Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise

Buchseite und Rezensionen zu 'Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise' von Dubois, Jean-Paul
4.2
4.2 von 5 (14 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise"

Prix Goncourt 2019 – der Nummer-1-Bestseller aus Frankreich Warum sitzt ein unauffälliger Mensch wie Paul Hansen im baufälligen Gefängnis von Montréal? Der in Frankreich aufgewachsene Sohn eines dänischen Pastors und einer Kinobesitzerin hatte schon einiges hinter sich, bevor er seine Berufung als Hausmeister in einer exklusiven Wohnanlage in Kanada fand. Ein Vierteljahrhundert lang lief alles rund – die Heizungsanlage ebenso wie die Kommunikation, bis Paul eines Tages die Sicherung durchbrennt. Nun erträgt er mit stoischer Ruhe seinen Zellengenossen Patrick, einen Hells-Angels-Biker, der sich jedoch von einer Maus ins Bockshorn jagen lässt. Paul hat viel Zeit zum Nachdenken – Zeit für tragikomische Lebenslektionen und unerwartetes Glück.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:256
Verlag:
EAN:9783423282406

Rezensionen zu "Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise"

  1. Der Mörder

    Paul Hansen sitzt wegen Mord im baufälligen Gefängnis in Montreal. Zwar in einer der größten Zelle im Gefängnis zusammen mit einem Hells Angels Mitglied. In dieser Zelle hat man keine Privatssphäre und der Gefängnisalltag wird als sehr monoton, trist, mit gewaltätigen Übergriffen an andere Häftlinge beschrieben. Das Essen ist schlecht und es hausen viele Ratten in den Zellen.

    Die Hauptfrage, um das sich dieses Buch dreht ist die, warum ein Mensch, der aus gut behüteten Verhältnissen wie der Protagonist stammt, dazu in der Lage ist Menschen umzubringen.

    Sein Vater ist Pfarrer, seine Mutter ist eine Besitzerin eines Programmkinos. Er ist dann mit seinem Vater nach Kanada ausgewandert und wurde ein Hausmeister in einem Nobelwohnkomplex.

    Das hört sich ja alles total interessant und vielversprechend an. Aber mich hat das Buch überhaupt nicht erreicht. Der Funken wollte nicht rüberspringen. Es ist langatmig geschrieben. Die Gegebenheiten in diesem Buch konnten nichts bei mir auslösen, außer Langeweile.

    Nach 100 Seiten hatte ich das Gefühl, dass das Buch jetzt beginnt. Aber auch dann war es für mich einfach nur zäh und ohne Spannung und Steigerung geschrieben und irgendwann hatte ich dann auch keine Geduld und den Durchhaltewillen.

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  1. 3
    21. Sep 2020 

    Große Frage – kleine Antwort

    Der Roman „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“ von Jean-Paul Dubois gestaltet eine Handlung, in der ein „guter“ Mensch sich zu einer „bösen“ Tat gedrängt sieht und dadurch in einer Gefängniszelle landet, einem Ort, der so gar nicht zu ihm passt. Dort lernen wir den Helden Paul kennen, wie er sich bemüht mit dieser Situation und insbesondere mit seinem Zellennachbarn klar zu kommen. Von Beginn an stellt sich der Leser die das Buch entscheidende Frage: Wie konnte dieser Mensch nur hierher gelangen? Da muss einiges passiert sein, um dieses Resultat zu erreichen. Und der Leser ist gespannt auf die Auflösung. Denn: Die Fallhöhe ist sehr groß und kann nur durch eine bestechende Begründung irgendwie erklärbar gemacht werden. Diese Spannung trägt dann über weite Strecken die Begeisterung an dem Buch, die auch unterstützt wird durch eine Reihe von interessanten Figuren und Konstellationen, die man auf dem Lebensweg von Paul mitbekommt.
    Der Autor schildert im Verlaufe des Romans dann immer wieder die bizarre Gefängniszellensituation im Wechsel mit einer Darstellung von Pauls Leben. Für Letzteres nimmt er sich sehr viel Zeit und schildert die Familiengeschichte, in der vor allem sein Vater, ein scheiternder Priester, eine große Rolle einnimmt. Der Vater, Pauls Frau und Pauls Hund sind es auch, die ihn im Gefängnis immer wieder mit seinem alten Leben in Verbindung bringen, wenn sie ihm als Geister erscheinen und Gesellschaft leisten. Paul zeigt sich in seinem Leben immer wieder als Figur, die von tiefer Menschlichkeit, Solidarität und Güte angetrieben wird. Aber trotzdem oder gerade deshalb: Paul hat es nicht immer leicht im Leben und er braucht sehr lange Umwege, um dann endlich an einen Ort zu gelangen, an dem er sich heimisch und zu Hause fühlt. Bis dahin hat er Orte wie Südfrankreich und Norddänemark – die Heimatorte seiner Eltern – hinter sich gelassen und das französischsprachige Kanada als Lebensort entdeckt. Hier findet er endlich so etwas wie eine „Heimstatt“. Das liegt sicher auch daran, dass er diesen Ort – ein großer Wohnkomplex, in dem er als so etwas wie ein Hausmeister arbeitet – mit seiner geliebten Frau und seinem Hund teilen kann. Doch seine Frau stirbt bei einem Flugzeugabsturz und der ihm heimatliche Ort, an dem ihm viele Menschen gut gesinnt sind, wird ihm von einem Mobbing betreibenden Chef verleidet und er wird daraus vertrieben. Und an dieser Stelle kommt es dann zu einer Affekthandlung, die Grund für seinen Gefängnisaufenthalt ist.
    Mich konnte diese Begründung für den Fall des so ungeheuer menschlich gezeichneten Paul leider nicht überzeugen. Die Situation kann für mich nicht Pauls Fall in Gewalttätigkeit und Unmenschlichkeit begründen. Ich hätte von ihm andere Reaktionen auf die erlebten Ungerechtigkeiten erwartet und so funktionierte für mich der Roman in seinem ganzen Aufbau einfach nicht. Mit viel Begeisterung begann ich den Roman und hatte zwischendurch auch immer wieder große Freuden an dem Gelesenen, am Ende aber bleibt eine große Enttäuschung und es klafft eine Lücke in der Antwort auf die so grandios gestellte Frage: Wie konnte Paul in diese Situation geraten? Eine große und schriftstellerisch grandios gestaltete Frage wird mit einer eher kleinkrämerischen und enttäuschenden Antwort gepaart. Für mich bleiben deshalb nur 3 knappe Sterne für diesen Roman zu vergeben.

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  1. Melancholie und Komik

    Lapidar geschrieben, witzig und manchmal sogar klamaukhaft, dennoch voller Melancholie und Ernsthaftigkeit erzählt Jean-Paul Dubois die Geschichte von Paul Christian Frédéric Hansen in seinem preisgekröntem Roman „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“.

