Jenseits der Erwartungen: Roman

Rezensionen zu "Jenseits der Erwartungen: Roman"

  1. Grandioser Roman über eine Männerfreundschaft

    Mit großer Erwartung habe ich dem neuen Roman von Richard Russo entgegen gefiebert. Die Geschichte um drei alte Freunde spielt auf zwei Zeitebenen. Die eine ist vor rund 45 Jahren angesiedelt, als sie 1971 ihren Studienabschluss am renommierten Minerva-College machten, die andere befindet sich in der Jetztzeit (etwa 2016), kurz bevor Donald Trump zum Präsidenten der USA gewählt wird.

    Den drei jungen Männern hat ein Stipendium den Weg aufs College geebnet, der Zufall machte sie zu Stubengenossen. Trotz der unterschiedlichen Studiengänge wuchs ihre Verbindung. Sie spürten, dass sie andere Voraussetzungen hatten als die Kommilitonen. Im Gegensatz zu ihnen erhielten sie keine üppigen elterlichen Schecks und fuhren keine Sportwagen. Lincoln, Teddy und Mickey mussten jobben und mit deutlich weniger Geld zurechtkommen.

    „Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass sich ausgerechnet diese drei Jungen in ein und demselben Appartment am Minerva College an der Küste von Connecticut wiederfinden würden? Man muss nur an einem Faden des Gewebes, aus dem menschliches Schicksal besteht, ziehen, und alles löst sich auf. Wobei man auch sagen könnte, dass es so oder so die Neigung hat, sich aufzulösen.“

    Zu dem Trio stieß irgendwann Jacy hinzu. Jacy kam scheinbar aus der Welt des Geldes. Sie war eine bildhübsche, lebhafte junge Frau, die immer vor Ideen sprudelte und verrückte Einfälle hatte. Obwohl sie zu Hause bereits mit ihrem Jugendfreund verlobt war, verbrachte sie viel Zeit mit dem Trio. Jeder der jungen Männer war auf seine Weise in das Mädchen verliebt, aber niemand sprach darüber.

    Zu einem letzten Highlight sollte ein gemeinsames Memorial-Day-Wochenende in Lincolns Ferienhaus auf der Insel Marthas Vineyard werden, bevor sich ihre Wege trennen würden. Dieser Aufenthalt hat sich den drei Männern tief ins Gedächtnis eingegraben. Denn nach den unbeschwerten Tagen im Mai ist Jacy spurlos verschwunden. Weder die Freunde noch Jacys Eltern haben jemals wieder ein Lebenszeichen von ihr erhalten.
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    Das ist jetzt über 45 Jahre her. Um der alten Zeiten Willen lädt Lincoln seine beiden Studienfreunde erneut auf die Insel ein. Bereits bei der Ankunft werden sie alle von unterschiedlichen Empfindungen heimgesucht. Die Freundin ist für jeden eine offene Frage, eine schlecht verheilte Wunde, ein Verlust. Dieser Ort ruft Erinnerungen wach, die zuvorderst natürlich Jacy betreffen: Was ist mit ihr geschehen? Wo könnte sie anschließend hingereist sein? Warum hat sie sich nie wieder gemeldet? Ist sie vielleicht einem Verbrechen zum Opfer gefallen?

    Jeder der Protagonisten hat seinen eigenen Blick auf die Ereignisse von damals. Deshalb ist jedes Kapitel auch mit dem Namen desjenigen überschrieben, aus dessen Sichtweise erzählt wird.

    Lincoln vermutet ein Gewaltverbrechen. Er verdächtigt den Nachbarn, mit Jacys Verschwinden im Zusammenhang zu stehen. Lincoln beginnt auf eigene Faust Recherchen anzustellen. Ein pensionierter Cop hat indessen einen der Freunde als Mörder im Visier. Es stellt sich heraus, dass Erinnerungen trügerisch sind, schnell können fest geglaubte Wahrheiten im Abgleich mit Eindrücken anderer Personen verschwimmen und verblassen. Das Puzzle rund um Jacy gestaltet sich für den Leser enorm spannend und vielschichtig. Doch das ist nur eine Seite dieses wunderbaren Romans. Neben der fesselnden kriminalistischen Ebene dreht sich die Handlung auch um die Lebensgeschichten der jungen Männer von damals. Der Autor hat ein großes Talent im Zeichnen glaubwürdiger, facettenreicher Charaktere. Lincoln, Teddy und Mickey sind keine Verlierer-, aber auch keine Siegertypen. Sie gleichen eher dem durchschnittlichen Mann von der Straße. Jeder hat Stärken und Schwächen, die Rückkehr nach Martha´s Vineyard ist die Gelegenheit, das eigene Leben noch einmal Revue passieren zu lassen. In Rückblicken werden vergangene Erlebnisse lebendig und nach und nach wird das Bild für den Leser immer vollständiger.

    Russo verknüpft Vergangenheit und Gegenwart seiner Protagonisten Die Figuren, ihre Beziehungen und Konflikte wirken durchgängig glaubwürdig. Die Dialoge sind wunderbar Man möchte immer mehr erfahren. Lebhaft reflektieren die Protagonisten ihr eigenes Leben: Was wollte ich erreichen? Bin ich glücklich? Habe ich meine Ziele und Erwartungen von einst erfüllt? Bin ich meinen Ansprüchen gerecht geworden? Und schließlich: Was kann ich mit 66 Jahren noch an Stellschrauben für die Zukunft verändern?

    Es geht um Schicksal, Zufälle und bewusste Entscheidungen – und was sich daraus entwickeln kann. In diesem Zusammenhang fand ich die Einberufungslotterie vom 1.12.1969 extrem makaber.

    Besonders gut haben mir die aktuellen politischen Bezüge gefallen. So fällt immer mal wieder der Name Donald Trumps, mit dem sich auch Lincoln als Konservativer nicht recht anfreunden kann. Die Nebenfiguren sind sauber ausgearbeitet (es gibt allerdings kaum weibliche) und sorgten für manches Schmunzeln. Egal, ob es eine Reisegruppe oder der nymphomane Nachbar und Trump-Wähler ist.

    Die Geschichte hat – ausgelöst durch die traurigen Erinnerungen an Jacy – einen melancholischen Grundton mit Tiefgang. Hier blicken gestandene Männer zurück auf ihr Leben und auf Ereignisse, die sie geprägt haben. Russo kann so etwas schreiben, denn er hat genug Lebenserfahrung und Empathie, um eine komplexe und psychologisch ausgereifte Geschichte zu erzählen. Martha´s Vineyard wird zum Hintergrund für ein Kammerspiel rund um Freundschaft, Liebe, Verlust, Trauer und enttäuschte Erwartungen. Ich habe wirklich jede Seite genossen. Ich liebe diesen Schreibstil, der viel Lebensweisheit ausdrückt, aber ebenso gut auch andere, leichtere, Gefühle transportieren kann.

    Der Roman hat mich von der ersten bis zur letzten Seite restlos überzeugt. Ich wünsche ihm ganz viele Leser und hoffe, dass der Autor noch viele produktive Jahre vor sich hat.

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