Juli, August, September: Roman
Olga Grjasnowas neuer Roman “Juli, August, September“ ist den Monaten im Titel entsprechend in drei Abschnitte unterteilt. Im ersten berichtet Ich-Erzählerin Ludmilla genannt Lou über ihr Leben in Berlin. Sie ist in zweiter Ehe mit dem Pianisten Sergej verheiratet, der wegen der zahlreichen Konzerte nur wenig Zeit zu Hause mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter Rosa verbringt. Das Ehepaar hat jüdische Wurzeln, aber die Religion spielt in ihrem Leben keine große Rolle. In erster Ehe war sie für kurze Zeit mit David verheiratet, der sie dann plötzlich verließ, weil er die Religion für sich entdeckt und nach Israel ausgewandert war. Lous weitverzweigte Familie stammte aus der ehemaligen Sowjetunion und wanderte zum großen Teil nach Israel aus. Man kennt und versteht sich nicht sehr gut. Deshalb zögert Lou zunächst, als ihre Mutter vorschlägt, an einem großen Familientreffen auf Gran Canaria teilzunehmen. Maya, die jüngere Schwester von Lous verstorbener Großmutter Rosa, will dort ihren 90. Geburtstag feiern. Über dieses Treffen berichtet Lou im zweiten Abschnitt. Die Begegnung der Familienmitglieder verläuft alles andere als harmonisch. Maya erfindet ihre eigene Version der Vergangenheit, in der sie sich besonders vorteilhaft präsentiert. Lou ist schnell klar, dass hier viele Lügen erzählt werden. Sie will die Wahrheit wissen und stellt viele Fragen, bekommt aber längst nicht immer eine Antwort. Was genau hat Großmutter Rosa erlebt, und warum musste Urgroßvater Boris sterben? Weil ihr all das keine Ruhe lässt, fliegt Lou im dritten Teil nach Israel, fragt erneut die widerstrebende Maya aus und besucht eine Gedenkstätte. Bei ihrer Rückkehr muss sie sich um eine Annäherung an ihren Mann bemühen, der offensichtlich gerade eine Krise durchlebt.
Grjasnowas Roman liest sich gut und gefällt mir aus verschiedenen Gründen. Er gewährt einen Einblick in jüdisches Leben in Vergangenheit und Gegenwart, vor allem beschäftigt er sich mit der Frage, was Familie ausmacht und wie sich die eigene Identität definiert. Auch sprachlich hat mich das Buch überzeugt. Deshalb spreche ich eine unbedingte Empfehlung aus.
Lou ist promovierte Kunsthistorikerin und Mutter. Nachdem sie von ihrem ersten Mann verlassen wurde, der sich dem Studium seiner Religion widmen wollte, ging Lou möglichst weit weg. Sie schrieb sich an der Columbia ein und zog nach New York, wo sie Sergej kennenlernte. Obwohl sie nahezu ein Paar waren, fehlte die letzte Konsequenz, denn Lou wollte sich nicht mehr binden. Da Sergej weltweit Konzerte gab, verloren sie sich aus den Augen.
Erst nach ihrem Studium trafen sie sich in Berlin wieder und bekamen ihr erstes Kind. Lous Mutter kam mit Lou aus Aserbaidschan nach Berlin. Sie arbeitete als Klavierlehrerin und konnte sich eine kleine Wohnung leisten. Jetzt lebt Lou mit Sergej in seiner großzügigen Altbauwohnung und es fehlt ihr an nichts, deshalb fühlt sie sich manchmal wie eine Betrügerin, die sich etwas erschlichen hat, das ihr nicht zusteht. Genau dieses Gefühl gibt ihr ihre Schwiegermutter, als wäre Lou nicht gut genug für ihren Sohn.
Wenn Sergej sich auf seine Konzerte vorbereitet, taucht er tagelang ab und ist kaum ansprechbar. Bei seinem letzten Auftritt bekam er im Angesicht des Publikums und dem Wissen über dessen Erwartungen solche Atemnot, dass er fürchtete ohnmächtig zu werden. Und dann wird Lous Großtante neunzig und Lous Mutter will unbedingt, dass Lou sie zu der Feier begleitet.