    Der Erzähler Paul, Sohn eines dänischen Priesters und einer französischen Kinobetreiberin, sitzt im Gefängnis und berichtet von seinem bisherigem Leben und vom Leben jetzt im Gefängnis. Der Zellengenosse ist ein Hell‘s Angel, dessen Angst vor dem Haareschneiden ebenso wie sein allabendliches Klogang-Ritual Paul Hansen unfreiwillig miterleben muss. Der Roman setzt im Winter 2009 ein und spult rückblickend Pauls Leben seit seiner Kindheit in Toulouse ab. Als Sohn eines konservativen Vaters und einer links-anarchistischen Mutter wuchs Paul zwischen Kirchensonntagen mit dem Vater und anarchistischem Kino der Mutter auf. Die Ehe der Eltern zerbricht letztlich, als Pauls lebensfrohe Mutter einen pornografischen Film ins Programm nimmt, ohne Rücksicht auf die Diskreditierung des Priesteramts ihres Ehemannes. Mit dem Weggang des Vaters nach Kanada ändert sich auch Pauls Leben. Er folgt ihm in das Asbestverseuchte Thretford Mines, einer von Tagebaulöchern umgebenen Stadt in der Provinz Québec.
    In Kanada tritt Paul später seine Stelle als Wohnanlagenverwalter an und lernt seine große Liebe kennen, die er 11 Jahr später auf tragische Weise verliert. Sein Job als „Deux ex Machina“ wird ihm letztlich zum Verhängnis und führt zum Gefängnisaufenthalt.
    Im Gefängnis erzählend, umgeben von seinen drei Toten, läßt Paul bei seinen Erinnerungen den Leser teilhaben an einem von Verlusten geprägtem Leben. Beginnend mit dem Tod der Großeltern 1958 bei einem Autounfall zieht sich das Unglück durchs Pauls Leben wie ein roter Faden. Gefolgt von der Trennung der Eltern 1975, nachdem der gesellschaftliche Wandel die Familie zersplitterte, und dem Absturz und dem Tod seines Vaters bis zum Tod seiner Frau, die seinem Leben Halt und Sinn gab, zeichnet der Autor ein tragisches Lebensbild, das ohne die Bodenständigkeit und die genaue liebevoll-verzeihende Betrachtung der Figuren mit all ihren Fehlern fast ein Zuviel an Melodramatik hätte.

    Dubois erzählt Pauls Geschichte ohne Eile, mit ständigem Wechsel zwischen Gefängnisalltag, der manchmal erstaunlich derb-humoristisch, manchmal sanft und voller Melancholie und Trauer getragen ist, und den Rückblenden mit Blick auf ein Leben, das trotz allen Schmerzes auch Aufbruchstimmung, Harmonie und Liebe beinhaltet.
    Im Hintergrund wird Pauls Geschichte untermalt von einem Gesellschaftsportrait verschiedener Epochen des vergangenen Jahrhunderts. Angetippt werden Umbrüche mit revolutionärer Grundstimmung Ende def 1960er Jahre, Rohstoffraubbau ohne ökologischen und humanistischen Blick bis in die 1980er Jahre und ein unmenschlicher und kalter Start ins neuen Jahrtausend.

    Ich habe den mit dem Prix Concourt ausgezeichneten Roman sehr gerne gelesen. Sprachlich grandios und auf brillante Weise manchmal am kleinen „Zuviel“ vorbei geschlittert erzählt Jean-Paul Dubois eine Geschichte, in der sich Melancholie und Komik die Hand geben, nie rührselig und mit großer Liebe zu seinen Charakteren, deren große und kleine Fehler lebensecht zum Straucheln führen und die dennoch Größe haben dürfen.

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  1. Das verfluchte Schlingern der menschlichen Seele

    Der Schreibstil ist vielfältig: mal kurz, auf den Punkt und lapidar, dann von einer dunklen Poesie und voller atmosphärischer Bilder. Sogar Szenen augenzwinkernder Komik finden sich, und man sollte meinen, das würde alles nicht zusammenpassen – aber die Mischung macht’s!⠀

    Stilistisch wie inhaltlich überzeugte mich gerade die stimmige Balance von Gegensätzen, die dem Roman eine ganz eigene Note gibt.⠀

    Manchmal fand ich den ein oder anderen Satz etwas zu verschachtelt, aber das wird durch eine ausdrucksstarke Formulierungskunst locker wettgemacht. Normalerweise bin ich skeptisch, wenn unwichtige Details scharenweise auftreten, aber hier sorgen sie für sehr viel Ambiente, und trotz zahlreicher Nebenschauplätze las sich für mich alles wie aus einem Guss.⠀

    Aber es ist nicht nur der Schreibstil, der überzeugt. Jean-Paul Dubois schreibt großartige Charaktere, die man ins Herz schließt, über die man lacht – und natürlich auch solche, die man nicht ausstehen kann. Manche kokettieren mit den Klischees: der Autor spielt damit, sie erst wie mit der Schablone zu zeichnen und dann doch über die Linien zu malen.⠀

    Besonders Patrick Horton, Pauls Zellengenosse, ist in meinen Augen sehr gelungen. Mir gefällt, welche Gegensätze er in sich vereint. Der Hells Angel zuckt nicht mit der Wimper, wenn es darum geht, Menschen zu verletzen, die er als Feinde sieht – doch er sitzt auch stundenlang da und malt in kindlicher Konzentration mit Buntstiften. Wie er mit Paul umgeht, zeigt, dass er vom Naturell her eigentlich ein gutmütiger Mensch wäre, der aber durch einen schwierigen Start ins Leben auf Abwege gedrängt wurde. In vielen Szenen wird offensichtlich, dass er durchaus Prinzipien hat – wenn auch recht infantile, einfach gestrickte.⠀

    Paul Hansen dagegen wirkt wie ein ruhiger, friedlicher Mann, der sich von dem leiten lässt, was er als gut und richtig empfindet – man kann sich kaum vorstellen, was der unbescholtene Hausmeister verbrochen haben könnte, um im Gefängnis zu landen. In resignierter Akzeptanz resümiert er indes Begebenheiten, die schon vor vielen Jahren passiert sind, und nach und nach setzt sich das Puzzle zusammen.⠀

    “Das Gefängnis verschlingt uns, verdaut uns, und, zusammengerollt in seinem Bauch, gekauert in die nummerierten Falten seiner Gedärme, zwischen zwei Magenkrämpfen, schlafen und leben wir, so gut es geht.”⠀
    (Zitat)⠀

