Josses Tal: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Josses Tal: Roman' von Angelika Rehse
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4 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Josses Tal: Roman"

1930: Josef ist ein uneheliches Kind und eine Schande für seinen Großvater, der ihn seine Enttäuschung mit Schlägen täglich spüren lässt. Mit seiner Mutter im Haus der Großeltern erlebt Josef eine Kindheit, die geprägt ist von Angst und Schuld, fehlender Nähe und Geborgenheit. Als er seinen Nachbarn Wilhelm kennenlernt, erfährt er zum ersten Mal in seinem Leben Freundschaft und Zuneigung. Wilhelm beschützt und fördert Josef – und nutzt dessen Arglosigkeit aus, um für ihn, der Hitler treu ergeben ist, die Bewohner im Ort auszuspionieren. Stolz auf diese Aufgabe und seine neue Uniform wird er zu einem folgsamen Gehilfen, doch dann erfährt Josef etwas, das sein bisheriges Leben aus den Fugen geraten lässt …

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:408
Verlag: Pendragon
EAN:9783865328311

Rezensionen zu "Josses Tal: Roman"

  1. 5
    13. Jan 2024 

    Ein Teil der deutschen Geschichte

    Ostroppa, ein Ort in Schlesien im Jahre 1930. Josef Tomulka ist erst fünf, trotzdem muss er die täglichen Schikanen und sogar Schläge von seinen Großeltern ertragen. Denn er ist für sie ein lebendiger Nachweis der Schande, die seine Mutter Helene über die Familie gebracht hatte. Schwanger und ohne einen Mann an ihrer Seite ist sie aus Breslau nach Hause zurückgekommen. Seitdem muss Helene die ständigen Demütigungen ihrer Eltern ertragen und das Leid ihres Sohnes erdulden. Um dem Spott der Nachbarn zu entgehen zieht die ganze Familie nach Reichenbach um, doch der Umzug ändert nichts an der bisherigen Lage der beiden.

    Bis eines Tages ein junger Nachbar Wilhelm eingreift und dem Großvater weitere Misshandlung des Kindes verbittet. Wilhelm beschützt den kleinen Josef, schenkt ihm Zuneigung und ermöglicht ihm die schulische Ausbildung. Der freundliche und verständnisvolle Wilhelm ist aber auch ein überzeugter Nazi und Verehrer des Führers. Geschickt manipuliert er Josef und macht ihn zu seinem Helfer, der die bestimmten nützlichen Informationen an seinen Gönner liefert. Bis eines Tages die sterbenskranke Helena ihrem Sohn das streng gehütete Geheimnis verrät.

    So fängt Josses Geschichte an; eine Geschichte, die berührt und bewegt. Das Leid des kleinen Jungen, der seinen Vater nicht kennt und von der Mutter und den Großeltern keine Zuneigung erhält, ist schwer zu ertragen. Umso mehr hat mir am Anfang Wilhelms Fürsorge für Josef gefallen; endlich konnte das Kind Herzenswärme und Anerkennung erfahren.
    Aber dieser glückliche Lebensabschnitt endet abrupt. Denn Josefs Lebensgeschichte verläuft so wie das Zeitgeschehen damals: rasend und dramatisch, schmerzhaft und verhängnisvoll.

    Realistisch und gefühlvoll erzählt die Autorin über diese turbulente Zeit. Angelika Rehse, die in einem Umfeld von Heimatvertriebenen aufwuchs, hat ausgiebig für ihren Roman recherchiert. Sowohl die Details aus den Gesprächen mit den Zeitzeugen, wie auch die historisch belegten Fakten flossen in die erzählte Geschichte ein. So ist es ein wichtiger Roman entstanden, der einen Teil der deutschen Geschichte authentisch darstellt. Eine starke Stimme, die auf die Gefahren der Manipulation und Propaganda hinweist. Eine wichtige Stimme, besonders in der heutigen Zeit.

