem Leben das Zentrum und tröstet sie. Sie bleibt aber weder vor Depressionen noch von persönlichen Erschütterungen verschont.
Die Einbettung in die Historie ist der Autorin bei „Kantika“ gelungen. Es sind dezente Verwebungen, die jedoch oft den Lebensweg erklären; zum Beispiel, dass Rebeccas Kinder, als sie erwachsen sind, für ihr neues Land in der amerikanischen Armee kämpfen, wie die Politik in Spanien die Juden in ein Schattenreich zwingt, etc. etc. Alles literarisch Unvorteilhafte, was ich Elizabeth Graver in „The end of the point“ ankreidete, hat sie in „Kantika“ ausgemerzt, es gibt nun eine gelungene Figurenführung, Entwicklung tiefer Charaktere, nachvollziehbare Motive und Handlungen, das Sprunghafte in der Erzählung ist verschwunden. Stilistisch war die Autorin schon immer gut.
Fazit: Eine gelungene Erzählung jüdischen Lebens Anfangs- und Mitte des 20. Jahrhunderts, die mitunter ans Herz geht, aber nicht kitschig ist. Ich bin sehr angetan.
Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
Verlag: Mare, 2024
Rebecca wächst in Wohlstand und Geborgenheit auf, ihrer Freundin Livka ist sie eng verbunden - bis die politische Situation sich grundlegend ändert und Kemal Atatürk in der Türkei die Macht ergreift. Das Leben wird für Rebeccas Familie in Konstantinopel schwierig, viele jüdische Bewohner des Landes suchen nach Möglichkeiten, das Land zu verlassen. Rebeccas Eltern gehen nach Barcelona - nach einer eher unglücklichen Ehe und einer frühen Witwenschaft führt Rebeccas Weg sie weiter nach Havanna und New York. Erneut ist es eine arrangierte Ehe, die ihr weiteres Leben bestimmt.
Das Buch der amerikanischen Autorin beleuchtet - wenn auch mit fiktiven Elementen- das wahre Leben ihrer Großmutter, die als Einwanderin in den dreißiger Jahren nach NY kam. Vor allem der erste Teil der Geschichte ist farbenprächtig und sehr lebhaft erzählt, man spürt viel von der Atmosphäre in Konstantinopel. Jüdisches Familienleben und Tradition schimmern durch, ich habe mitgefiebert und mitgefühlt. Mit Rebeccas Umzug nach NY änderte sich der Ton der Story leicht, jetzt prägen die Rivalitäten einer Patchworkfamilie und die Eingewöhnungsprobleme der ausgewanderten Rebecca die Geschichte. Hinzukommen die Schwierigkeiten, die Rebecca im Umgang mit ihrer behinderten Stieftochter hat - kein leichtes Leben! Ein Buch, das zu lesen sich lohnt, auch wenn mir persönlich der erste Teil noch besser gefällt als der zweite Teil.
„Es ist die schöne Zeit, die Zeit der ausgebreiteten Flügel, der Freudensprünge und offenen Türen, das Leben ein haltloser Fluss von hier nach dort. Es ist die vorgedankliche Zeit, die Welt noch nicht als Listen wahrgenommen, nicht als Rückblick oder Futur, sondern als inbrünstige Musik – kantas, singen.“ (Zitat Seite 9)
Inhalt
Rebecca wächst in Istanbul behütet und finanziell privilegiert auf, ohne dies wirklich zu bemerken. Bis sich am 14. November 1914 alles ändert. Die Familie wird gezwungen, nach Spanien auszuwandern, wo sie in Barcelona einen Neubeginn versuchen. Bisher Inhaber eines Textilunternehmens ist Alberto, Rebeccas Vater und das Familienoberhaupt nun Hausmeister der kleinen Synagoge. Rebecca ist bereits vierundzwanzig Jahre alt, als sie endlich den größten Wunsch ihrer Eltern erfüllt, sie heiratet. Bald darauf ist sie eine junge Witwe mit zwei Kindern. Auch die zweite Ehe wird von der Familie arrangiert und führt sie nach New York. Die Zeiten sind für Juden gefährlich geworden und diese Heirat ist die Hoffnung für die Familie auf eine Einreise in die sicheren Vereinigten Staaten.
Thema und Genre
In diesem Generationenroman geht es um Kulturen, Religionen, Heimat und den Verlust der Heimat, Vertreibung, Familiengefüge, Frauenleben-
Erzählform und Sprache
Da dieser Roman fiktiv-biografisch ist und die Familiengeschichte der Autorin betrifft, gibt er wesentliche, interessante Einblicke in das Leben der jüdischen Familien in dieser Zeit. Im personalen Mittelpunkt der Geschichte steht Rebecca, der Großmutter der Autorin. Geschildert wird ihr wechselvolles Leben mit schicksalhaften Wendungen und großen Veränderungen. Sie ist beeindruckend, einerseits ist sie eine selbstbewusste Frau, die eigenständig für sich und ihre Kinder sorgt, andererseits wird sie durch den Vater als Oberhaupt der Familie zwei Mal in reine Zweckehen getrieben. Interessant werden die späteren Kapitel, wo der personale Mittelpunkt wechselt und Luna, die Tochter von Sam, Rebeccas zweitem Ehemann, Rebecca aus ihrer Sicht schildert. Es sind die Menschen, die im Mittelpunkt dieser Geschichte stehen. Interessant sind die Schilderungen, die Geschichten und dieses leichte Wechseln zwischen den Religionen Judentum und Christentum am Beispiel von Rebecca in Konstantinopel. Leider rückt mit Barcelona die Situation der Familie immer mehr in den Vordergrund und wir erfahren wenig über die allgemeine, gesellschaftspolitische Situation in Barcelona und noch weniger über das Leben in der lebhaften, interessanten Stadt New York der 1930er Jahre. Die Sprache ist angenehm zu lesen und passt zu diesem epischen Generationenroman
Fazit
In Generationenroman über Heimat und Verlust der Heimat, über Hoffnung und Neubeginn in fremden Ländern, anderen Kulturräumen und neuen Sprachen. Obwohl in den Traditionen im Familiengefüge die Männer, Väter und Ehemänner, die Entscheidungen treffen und bestimmen, was geschieht, sind es in dieser Geschichte die Frauen, jede auf ihre Art stark und mutig, die sich den immer wieder neuen Herausforderungen des Lebens stellen.