    Im Rückblick könnten die Lebensentwürfe von Pauls Eltern kaum weniger kompatibel sein. Mutter Anna Margerit zeigt skandalöse Filme in ihrem Programmkino und bringt damit Vater Johanes in Schwierigkeiten, der sich ohnehin mehr und mehr desillusioniert fühlt als Pastor. Insgeheim sieht er seine Predigten nur noch als Zaubertrick, als Farce, als Mittel zum Broterwerb, so dass man sich fragt: warum sucht er sich keinen anderen Beruf? Ist es der Stolz, der ihn treibt, oder die vage Hoffnung, den Glauben doch noch wiederzufinden? Dass er eine große innere Leere verspürt, zeigt sich, als er der Spielsucht verfällt.⠀

    Paul denkt in der Zelle viel an Nouk, seine “ewige Hündin, Schwimmerin in den Weihern und Läuferin auf den Wiesen” – eine zutiefst berührende, reine Zuneigung zwischen Mensch und Hund.⠀

    Zu guter Letzt soll Pauls große Liebe Winona Mapachee erwähnt werden – eine starke Frau, unerschrockene Pilotin, halb Irin, halb Algonkin-Indianerin. Hier tappt das Buch nicht in die Kitschfalle und rührt dennoch ans Herz – mehr möchte ich hier noch nicht verraten.⠀

    Szenen aus dem Gefängnis wechseln sich ab mit Rückblicken auf das Leben verschiedener Charaktere. Die Geschichte hat den Leser am Haken, weil er sich fragt, was Paul verbrochen hat, aber man will auch wissen, was aus den Menschen wird bzw. wurde, die man ins Herz geschlossen hat.⠀

    Die Toten sind dabei immer anwesend, mehr oder weniger buchstäblich. Drei davon besuchen Paul regelmäßig des Nachts. Das ist auf verschiedene Art spannend, selbst in den ruhigen Passagen – man sollte sich indes auch auf Herzschmerz einstellen. Hier zerschellt mehr als eine Welt an der grausamen Realität.⠀

    „Wir waren beisammen, die Toten und der Lebende, aneinandergeschmiegt, um uns gegenseitig das zu geben, was wir auf grausame Weise vermissten, ein wenig Wärme und Trost.“⠀
    (Zitat)⠀

    Man ist gerührt, man lacht, man fühlt sich erschüttert… Einmal habe ich geweint, ich gebe es zu – das Buch deckt die volle Bandbreite ab, von Slapstick bis Tragödie. Selbst gesellschaftskritische Elemente fehlen nicht, so muss Paul in bitterer Ernüchterung erkennen, dass Kosten-Nutzen-Rechnungen höher bewertet werden als grundlegende Menschlichkeit.⠀

    Fazit⠀

    Paul und Patrick teilen sich eine Zelle. Paul ist unauffällig, friedlich, ruhig – Patrick ist ein im Gefängnis gefürchteter Hells Angel. Daraus entwickelt sich eine unwahrscheinliche Freundschaft, während sich der Leser fragt: was hat Paul eigentlich verbrochen?⠀

    Sowohl inhaltlich als auch stilistisch fand ich den Roman einfach großartig; für mich hat er echten Tiefgang, auf einzigartige Weise verpackt. Die Charaktere sind komplexer, als sie auf den ersten Blick erscheinen, und man kauft sie dem Autor auch dann noch ab, wenn sie mit Klischees liebäugeln.⠀

    In meinen Augen ist mehr als verdient, dass das Buch 2019 den Literaturpreis Prix Goncourt erhielt.

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  1. Ein Roman, der zum nachdenken animiert

    Ein Roman, der zum nachdenken animiert

    Jean-Paul Dubois setzt schon mit dem Titel seines Romans ein Statement. "Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise" ....wie recht er damit hat.

    Paul Hansen, der als Erzähler durch sein Leben fungiert, sitzt in einem Gefängnis in Montreal. 2 Jahre hat er bekommen, und die will er ohne Verkürzung absitzen. Ersteht zu seiner Tat, zeigt auch keine Reue diesbezüglich. Direkt zu Beginn drängte sich mir die Frage auf, was Paul verbrochen hat? Doch ich wurde auf eine harte Probe gestellt, denn erst fast am Ende wurde dieses Geheimnis gelüftet.
    Auch wenn mich die Antwort brennend interessiert hat, gab es vieles in dem Buch, was mir das warten bis dahin versüßte.
    Da ist zum einen die Konstellation der Zellengenossen. Paul, der keiner Fliege etwas antun kann, und ein hartgesottener Kerl namens Patrick, teilen sich eine Zelle. Vor Patrick, dem Biker, haben scheinbar alle anderen Angst, aber er und Paul kommen gut miteinander aus. Die Erzählungen aus diesem Bereich von Pauls Leben sind sehr humorvoll angelegt.
    Im weiteren Verlauf beschreibt der Erzähler recht nüchtern, wie es war als Kind eines dänischen Pastors und einer Französin, die ein Kino betrieb, aufzuwachsen. In diesem Lebensbereich schildert der Autor teilweise schon zu detailgetreu den Aufbau von Autos usw. Dies hat mich manchmal ein wenig gestört, da mich diese Thematik nicht sonderlich interessiert, das mag bei anderen Lesern sicher anders sein.
    Nach der Scheidung wandert Pauls Vater Johannes nach Kanada aus, und Paul folgt ihm. Er muss erleben wie sein Vater scheitert.
    Als dann bald seine zukünftige Frau und ein Hund in sein Leben treten, ist Paul glücklich. Die Arbeit in dem Appartmenthaus, in dem er als Hausmeister arbeitet, erfüllt ihn obendrein. Doch als das Schicksal dann plötzlich zuschlägt, gerät Paul in eine Abwärtsspirale mit schwerwiegenden Folgen.

    Dieser Roman hat einen außergewöhnlichen Stil, der mich begeistern hat. Ich wollte von Anfang soviel wie möglich über diesen Menschen erfahren. Natürlich ist es schwierig objektiv über alles zu urteilen, da wir nur die Sicht von Paul kennenlernen. Doch ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass es sich hier um einen verlässlichen Erzähler handelt, und dieses Gefühl ist bis zum Schluss geblieben.
    Am Ende blieb mir nur ihm zu wünschen, dass er die restliche Zeit seines Lebens glücklich ist. Paul, der immer ein offenes Ohr für die Probleme der anderen hatte, der half wo er nur konnte, hat es verdient in Ruhe alt zu werden. Und diese Lebensphilosophie ist es, die der Roman vermittelt. Diese Botschaft, verpackt zwischen der Lebensgeschichte von Paul Hanssen, hat zurecht den Prix Goncourt 2019 gewonnen!

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  1. 5
    23. Aug 2020 

    Für mich keine Liebe auf den ersten Blick - aber dann...