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  1. Die Schrecken der NS-Zeit

    Als der fünfjährige Josef Tomulka im Juli 1930 mit seiner Mutter und den Großeltern umzieht, hofft er darauf, dass nun alles besser wird. Denn der kleine Junge wird lieblos erzogen. Seine Mutter scheint sich nicht besonders für ihn zu interessieren, sein Großvater schlägt ihn und die Oma grantelt ständig herum. In seiner neuen Nachbarschaft lernt er den jungen SA-Mann Wilhelm Reckzügel kennen, der sich des Kindes fürsorglich annimmt und ihn nicht nur vor dem Großvater schützt. Doch schnell wird klar, dass dieser Einsatz alles andere als selbstlos ist, denn Wilhelm erzieht Josef mehr und mehr zu seinem willfährigen Handlanger. Erst als der Junge von seiner Mutter nähere Details zu seinem für ihn unbekannten Vater erfährt, beginnt er, Schritt für Schritt an Wilhelms guten Absichten zu zweifeln...

    "Josses Tal" ist der kürzlich erschienene Debütroman der 74-jährigen Angelika Rehse, die laut Klappentext des Pendragon Verlags in einem Umfeld von Heimatvertriebenen aufwuchs und zu ihrem Roman von den "erzählten und lang verschwiegenen Geschichten der Generation ihrer Eltern" inspiriert wurde. Dieser persönliche Bezug der Autorin, der auch im Nachwort noch einmal deutlich wird, ist das große Plus des Buches, denn Rehse begleitet ihre Figuren mit Empathie und Gewissenhaftigkeit.

    Der Haupthandlungsstrang des Romans befasst sich mit der Zeit zwischen 1930 und 1943. Umfasst wird sie von einer Rahmenhandlung im Juli 2004, die gleichzeitig Ausgangssituation für das weitere Geschehen ist. In ihr reist eine Frau namens Helen in einen norwegischen Nationalpark, um dort Klarheit über den Tod ihrer Urgroßmutter Else zu erhalten. Denn für diesen ist offenbar Josef Tomulka verantwortlich, der in Norwegen mittlerweile Josse genannt wird und dort ein Eremitendasein pflegt. Mit der Begegnung der beiden beginnt nicht nur der Roman, sondern auch dessen größtes Problem: die Figurenzeichnung. Denn nach einem kurzen Abtasten verfällt Helen sofort in das familiäre "Josse", dabei ist der Mann, der ihr gegenübersitzt, doch vermeintlich Mitschuld am Tod Elses.

    Auch der Rest der Figuren ist - mit Ausnahme von Josefs Mutter Helene - eindimensional und eher holzschnittartig gezeichnet. Da gibt es den schlagenden Großvater, die grantige Großmutter, den smarten, aber bösen SA-Mann, seinen liebenswerten hinkenden Bruder Werner als Gegengewicht und den qua seines Alters naiven Josef, der alles aufsaugt, was Wilhelm ihm vorbetet. Die Mutterfigur ist hingegen als einzige wohltuend ambivalent. Sie ist mit der Erziehung ihres Sohnes überfordert, schwach und zeigt selten einmal Liebe. Doch dann gibt es plötzlich Szenen, in denen sie förmlich ausbricht, einem Pfarrer in aller Öffentlichkeit ihre Meinung geigt und wehmütig von einer besseren Zukunft träumt. Bedauerlich ist, dass diese Figur nach den ersten etwa 100 Seiten mit einer Ausnahme kaum noch eine Rolle spielt. Denn Josefs Familie findet eigentlich nicht mehr statt, seitdem er Tag für Tag bei den Reckzügels verbringt. Ansonsten sind Grautöne in den Figuren nicht zu erkennen.

    Ein weiteres Problem ist, dass sich der Roman nicht ausreichend Zeit für die Opfer der Geschichte nimmt, sich für sie nicht wirklich interessiert. Protagonist Josef ist zwar anfangs auch ein Opfer des manipuliativen Nazis, entwickelt sich aber mit zunehmender Dauer zu einem Täter, denn Josef belauscht und denunziert Gegner der Nationalsozialisten mit Hingabe, so dass meine Empathie für den Jungen immer stärker abnahm. Eigentliche Opfer wie Else, um die es ja laut Helen und Josse gehen sollte, tauchen nach knapp 300 Seiten zum ersten Mal auf - und verschwinden sang- und klanglos wieder.