Fazit: Olga Grjasnowa hat einen leichten Unterhaltungsroman geschaffen. Die Protagonistin ist Jüdin, die, wie der Rest der Familie in der ehemaligen Sowjetunion aufgewachsen ist. Während der Rest der Familie nach Israel zieht, geht ihre Mutter mit ihr nach Berlin und fortan sind die beiden die Außenseiter. Während Lous Mutter um ihre Existenz kämpfte, haben die anderen in Israel ihre schicken Appartements, auf dem Grund, der ihnen nicht gehört, abbezahlt und lassen es sich gut gehen. Missgunst ist der innerfamiliäre Tenor und Scham über die Schande, die der Großvater über alle hat hereinbrechen lassen. Die Autorin versucht recht schwere Themen abzuarbeiten, bleibt dabei aber im Oberflächlichen verhaftet. Die flockige Sprache kaschiert das Tragische und war mir zu flach. Da sich der Roman jedoch gut liest, kann ich mir vorstellen, dass er bei den Leser*innen, die leichte Literatur bevorzugen, gut ankommen wird.
Kurzmeinung: Man muss sich mit seiner Herkunft auseinandersetzen. Es geht nicht anders.
London. Las Palmas. Jerusalem. So hätte der neue Roman von Olga Grjasnowa auch heißen können, denn ihre Protagonistin Lou, Galeristin und studierte Kunsthistorikerin, verbringt je einen Monat in diesen Städten, wobei London ihr Lebensmittelpunkt ist. Den Titel : Juli August September mag ich gerne - er bringt Sommerhitze und Sommerfeeling in den Roman.
Die Autorin setzt das Dilemma liberaler jüdischer Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder sehr gut in Szene: jüdisches Brauchtum wird nicht mehr gelebt und die Kinder kommen nicht automatisch zu Hause damit in Berührung. So wissen sie gar nicht mehr, dass sie Juden sind. Man will seine Kinder schützen und die Auseinandersetzung mit dem Holocaust kann für ein Kind traumatisch sein. Trotzdem sollten sie doch Bescheid wissen oder nicht?
Aber dieser Zwiespalt ist in dem Roman leider nur ein Nebenaspekt. Lou hat Probleme. Sie hätte eigentlich wissen müssen, was sie tut, als sie einen Musiker ehelichte. Musiker sind von einem anderen Stern. Nun beklagt sie sich darüber, dass Sergej für die Musik lebt. Ja, so was tun Musiker! Außerdem kann Lou die Fehlgeburt ihres zweiten Kindes von vor zwei Jahren nicht verkraften und hat sich beruflich eine Auszeit genommen, um ein Buch zu schreiben, das nie fertig wird. So hat sie Zeit mit ihrer weitläufigen in Israel lebenden Verwandtschaft anlässlich eines 90jährigen Geburtstages auf Cran Ganaria abzuhängen, wo gefeiert werden soll, und schließlich hängt sie noch eine Zeit in Jerusalem an, um, ja, um was eigentlich? Ich habe keine Ahnung. Um "die Wahrheit" herauszufinden, auf der sie letztlich dann doch nicht besteht?
Der Kommentar und das Leseerlebnis:
Der Roman ist gut geschrieben, keine Frage, etwas anderes würde mich bei Olga Grjasnowa in Erstaunen versetzen. Aber was will sie mir mit diesem Roman sagen? Dass jüdische Identität schwierig ist, vor allem, wenn man seinen Lebensmittelpunkt im Ausland hat und nicht religiös ist? Das ist keine umwerfende Erkenntnis. Dass die Überlebenden bestimmen, was Geschichte ist und dass die Vertauschung von Opfer/und Heldenrolle in deren Erzählungen manchmal zur Aufarbeitung eines Traumas hilfreich sein kann? Geschenkt.
Lou ist eine diffuse Person, als Mutter wird sie keinen Orden bekommen, als Ehefrau hat sie keine Ahnung, was in ihrem Mann vor sich geht und steht ihm in einer beruflichen Krise nicht bei, als Jüdin weiß sie auch nicht, wo sie steht, zu Israel hat sie keinen Bezug. Ihre Beziehung zu England wird nicht einmal thematisiert.