    Warum sitzt ein unauffälliger Mensch wie Paul Hansen im baufälligen Gefängnis von Montréal? Der in Frankreich aufgewachsene Sohn eines dänischen Pastors und einer Kinobesitzerin hatte schon einiges hinter sich, bevor er seine Berufung als Hausmeister in einer exklusiven Wohnanlage in Kanada fand. Ein Vierteljahrhundert lang lief alles rund – die Heizungsanlage ebenso wie die Kommunikation, bis Paul eines Tages die Sicherung durchbrennt. Nun erträgt er mit stoischer Ruhe seinen Zellengenossen Patrick, einen Hells-Angels-Biker, der sich jedoch von einer Maus ins Bockshorn jagen lässt. Paul hat viel Zeit zum Nachdenken – Zeit für tragikomische Lebenslektionen und unerwartetes Glück.

    Puh, hier sitze ich mal wieder und grüble, wie eine passende Rezension zu diesem Roman aussehen könnte. Denn es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, das war Liebe auf den ersten Blick. Ich hatte Schwierigkeiten, mich in den eigenwilligen, nüchternen Schreibstil einzufinden, der gerne verschachtelt und metaphernreich daher kommt. Noch dazu fand ich gerade am Anfang die zahllosen Rückblenden in die Vergangenheit sehr ausschweifend, ebenso wie etliche essayhaft anmutende Abhandlungen über scheinbar willkürliche Themen wie Motoren, die katholische Kirche, die Praktiken von Versicherungen oder auch Kolibris - und mir war nicht klar, wozu diese Exkurse nötig waren. Aber dann...

    Etwa ab der Hälfte des Romans ließt mich dieser plötzlich nicht mehr los. Vielleicht weil ich mich an den eigentümlichen Schreibstil gewöhnt hatte, vielleicht, weil hier öfter Humor und bitterböser Zynismus aufblitzten, wenn auch gleich gefolgt von dem nächsten Lebensdrama. Trotz aller Distanziertheit, die der Roman seinen Figuren auferlegt, wurden hier nun ausreichend Emotionen transportiert - melancholisch zumeist, aber ohne in Kitsch oder triefendes Selbstmitleid abzugleiten. Mittlerweile mochte ich auch die häufigen Wechsel der Zeitebenen, sie kamen für mich oft genau zur rechten Zeit.

    Tatsächlich haben mich die die Erzählung und der tragische Hauptcharakter im Verlauf wirklich berührt. Jean-Paul Dubois ist das Kunststück gelungen, trotz aller Distanziertheit der Charaktere doch auch die Emotionen klar und spürbar zu transportieren. Die Spannung entsteht vor allem durch die durchgängige Frage, weshalb Paul überhaupt im Gefängnis sitzt. Die Antwort lässt sich erst kurz vor dem Ende erahnen - und passt zur Tragik des Lebens des einfachen, unauffälligen, dienstbaren, selbstlosen, liebenswerten Mannes, der einfach nur seine Aufgaben erfüllen möchte, wie er sie sieht.

    Und so wie der Autor für viele Situationen eindrucksvolle Bilder und Metaphern findet, symbolisiert auch der mit einem Hells Angels Biker einsitzenden Paul noch eine ganz andere Ebene. Dubois gelingt es, über das kleine Universum des Hausmeisters Paul darzulegen, wie sich die (westliche) Welt heute präsentiert. Die Werte haben sich verschoben, Kosten-Nutzen-Überlegungen zählen weitaus mehr als das einzelne Schicksal, die Excel-Typen und Betriebswirte entscheiden über Dinge, die eigentlich nicht messbar sind. Werte wie Mitmenschlichkeit, Hilfsbereitschaft, Zugewandtheit werden an die Wand gedrückt, die Prämisse Zeit ist Geld steht über allem, für jede Sekunde muss Rechenschaft abgelegt werden.

    Für mich ein grandioser Roman, der viele Saiten in mir zum Klingen gebracht hat. Und diese Gleichzeitigkeit von einem im Grunde nüchternen, wenn auch geschliffenen Schreibstil und den so klaren, deutlichen Emotionen, die den Leser in manchen Zeilen geradezu anspringen, fand ich einfach großartig.

    Für mich in jedem Fall ein Highlight...

    © Parden

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  1. Auf den Kreuzungen des Lebens

    "Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise" beschreibt schon im Titel ziemlich genau das Hauptmerkmal dieses Buches des preisgekrönten Schriftstellers Jean-Paul Dubois. Trotzdem überrascht die Richtung des Romanverlaufs, die kuriosen Charaktere der Protagonisten, die im Leben des Gefängnisinsassen Paul Hansen wichtige Rollen spielen und die Vielfalt der angesprochenen Themen.
    Paul sitzt in der Haftanstalt, zusammen in einer Zelle mit dem Hells-Angels-Biker Patrick. Dort teilen sich die beiden intimste Augenblicke, vom Stuhlgang bis zur Panikattacke und den Erinnerungen an beider Leben vor dem Knast, nur der Grund für Pauls Verurteilung bleibt für den Leser fast bis zum Schluss ein Geheimnis.

    Der unauffällige Werdegang Pauls, wird begleitet von seiner französischen Mutter, die ein Kino betreibt, einem dänischen Vater, der dann schließlich aus Frankreich nach Kanada flieht und Pauls Frau, einer Beaver-Pilotin mit Indianerblut in den Adern.

    Eine simple Story, die aber mit jeder Ausführung der Nebenfiguren, zwar schräg, aber doch je ein Puzzleteil in Pauls Leben bilden, ihn letztendlich zu der entscheidenden Straftat verleiten. Dubois versteht es ausgezeichnet, seine Leser mit ungewöhnlichen aber treffenden Sprachbildern zu versorgen und gleichzeitig auf wenigen (250) Seiten verschiedenste Themen anzusprechen, die das große Ganze bilden, an der vielleicht unsere Gesellschaft krankt und die mich ganz persönlich weg vom eigentlichen Roman, hin zum Grübeln über "uns" verleitet hat.

    Es ist kein trauriger Roman, obwohl Trennung und Tod durchaus ihre Positionen besetzen. Die Tragik wird mit Humor ausgebremst und so dringt man relativ ungeschoren zu des Pudels Kern durch, nämlich dass jeder von uns die Welt auf seine Weise bewohnt, in der es aber durchaus zu Kollisionen kommen kann. Ich habe das Buch gern gelesen, ich mochte Dubois Tropus und leisen Ton.