    Die Täterperspektive der Nationalsozialisten und HJ wird hingegend detailliert ausgeleuchtet. Hierbei gelingen Angelika Rehse allerdings Szenen unheimlicher Intensität, insbesondere bei der Bücherverbrennung in Berlin im Mai 1933. Der gerade einmal achtjährige Josef partizipiert aktiv an ihr und als Leser:in meint man fast, den Qualm riechen zu können. Ein wirklicher Horror! Ohnehin ist es der Schreibstil, mit dem Rehse überzeugt. Denn "Josses Tal" liest sich überwiegend flüssig, spannend und unterhaltsam, so dass einem die 400 Seiten viel kürzer vorkommen. Vorausgesetzt, man stört sich nicht an den zahlreichen Dialogen.

    Nachteilig ist in diesem Zusammenhang allerdings die pausenlose Ausformulierung der Gedanken der Figuren. Durch die vielen Dialoge gibt es eigentlich schon genug Satzzeichen, doch die mit je einem Anführungszeichen eingeleiteten Gedanken stören den Lesefluss doch das ein oder andere Mal. Hinzu kommt, dass Angelika Rehse hier durchaus mehr Vertrauen in die Leserschaft hätte haben können, denn es macht ja gerade den Reiz eines Romans aus, selbst in die Figuren zu blicken und nicht ständig gesagt zu bekommen, was diese nun gerade denken und fühlen.

    So ist "Josses Tal" ingesamt ein zwar unterhaltsamer, aber auch etwas ärgerlicher Roman geworden. Nicht abzusprechen ist ihm der gute Wille, die auch für die Kinder schreckliche NS-Zeit wieder ins Gedächtnis zu rufen, und ein Aktualitätsbezug, denn auch heute sehen sich Menschen jeden Alters Manipulationen jeder Art ausgesetzt. Die Umsetzung kam mir allerdings durch die blasse Charakterisierung und Eindimensionalität der Figuren zu didaktisch vor.

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  1. 4
    01. Apr 2023 

    Kindheit im Dritten Reich

    Angelika Rehse hat mit über 70 Jahren ihren Debutroman vorgelegt „ Josses Tal“. Die Eltern der Autorin stammen aus Schlesien und sie selbst wuchs zwischen Heimatvertriebenen auf. Von ihnen hörte sie Geschichten von der alten Heimat und dort in Schlesien hat sie auch ihren Roman angesiedelt. Eine intensive Recherche vor Ort, in Archiven und Bibliotheken ging dem Schreiben voraus.

    Die Rahmenhandlung setzt ein im Jahr 2004. Helen ist ins norwegische Lillehammer gereist, um Näheres über den Tod ihrer Urgroßmutter zu erfahren. Ein Hinweis lieferte eine Postkarte vom September 1945, geschrieben von Josef Tomulka. Dieser Josef, genannt Josse, lebt seit langem als Einzelgänger in diesem abgeschiedenen Tal in Norwegen und aus dessen Perspektive wird uns sein Leben

    geschildert.

    „Also die Leinwand, auf der mein Leben gemalt ist, war von vornherein nicht weiß. Sie war vergilbt und rissig und wurde im Laufe der Zeit mit häuslichen Brauntönen bemalt.“

    Josse kommt als uneheliches Kind zur Welt. Im Dorf wird er gehänselt und für seinen Großvater ist die Tatsache eine unverzeihliche Schande, die er den Jungen täglich spüren lässt. Auch von der Mutter und der Großmutter gibt es keine Zuwendung, keine liebevolle Geste. Im Jahr 1930 zieht der fünfjährige Josse mit seiner Mutter und den Großeltern in das kleine Dorf Dorotheenthal in Niederschlesien. Am neuen Wohnort lässt sich der Makel des unehelichen Kindes vielleicht leichter verheimlichen.