Fazit: Mir fehlt ein echter Schwerpunkt in dieser Alltagsgeschichte, von Leuten, die ganz normale Probleme haben, aber halt "nebenbei" auch noch Juden sind. Die einen nur nominell, die anderen etwas ernsthafter. Viele Themen werden angerissen, jedoch intellektuell weder vertieft noch intensiv in Bezug zum Judentum gesetzt. Alles steht ziemlich wahllos nebeneinander. Eigentlich eine banale Geschichte, beziehungsweise eine, die an der Oberfläche bleibt, anstatt tiefer zu schürfen. Ich habe von dieser Autorin wesentlich mehr erwartet.
Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
Erscheint bei Hanser Berlin am 17.09.2024
Die 1984 in Baku, Aserbaidschan, geborene Autorin ist eine feste Größe im deutschen Literaturbetrieb. Ihr Debut „ Der Russe ist einer, der Birken liebt“, 2012 erschienen, war ein großer Erfolg und wurde auch von der Kritik gefeiert. Mit elf Jahren, nach dem Zerfall der Sowjetunion, kam sie mit ihrer russisch-jüdischen Familie nach Deutschland. Zur Zeit arbeitet sie als Professorin am Institut für Sprachkunst der Universität Wien. „ Juli, August, September“ ist ihr fünfter Roman.
Lou, die Ich-Erzählerin , lebt mit ihrem zweiten Mann Sergej und ihrer fünfjährigen Tochter Rosa, benannt nach ihrer Großmutter, in Berlin. Sergej ist als gefragter Pianist sehr viel unterwegs und ist er zuhause, muss er üben und ist kaum ansprechbar. Lou fragt sich deshalb zu Recht, ob sie überhaupt noch ein Paar sind.
Beide sind russisch-stämmige Juden, aber der Glaube spielt in ihrem Alltag kaum eine Rolle. Lou überlegt, ob sie ihrer Tochter nicht mehr von ihrer jüdischen Identität vermitteln sollten. Ihr Mann winkt lachend ab: „ Juden haben keine Wurzeln, Juden haben Beine.“
Aber Lou lässt der Gedanke keine Ruhe. Deshalb ist sie auch bereit, zusammen mit Rosa und ihrer Mutter zum 90. Geburtstag von Großtante Maya nach Gran Canaria zu fliegen. Dort will die israelische Verwandtschaft gemeinsam feiern. Die weit verzweigte Familie ist aus Russland nach Israel ausgewandert. Nur Lou und ihre Mutter leben in Deutschland. Während die Familie in Israel mittlerweile ein gut situiertes Leben führen, muss Lous Mutter mit einer kleinen Rente auskommen, „ denn die Arbeitsjahre der Russlanddeutschen in der Sowjetunion wurden angerechnet, die der Juden nicht.“
Dazu ist es in Israel einfacher, seine jüdische Identität zu leben. Das Aufeinandertreffen auf der Kanarischen Insel ist deshalb nicht unbelastet.
Der größte Streitpunkt aber sind die Geschichten von Maya über ihre Kindheit und Jugend in der Sowjetunion. Denn ihre Erinnerung weicht stark ab von den Erzählungen der verstorbenen Großmutter Rosa. „ Maya war die letzte Zeugin, und sie veränderte die Geschichte vom Überleben nach ihren Bedürfnissen. …Sie manipulierte die Erinnerung und war doch zugleich die Einzige, die sich überhaupt noch erinnern konnte.“
Um herauszufinden, was wirklich passiert war, reist Lou deshalb nicht mit Mutter und Tochter nach Deutschland zurück, sondern fliegt nach Israel, um dort Antworten zu finden auf ihre Fragen.
Olga Grjasnowa lässt hier eine Frau zu Wort zu kommen, die sich über vieles im Unklaren ist. Ist ihre Ehe noch zu retten? Wann begann die Entfremdung zwischen ihr und ihrem Mann? War die Fehlgeburt, über die Lou nicht hinwegkommen kann, einer der Gründe dafür oder liegt es an Sergejs beruflicher Krise?
Neben diesen ganz privaten Problemen werden aber auch Fragen nach jüdischer Identität aufgegriffen. „ Wir geben uns so viele Mühe für eine Religion, obwohl wir nicht an Gott glauben, für eine Vergangenheit, an der kaum etwas gut war, für eine Zukunft, die maximal ungewiss ist, und für eine Identität, die wir selbst nicht mehr verstehen.“ so resümiert die Protagonistin.