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  1. Verlust und Haben

    Montreal, Quebec: Seit etwas mehr als einem Jahr befindet sich Paul Hansen im Bordeaux-Gefängnis. Seine karge Zelle teilt er sich mit dem Hells-Angel-Biker Patrick. Paul hat viel Zeit zum Denken, zieht die Bilanz seines Lebens, erinnert sich an seine Kindheit in Toulouse, wo sein Vater Pastor war und seine Mutter ein Programmkino betrieb, wie es seinen Vater und ihn selbst nach Kanada verschlug. Er erinnert sich an seine geliebte Frau Winona, sein Leben als Hausverwalter im Wohnkomplex Excelsior wo er fast ein Vierteljahrhundert Seele des Hauses war.
    Was hat einen Menschen wie Paul, der unauffällig, reflektiert, klug, selbstlos ist, ins Gefängnis gebracht? Dieser Frage geht der französische Schriftsteller Jean-Paul Dubois in seinem Roman „Jeder bewohnt die Welt auf seine Weise“ nach. Dubois erzählt eine Geschichte von Aufbrüchen und Neuanfängen, von Verlust und Haben, eine bemerkenswerte tragicomédie.
    In der Haft hat Paul alle Zeit der Welt. Seine Strafe, wofür auch immer er sie erhalten hat, nimmt er widerspruchslos an. Er arrangiert sich mit dem kalten, hinfälligen „Organismus“ Gefängnis mit stählernem Herzen und gefräßigen Eingeweiden. Auf sehr wenigen Quadratmetern, in denen er und sein Mitinsasse nichts Menschliches voreinander verbergen können, erträgt Paul stoisch nicht nur Patricks Verdauungsrituale sondern auch dessen „Geistesgirlanden“
    Paul befindet sich in seinen Gedanken, einer verschütteten Welt. Es sind „seine drei Toten“, die ihm wieder ihre Aufwartung machen, sein Vater Johanes, seine Frau Winona, sein Hund Nouk, mit denen Paul durch ein starkes emotionales Band verbunden ist.
    „Wir waren beisammen, die Toten und der Lebende, aneinandergeschmiegt, um uns gegenseitig das zu geben, was wir auf grausame Weise vermissten, ein wenig Wärme und Trost.“
    Selbstverständlich ist Pauls Erzählstimme nicht objektiv, trotzdem empfinde ich ihn nicht als unzuverlässigen Erzähler. Jedenfalls ist Paul ein sehr akribischer Erzähler. Seinem Vater Johanes würden viele „unnötige aber präzise Notizen“, „Genauigkeit, Richtigkeit und die Nennung von Details“ gefallen, überlegt Paul. Dubois schlägt so gekonnt einen Bogen von einer komplizierten Familiengeschichte zu politischen und gesellschaftlichen Geschehen, zu Skandalfilmen, zum Raubbau an der kanadischen Natur, zu den Unabhängigkeitsbestrebungen Quebecs. Wenn man Paul als „Mann der Dinge“ verstehen kann, dann versteht man auch die vielen kleinen eingestreuten Details
    Erst gegen Schluss des Buchen versteht man auch, was Paul veranlasst hat, zu tun, wofür er verurteilt wurde.
    Jeder bewohnt die Welt auf seine Weise, jeder Mensch hat seinen Platz im Leben. Pauls Welt besteht aus Verständnis und uneigennütziger Menschlichkeit, diesen Platz behält er sich auch im Scheitern. Jean-Paul Dubois hat mit diesem Buch viele Saiten in mir zum Klingen gebracht.

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  1. 5
    15. Aug 2020 

    Humane Botschaft und großartige Sprachbilder

    Jean Paul Dubois ist bei uns, obwohl schon ein paar Bücher von ihm ins Deutsche übersetzt wurden, wenig bekannt. Das dürfte sich nach diesem Roman ändern. Für „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“ erhielt der französische Autor 2019 den Prix Concourt, völlig zu Recht, wie ich finde.
    Im Mittelpunkt steht Paul Hansen, ein eher unscheinbarer Mann Mitte Fünfzig, nett und hilfsbereit. Der aber sitzt zu Beginn des Romans im Gefängnis von Montreal. Er teilt sich eine Zelle mit einem Hünen von einem Mann, mit Patrick Horton. Der, ein Mitglied der Hells Angels, ist wegen Mordverdacht an einem Kumpel hier.
    Der Roman versucht nun zu ergründen, warum einer wie Paul in eine solche Situation kommen konnte. Dazu geht der Autor zurück in die Vergangenheit seines Protagonisten.
    Paul erinnert sich an seine Kindheit in Toulouse. Geboren wurde er 1955 als Sohn eines ungleichen Paares. Sein Vater Johanes Hanson entstammt einer Fischerfamilie aus Jütland. Er hat aus einer eher spontanen Überlegung heraus den Beruf des Pastors ergriffen. Die Mutter Anna Margerit, eine lebenshungrige Französin, übernimmt nach dem Unfalltod ihrer Eltern deren kleines Kino. Trotz ihrer Unterschiede ist das Paar anfangs glücklich. „ Im April des Jahres 1960 entsprach die Familie Hansen dem Besten und Konventionellsten , was die Zeit zu bieten hatte.“ Allerdings hat Anna Margerit überhaupt keinen Zugang zur Religion, setzt keinen Fuß in die Kirche, in der ihr Mann predigt.
    Doch die Zeiten ändern sich, die Welt befindet sich im Wandel. „Um mein zehntes Lebensjahr herum konnte jeder, der ein wenig aufmerksam war, die Scharniere der alten Welt knarzen hören.“ Die Mutter macht aus dem Kino einen Versammlungsort für moderne revolutionäre Ideen und zum endgültigen Bruch der Eheleute kommt es, als Anna Margerit dort einen skandalösen Pornofilm zeigt. Der Pastor verliert seine Arbeit und wandert nach Kanada aus. Der mittlerweile erwachsene Paul folgt seinem Vater in die asbestverseuchte Minenlandschaft nach Thetford Mines. Hier wird seit Jahrzehnten die Erde ausgebeutet, ohne Rücksicht auf Natur und Mensch. Aber der Vater scheitert auch hier und Paul kann ihm nicht helfen.
    Nach dessen Tod zieht er nach Montreal und findet seine Lebensaufgabe als Verwalter einer großen Wohnanlage, dem Excelsior. 26 Jahre lang kümmert sich Paul nicht nur um die Instandhaltung und die Reparaturen des Hauses, sondern sorgt auch für deren Bewohner, ist „ Krankenpfleger“, „ Beichtvater“ und „ Psychologe“. „ An einigen Abenden hatte ich das Gefühl, mehr Zeit damit verbracht zu haben, dem Knarzen der Seelen zu lauschen, als damit, dem Knirschen der Extraktoren auf dem Dach auf den Grund zu gehen.“
    Zu seinem großen Glück lernt er Winona kennen und Paul verliebt sich sofort. Sie arbeitet als Pilotin und ist mit ihrer irischen Mutter und einem Vater aus dem Stamm der Algonkin- Indianer das „ hervorragende Kondensat zweier Welten.“
    Elf Jahre dauert ihr Glück: „Meine Frau war der Umhang, der Stab, das Kaninchen und der Hut zugleich.“ Bis eines Tages das Schicksal wieder zuschlägt.
    Und auch im Exelsior haben sich die Zeiten geändert. Mitmenschlichkeit ist nicht mehr gefragt, stattdessen geht es um Effizienz. Letztendlich führt das zu jener Tat, die Paul ins Gefängnis bringt und für die jeder Leser Verständnis hat.
    Paul Dubois wechselt in seinem Buch gekonnt zwischen den Erinnerungen seines Ich- Erzählers und den Beschreibungen vom Gefängnisalltag. Dabei ist er ein genauer Beobachter und findet unzählige Vergleiche, die das Leben dort anschaulich machen.
    Eine großartige Figur ist auch Pauls Zellennachbar Patrick. Nach außen derb und aggressiv, doch immer wieder kommt seine ängstliche und verletzte Seele zum Vorschein. Das führt oftmals zu skurrilen und komischen Szenen. Langsam entsteht eine Verbindung zwischen den beiden so unterschiedlichen Männern.
    Auch andere Nebenfiguren bekommen ihre eigene Geschichte, gemäß dem Titel des Romans „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“. Jeder Mensch lebt in seinem eigenen Universum, hat sein ganz persönliches Schicksal. Trotzdem ist Nähe, Freundschaft und Liebe möglich. Aber nur, wenn jeder genügend Toleranz für den anderen aufbringt und nicht nur sein eigenes Befinden im Blickwinkel hat.
    Dubois bringt Menschen aus den verschiedensten Milieus und Nationalitäten zusammen und alle wirken lebendig und authentisch. ( In einem Interview erzählte der Autor, dass er in seinen Romanen fast nichts erfinde und seine Figuren lehnen sich an reale Vorbilder an.)
    Neben den privaten Ereignissen arbeitet Dubois Zeitgeschehen und Gesellschaftskritik unaufdringlich in den Text ein.
    Der Autor erzählt mit leichter Hand und einigen Anekdoten eine zutiefst traurige Geschichte . Er berichtet von einem Mann, der voller Menschenliebe und Verständnis für andere sein Leben geführt und zum Schluss alles verloren hat. Allerdings gönnt er dem Leser ein hoffnungsvolles Ende.
    Das Besondere an dem Roman ist nicht nur die humane Botschaft, auch nicht die kunstvolle Konstruktion, sondern vor allem die großartige Sprache, über die Dubois verfügt. Seine Vergleiche und Metaphern machen das Buch zu einem wunderbaren Lesevergnügen.