    Und hier findet der Junge in Wilhelm Reckzügel, einem Medizinstudenten, einen Beschützer und Fürsprecher. Josse fühlt sich zum ersten Mal in seinem Leben geschätzt und geliebt. Auch Wilhelms Familie kümmert sich um den vernachlässigten Jungen und nach dem Tod seiner Mutter nehmen sie ihn bei sich auf.

    Wilhelm ist schon früh überzeugter Nazi, marschiert in SA- Uniform durchs Dorf und versucht Josse parteikonform zu beeinflussen. Er nimmt den Jungen mit nach Berlin, wo dieser stark beeindruckt ist vom Spektakel der Bücherverbrennung. Und als Hitlerjunge mit seiner Kluft fühlt sich Josse endlich respektiert und dazugehörig. „ Ab heute würde ihn keiner mehr spöttisch ansehen,…Ab heute würde er einer von ihnen sein.“

    Wilhelm, mittlerweile aufgestiegen in der NS- Hierarchie - kein einfacher SA- Mann mehr, sondern Hitlers Schutzstaffel, der SS, zugehörig - will aus seinem Dorf ein Vorzeigeort machen, frei von etwaigen Feinden des Reiches. Dabei soll ihm Josse helfen. Der Junge wird bereitwillig zum Spitzel, belauscht Nachbarn und Bekannte und meldet jede kritische Äußerung, jedes fehlende Hitlerbild, jedes auffallende Verhalten. Skrupel hat er anfangs keine. Wie gern macht er alles, was Wilhelm, sein großer Freund und Wohltäter, von ihm verlangt.

    Doch bei seinen Spitzelaktionen bekommt er vieles zu hören und zu sehen , was ihm zu denken gibt. Und mit zunehmenden Alter sieht er auch Wilhelm kritischer, fühlt sich missbraucht als „ Handlanger“. Doch es wird nicht leicht, sich aus Wilhelms Machtbereich zu lösen.

    Der Roman zeigt eindrucksvoll, wie leicht Menschen zu manipulieren sind. Gerade bei jungen, noch ungefestigten Menschen ist es ein Leichtes, ihr Vertrauen zu gewinnen und sie in bestimmte Richtungen zu führen und zu lenken. In diesem speziellen Fall ist es umso perfider, weil Josse ein Kind war, das aufgrund seiner lieblosen Umgebung umso dankbarer auf jede Freundlichkeit reagiert hat.

    Doch die Autorin will das nicht als Rechtfertigung verstanden wissen. Josse erkennt, spät erst zwar, dass sein Tun falsch war und zieht die Konsequenzen. Noch im Alter trägt er schwer an der Schuld, die er auf sich geladen hat.

    Der Roman liest sich leicht und bringt uns trotzdem sehr eindringlich die gesellschaftliche Entwicklung in Nazi- Deutschland nahe. Anders als in der Großstadt bekommen die Menschen in Dorotheental die aktuellen Geschehnisse nur von weitem mit. Doch die schleichenden Veränderungen sind auch im Dorf spürbar. Die Kinder machen begeistert bei der Hitler- Jugend mit. In der Schule gilt ein anderer Lehrplan und im Dorf bestimmt der Ortsgruppenleiter. Wer sich dagegen stellt, wird zum Außenseiter und gerät ins Visier der örtlichen Nazis.

    Das Buch packt den Leser von Anfang an. Gebannt und voller Empathie verfolgt man das Schicksal dieses Jungen, erlebt seine Entwicklung vom Kind zum Jugendlichen. Mögen manche Wendungen auf den ersten Blick etwas zu konstruiert sein, werden sie doch glaubhaft und nachvollziehbar geschildert.

    „ Josses Tal“ ist ein lesenswertes und wichtiges Buch, das ich gerne, auch jungen Lesern, empfehle.

    Dem Roman ist ein Zitat von Hannah Arendt vorangestellt: „ Die traurige Wahrheit ist, dass das Schlimmste von den Menschen begangen wird, die sich niemals dazu entscheiden, gut oder böse zu sein.“

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