Eine autofiktionale Familiengeschichte...
Elizabeth Graver hat mit dieser Familiengeschiche ihrer Großmutter Rebecca Cohen ein Denkmal gesetzt. Der Klappentext verrät schon die Stationen ihres Lebens, eines Lebens im Exil. Im Nachwort verrät die Autorin, dass sie oftmals die realen Namen verwendet, historische Fakten sowie die Ereignisse in ihrer Familie in die Erzählung eingeflochten hat, dass jedoch die Gefühls- und Gedankenwelt der Figuren Elizabeth Gravers Fantasie entspringt und dass sie auch Fakten geändert und frei erfunden hat. Eine klassische autofiktionale Geschichte also.
Rebecca Cohens Familie gehört zu den Sepharden, lt. Wikipedia die "Bezeichnung für Juden, die sich nach ihrer Vertreibung von der Iberischen Halbinsel (Spanien 1492 und Portugal ab 1496) zum größten Teil im Herrschaftsgebiet des Osmanischen Reiches und in Nordwestafrika (Maghreb) niederließen, und ihren Nachfahren." Als Kind wächst sie wohlbehütet in Konstantinopel auf, ihr Vater ist der Besitzer einer kleinen Firma, die Haltung ist allgemein eine offene, sowohl kulturell als auch sprachlich. So besucht Rebecca als jüdisches Kind eine katholische Schule, in der überwiegend Französisch gesprochen wird. Das ändert sich, als der Erste Weltkrieg ausbricht, Rebeccas Vater muss die Firma verkaufen, die Lage im Land spitzt sich zu, viele Juden fliehen - und schießlich bricht auch Rebeccas Familie auf.
Das Ziel ist Spanien, ausgerechnet, das Land, aus dem ihre Vorfahren einst vertrieben wurden. Und auch jetzt ist die Lage nicht wirklich judenfreundlich in Barcelona. Doch gerade Rebecca, nun eine junge Frau, findet mit ihrem Faible für Mode und ihrem näherischen Geschick einen Platz in dieser Stadt. Sie heiratet, wobei die Auswahl unter jüdischen Männern nicht wirklich gegeben ist, bekommt zwei Kinder - und der Mann stirbt. Wieder spitzt sich die Lage für die Juden zu, Rebecca ergreift die Gelegenheit und bucht eine Schiffspassage nach Kuba. Dort kann sie womöglich den Mann ihrer mittlerweile verstorbenen besten Freundin heiraten - wenn es denn passt. Geld für die Rückfahrkarte hat Rebecca - eingenäht in diverse Kleidersäume - sicherheitshalber dabei, doch sie entscheidet sich anders. Von Kuba geht es schließlich in die USA, erneut ein Versuch, Wurzeln zu fassen...
Die Autorin begleitet in ihrer Erzählung überwiegend die Figur ihrer Großmutter Rebecca Cohen, doch zwischendurch wechselt die Perspektive hin zu einem anderen Familienmitglied. Dadurch wird es ein Mehrgenerationenbuch, springt immer wieder in Zeiten und Orten, und man erhält so auch von außen einen Blick auf die Person Rebecca. Das alles war nicht uninteressant, jedoch hätte mir der anhaltende Fokus auf Rebecca besser gefallen. So geriet ich immer wieder aus dem Lesefluss, es kam mir keine der benannten Figuren wirklich nah, da blieb stets eine unüberbrückbare Distanz, und insgesamt blieb ich auch emotional recht unbeteiligt.
Zudem hatte ich hier einen deutlicheren Schwerpunkt erwartet was die historischen Gegebenheiten anbelangt. Dies ist tatsächlich kein historischer Roman, sondern in erster Linie eine jüdische Familiengeschichte, die lose im zeitlichen Geschehen verankert ist. Oftmals belässt es Elizabeth Graver bei Andeutungen - vermutlich wäre die Erzählung ansonsten zu sehr ausgeufert. Trotzdem hätte ich mir einige intensivere Einblicke in bestimmte historische Ereignisse gewünscht.
Die Autorin hat zu Beginn jeden Kapitels ein Foto aus dem Familienalbum eingefügt, was ich sehr gelungen und authentisch fand. Ich habe zwischendurch immer wieder einmal zurückgeblättert, weil die Bilder tatsächlich auch einen schönen Bezug zum Text haben.
Ein Roman zu Ehren der Großmutter der Autorin, die immer wieder vertrieben wurde und doch nicht aufgab, ihren Platz im Leben zu finden. Freunde von Familiengeschichten werden hieran sicherlich Vergnügen finden...
© Parden