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  1. Sprachlich top, inhaltlich schlank.

    Kurzmeinung: Liest sich gut und ist amüsant, arbeitet aber mehr mit Effekten als mit Reflexion.

    Jean-Paul Dubois stellt in seinem 2019 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“ in erster Linie das Leben und Schicksal eines Hausmeisters dar, der eines Tages nach einer heftigen Tätlichkeit im Zuchthaus landet. Von dort aus lässt Jean-Paul Dubois seinen Icherzähler Paul die Stationen seines Lebens aufscheinen. Dabei ist der Autor durchaus schnurrig.

    Die Szenen im Zuchthaus sind eindrücklich und stark. Doch das bevorzugte Stilmittel Dubois ist die Überzeichnung seiner Figuren. Es ist schon seltsam, dass der Roman nur dadurch (über)lebt, dass der Hausmeisterheld Paul durchweg von sehr ungewöhnlichen Menschen umgeben ist. Es fängt schon mit den Eltern und deren Herkunft an, seine Mutter ist eine moderne, eigensüchtige Französin, die ein Kino betreibt, sein Vater ein eigenwilliger, aufrechter und sturer Däne, der, eigentlich atheistisch geprägt, protestantischer Pastor in Frankreich und Kanada wird, was zu einigen pseudotragischen Verwicklungen führt und den Protagonisten Paul himself, ethnisch Däne, ins franko-kanadische Montreal verschlägt. Sein Zellengenosse ist ein Hell Angel mit Phobien, seine Frau eine irisch-indianische Fliegerin, und die Menschen, die Paul beruflich trifft, haben ebenfalls entweder ungewöhnliche Berufe oder arge Schrullen.

    So lebt der Roman vom Zusammenwürfeln der merkwürdigsten Umstände und Menschen. Zu viel für ein einziges Leben. Zu konstruiert für meinen Geschmack.

    Der Stil schwankt zwischen genialen Vergleichen, Gags bis in die Fingerspitzen (sehr kurze Nebenrollen werden mit den Namen von B-Celebrities besetzt), sprachlichen Verrenkungen, Manieriertheit und triefendem Zynismus. Das ist des Autors zweites Stilmittel, er teilt nach rechts und links aus, immer zynisch, ironisch, durchaus mit klugen, treffenden Beobachtungen. Augenzwinkern oder Tiefschlag? Die Auseinandersetzung mit dem Anvisierten bleibt indes an der Oberfläche. Es wird angerissen, nicht durchbuchstabiert. Das Meiste ist Effekthascherei.

    Was der Autor sehr gut macht, ist die Darstellung des Scheiterns einer gewöhnlichen Figur. Die Figur des Hausmeisters ist dem Autor dann auch am besten gelungen, ein Spielball seiner Einfachheit, seiner Ideenlosigkeit, seiner passiven Lebensführung, seines Fatalismus; die anderen Protagonisten jedoch sind hauptsächlich witzig, überzogen, skurril, man ist amüsiert, aber sie sind eben auch so überzogen und besonders, dass ihre emotionale Wirkung gegen Null geht.

    Die Jury des Prix Goncourt argumentiert unter anderem, die geographische Nichtverortung des Protagonisten, wir sind in Frankreich, Dänemark, Kanada und ein bisschen in Irland, zeige das Zeitgenössische. Damit hat sie nicht unrecht. Doch der Autor spielt nur mit diesen Gegebenheiten, er spielt sie nicht aus. Es sind deshalb nur verwirrende und unnötige Komponenten.

    Das Spielerische des Romans kommt auch in anderen Dingen zum Ausdruck. Die Protagonisten interessieren sich für den Aufbau von Hammondorgeln, für die Herkunft von Lautsprechern, für Kolibris und natürlich für Motorräder. Was auch immer den beiden Zuchthäuslern durch den Kopf schießt, daraus macht der Autor eine Minivorlesung. Das ist informativ und sogar witzig. Seitenfüllend. Aber mehr halt auch nicht.

    Fazit: Sprachlich ist Dubois ein Könner, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den, immer ironisch vorgebrachten, lediglich angerissenen Themen, darf man nicht erwarten.

    Kategorie. Anspruchsvolle Literatur
    Verlag: dtv, 2020

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  1. 5
    12. Aug 2020 

    Eine Perle!