Daneben erfahren wir vom Aufwachsen einer russisch-stämmigen Jüdin in Deutschland. Auf Lou lastet eine große Hypothek, denn ihr Erfolg muss all die Entbehrungen und die Arbeit ihrer Mutter rechtfertigen. „ Ihre Immigration bedeutete, dass sie ihr Leben gegen meine Zukunft eingetauscht hatte, und ich war ihr diese Zukunft schuldig….Also versuchte ich ihr zu beweisen, dass ihr Opfer nicht umsonst war, sei es durch meine Ausbildung, meine Ehe oder meine Karriere.“
Berührend ist vor allem das grausame Schicksal von Rosa und Maya, das Olga Grjasnowa in einer kurzen Binnenerzählung darstellt. Auch in der Sowjetunion gab es einen Genozid an den Juden.
Wie der Titel schon andeutet, ist der Roman in drei Teile gegliedert, wobei der erste ( Juli ) in Deutschland spielt, der zweite ( August ) auf Gran Canaria und der letzte ( September) in Israel.
Die Ich- Perspektive ermöglicht eine eindrückliche Innensicht der Gefühls- und Gedankenwelt der Protagonistin und dadurch kommt man ihr sehr nahe. Glaubhaft und nachvollziehbar werden ihre Probleme und ihre Ängste beschrieben, ebenso die Fragen, die sie umtreiben.
Dazwischen gestreut finden sich hin und wieder kurze Bemerkungen zur aktuellen Situation, sowohl in Deutschland als auch in Israel.
„ Juli, August, September“ ist ein sprachlich überzeugender Roman, der viele Denkanstöße liefert und zugleich ein interessantes Porträt einer modernen jüdischen Familie.
Wer bin ich, und wer will ich sein?
Ich-Erzählerin Lou, eigentlich Ludmilla, ist Kunsthistorikerin und lebt mit ihrem Mann Sergej, einem erfolgreichen Pianisten, in Berlin. Ursprünglich stammt die Familie aus der ehemaligen Sowjetunion. In den 90er Jahren wanderte der größte Teil der Familie nach Israel aus, Lous Mutter mit ihrer Tochter jedoch als einzige nach Berlin. Lous Ehe ist nicht glücklich. Ihr Mann gibt ständig irgendwo Konzerte und verbringt wenig Zeit mit seiner Frau und der kleinen Tochter Rosa. Lou schreibt seit langer Zeit an einem Buch, mit dem sie nicht vorankommt. Auch ihr Mann durchlebt eine Krise. Dann bittet Lous Mutter sie eines Tages, die Einladung zu einer großen Familienfeier in einem All-Inclusive-Hotel auf Gran Canaria mit ihr zusammen anzunehmen, wo der 90. Geburtstag von Lous Großtante Maya, der jüngeren Schwester ihrer verstobenen Großmutter Rosa gefeiert werden soll. Nach einigem Zögern stimmt Lou zu. Man kennt sich kaum oder gar nicht, und es gibt bei diesem Treffen viele Spannungen und Missverständnisse. Lou hört sich Mayas Version der Vergangenheit an und staunt über die vielen Lügen von Maya und den anderen. Es scheint eine Menge zu geben, was sie nicht weiß, vor allem nicht die Ursache für das schlechte Verhältnis der Schwestern Rosa und Maya. Lou beschließt, nach Israel zu reisen, um endlich Antworten auf all ihre Fragen zu bekommen.
Die drei Monate des Titels spiegeln nicht nur die zeitliche, sondern auch die räumliche Abfolge: Berlin, Gran Canaria, Israel. Der Leser verfolgt, wie Lou sich mit ihren jüdischen Wurzeln auseinandersetzt, sich fragt, was genau ihre Identität ausmacht und welche Rolle jüdisches Leben und Religion bei der Erziehung ihrer Tochter spielen sollten. Das ist interessant und packend dargestellt und hat mir gut gefallen – allerdings nicht ganz so gut wie vor Jahren “Der Russe ist einer, der Birken liebt.“