    Gleich mal vorneweg:
    Der Titel gefällt mir gar nicht. Ich finde ihn zu lange, zu sperrig und ziemlich unpassend.
    Die folgende Rezension ist recht lang. Warum?
    Weil meine Begeisterung so groß ist.
    Die Kurzversion:
    Unbedingt lesen! Ein Highlight.

    Wir beginnen zu lesen, reisen zurück in den Dezember 2009 und befinden uns zusammen mit dem 54 jährigen Ich-Erzähler Paul und seinem Mithäftling, dem Hells-Angel-Biker Patrick, in einer 6 m² großen Zelle in einem Gefängnis in Montreal.

    Der schlaflose Paul.
    Der vor Zahnschmerzen im Schlaf stöhnende Patrick.
    Wehmütige und beruhigende Erinnerungen.
    Ratten und Mäuse.
    Dunkelheit.
    Kälte.

    Seit neun Monaten teilen sich die Beiden ihr kärglich eingerichtetes Domizil in der Haftanstalt.

    Patrick war wohl an einem Mord beteiligt, Paul konnte gerade noch von einem Mord abgehalten werden.

    Paul, der ein Vierteljahrhundert lang engagiert und selbstlos seiner Hausmeistertätigkeit in einer exklusiven Wohnanlage nachging, muss nun 2 Jahre im geschlossenen Vollzug verbringen, vermisst seine Arbeit und erinnert sich immer wieder an seine verstorbenen Lieben:
    Pastor Johanes, sein Vater.
    Die Algonkin-Indianerin Winona, seine Frau.
    Nouk, seine Hündin.

    Wie konnte aus Paul, der zunächst und auch im weiteren Verlauf des Romans einen so sympathischen, empathischen, zuverlässigen, fleißigen, hilfsbereiten und rechtschaffenen Eindruck macht, fast ein Mörder werden?
    Was bringt einen gutmütigen Menschenfreund wie ihn dazu, jemanden fast umzubringen?

    Warum sträubt sich Paul, der im Gefängnis hervorragende Beurteilungen für sein vorbildliches Benehmen bekommt und gute Aussichten auf Strafverkürzung hat dagegen, auszusprechen, dass er sich der Schwere seiner Tat bewusst ist und dass er sie aufrichtig bereut?

    Im Verlauf lässt uns Dubois abwechselnd in Pauls Vergangenheit und in das Hier und Jetzt der Gefängniszelle eintauchen.
    Wir erfahren auf diese Weise so Einiges über Pauls Herkunft und Aufwachsen.
    Sein Vater wuchs in Skagen, einer kleinen Stadt in Dänemark, auf.
    Mit seiner Berufswahl kehrte er der familiären Tradition, Fischer zu werden, den Rücken.
    Seine Mutter Anna wurde in Toulouse geboren, war die Tochter von Kinobesitzern und trat schließlich in die beruflichen Fußstapfen ihrer Eltern.
    Die beiden trafen sich in Skagen, heirateten und zogen nach Toulouse, wo 1955 Paul das Licht der Welt erblickte.

    Seine Kindheit und Jugend scheinen unauffällig und durchschnittlich gewesen zu sein.
    Es fallen keine großartig erschwerenden Entwicklungsbedingungen auf.

    Auffallend ist, dass die Beziehung zu seiner Mutter ziemlich kühl und distanziert war und weitere Schwierigkeiten scheinen zu sein, dass sein Vater, der Pastor, sich nicht gut in Frankreich integrieren konnte, er war Däne mit Leib und Seele, und dass seine Mutter, eine fortschrittlich denkende Kinobesitzerin, mit Kirche und Religion so gar nichts anfangen konnte und keine Rücksicht auf den Beruf ihres Mannes nahm.
    Beides führte immer wieder zu Streitigkeiten und Zerwürfnissen.
    Erst weniger, dann immer mehr.
    Durchs Abitur rutschte Paul gerade so durch, das Studium gefiel ihm nicht besonders.
    Zu Hause lebte man nebeneinander her, die Streitpunkte zwischen den Eltern wurden gewichtiger und ernster.
    Kino gegen Kirche.

    Der Vater wurde schließlich entlassen. Seine Frau hat es mit ihrer Geschäftstüchtigkeit allzu ernst genommen und Rücksichtslosigkeit und Unnachgiebigkeit haben Oberhand genommen.
    Trennung, Neubeginn...

    Eine auf den ersten Blick relativ unspektakuläre, wenn auch sehr traurige Geschichte des Scheiterns einer Ehe und des Zerbrechens einer Familie. Eine Geschichte, wie man sie leider zu häufig antrifft.

    Wieder drängt sich die Frage auf: Wann ist was passiert, das Paul fast zu einem Mörder werden ließ?

    Sprachlich gefiel mir die Lektüre ausgezeichnet: ein lockerer, leichter, bisweilen flapsiger Plauderton,
    einerseits nüchtern und emotionslos, die Gefühle entstehen beim Leser wie von selbst, andererseits mit viel Witz und trockenem Humor.

    Diese nüchterne und zum Teil sarkastische Erzählweise zeigt die Brillanz des Autors, denn er gibt dem Ich- Erzähler Paul damit einen seiner Situation angemessenen Erzählton. Menschen, die einen grossen emotionalen Schmerz mit sich herumtragen, können über ihre innere Not oft nur reden, wenn sie es genau auf diese Weise tun. Paul gehört meines Erachtens zu diesen Menschen.

    Angereichert hat Dubois seine Geschichte mit schönen Bildern, beeindruckenden Metaphern und interessanten sowie detaillierten Informationen zu diversen Themen.
    Ausufernd oder langweilig werden diese Ausflüge zu Autos, Asbestbelastung, Laurens Hammond und seiner Hammond - Orgel, Pferderennen, den komplizierten Instandhaltungsmaßnahmen von Schwimmbädern und zum vielseitigen und anstrengenden Beruf eines Hausmeisters jedoch nicht.

    Klare, detaillierte und ungeschönte Beschreibungen des Gefängnisalltags kommen in dem 256 seitigen Roman auch nicht zu kurz.

    Es ist gleichermaßen eklig wie amüsant, die Entleerungszenen von Patrick detailreich beschrieben zu bekommen. Überhaupt ist Patrick einer, der der Geschichte Pep und Leichtigkeit verpasst. Und Patricks Charakter und Struktur ist es auch, die, wie die von Johanes und Paul, von Dubois wunderbar seziert wird.

    Dubois lässt sich Zeit beim Erzählen und erschafft ein unaufgeregtes und ruhiges Stück Literatur. Er ist ein Meister der bildhaften Umschreibung neutraler und wohlgefälliger Dinge.
    Statt „(sie) kritisierten leidenschaftlich die Obszönität der gezeigten Filme“ schreibt er „(sie) kritisierten leidenschaftlich die widernatürliche Verwendung dieser weit geöffneten Kehle.“ (S. 76)

    Ich kann nicht umhin, einige Beispiele für seinen Witz und für wunderbare Formulierungen anzuführen:

    In Skagen spricht man „Fisch“ (S. 26) und Religion ist eine „Sportart“ (S. 27).

    „Um mein zehntes Lebensjahr herum konnte jeder, der ein wenig aufmerksam war, die Scharniere der alten Welt knarzen hören“ (S. 33) - ein schönes Bild dafür, dass sich die Welt im Wandel befand.

    „Ein langes Pfeifen, ein leichtes Ruckeln, und der Motor genehmigte sich ein Mittagsschläfchen von drei Stunden.“ (S. 54)

    „Die Bibel vollzog einen majestätischen Gleitflug durch die Zelle und schlug gleich einem mit Schrot erlegten Vogel gegen die salpetrige Wand, hinter der man die Nagetiere scharren hörte.“ (S. 57)

    Um zu beschreiben, wie der Pastor eine Predigt hält, schreibt er: „Er schwamm durch seine Worte wie ein Fisch im Wasser.“ (S. 115)

    „(Es war schwer, diese 230.000 Liter Wasser des Schwimmbeckens) im Gleichgewicht zu halten, die sofort umkippen wollten, wenn ihr pH-Wert einbrach, oder sich zu biologischen Extravaganzen hinreißen ließen und eine ganze Algenkolonie einluden, welche, je nach Form und Farbe, das Becken in einen großen Molkereitank verwandelten oder ihm das wenig verlockende Kolorit von Spinat verliehen.“ (S. 149)

    „Die Walze der Stunden zermalmt in ihrem unerbittlichen Voranrollen jedes Quäntchen Hoffnung, das in mir noch vorhanden sein möchte.“

    Ich könnte noch unzählige beeindruckende Formulierungen anführen.

    Die Figuren werden nicht eindimensional als Stereotype, sondern in ihrer Komplexität dargestellt.
    Es ist z. B. sehr interessant und amüsant, die unterschiedlichen Seiten von Patrick kennenzulernen.

    Mich überzeugte der Roman mit seiner Sprache, den wunderbaren Bildern, der abwechslungsreichen und zunehmend packenden Handlung, den interessanten Informationen, der stimmigen Auflösung und dem rundes Ende.

    Paul scheint, trotz aller Widrigkeiten seinen inneren Frieden gefunden zu haben und ich habe mich wunderbar unterhalten gefühlt.

    Dieser Roman ist eine Perle, der die Auszeichnung Prix Goncourt 2019 verdient hat.

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  1. Wie kommt ein Philanthrop ins Gefängnis?

    Die Aufzeichnungen des Ich-Erzählers Paul setzen 2009 ein. Paul sitzt in der Haftanstalt Montreal ein. Sein Strafmaß lautet auf 2 Jahre, 14 Monate hat er bereits abgesessen. Er verschmäht eine Haftverkürzung, zeigt keine Reue für das begangene Verbrechen, das fast bis zum Ende des Romans nur in Andeutungen Erwähnung findet. Pauls ungleicher Zellengenosse Patrick ist äußerlich ein bulliger Hüne, der passionierter Harley-Biker sowie Mitglied bei den Hells Angels ist. Innerlich ist er ein kameradschaftlicher, liebenswerter Typ mit verschiedenen Phobien. Patrick soll in einen Mord im Biker-Umfeld verwickelt sein und wartet noch auf seinen Prozess.
    Paul betrachtet das Gefängnis als einen lebenden Organismus: „Zu dieser Stunde schläft das Gefängnis. Nach einer gewissen Zeit, wenn man sich an seinen Stoffwechsel gewöhnt hat, hört man im Dunkeln sein Atmen wie das eines großen Tiers, hin und wieder Husten und sogar Schlucken. Das Gefängnis verschlingt uns, verdaut uns, und, zusammengerollt in seinem Bauch, gekauert in die nummerierten Falten seiner Gedärme, zwischen zwei Magenkrämpfen, schlafen und leben wir, so gut es geht.“ (S. 9)

    Die Haftzustände sind miserabel: Schlechtes Essen, Kälte, Ungeziefer, keine Privatsphäre – der Alltag wird sehr trostlos geschildert. Paul und Patrick freunden sich an. Paul scheint ein zutiefst trauriger Mensch zu sein. Regelmäßig besuchen ihn seine „drei Toten“, das sind sein Vater Johanes Hansen, seine Frau Winona und seine Hündin Nouk. Insofern ist die Grundstimmung gedrückt. Paul erzählt seine Geschichte jedoch durchaus leichtfüßig, er lamentiert nicht und würzt manche Szene mit einem ironisch-zynischen Unterton, der dem Geschehen die Schwere nimmt.

    Paul erzählt Bedeutsames aus seinem Leben. Als Sohn eines dänischen Pastors und einer französischen Kino-Betreiberin hatte er eine unbeschwerte Kindheit. Erst mit der Trennung der Eltern, da war Paul 20 Jahre alt, gerät die Familie in unruhigere Fahrwasser: „ Das Jahr 1975, in dem ich zwanzig wurde, markierte das Ende einer Welt, der unsrigen, der der Hansens, der Leute des Nordens und des Südens, die so viele Kilometer überwunden und so viele private Opfer auf sich genommen hatten, um sich zu vereinigen.“ (S. 70)

    Paul ist ein fauler Student, jedoch ein passionierter Handwerker mit Interesse für alles Technische. Seine Erzählung gleitet durch die Zeit, sie erzählt nicht nur Episoden aus dem privaten Umfeld der Familie Hansen, sondern auch Ereignisse aus dem gesellschaftspolitischen Bereich. Diese Einschübe führen zeitweise von der Haupthandlung weg, die sich im Wesentlichen um den Alltag in der Haftanstalt 2009 und die Lebensgeschichte der männlichen Hansens dreht.

    Nach der Scheidung migriert Johanes nach Kanada, um dort neu anzufangen. Dem Pastor gelingt die Rückkehr in ein befriedigendes Arbeitsleben in Thetford Mines, einem Städtchen, das von der Asbest-Gewinnung lebt. Paul verdingt sich als Praktiker, bis er schließlich als Gebäudeverwalter der Wohnanlage Excelsior eingestellt wird. Eine Tätigkeit, die ihn über lange Jahre ausfüllt, wohnen doch 68 Parteien in dem Komplex. Paul ist weit mehr als ein Verwalter, er ist der gut integrierte Mann für alle Fälle mit dem Herz am rechten Fleck.

    Leider verlaufen die Leben von Paul und seinem Vater nicht geradlinig. Es gibt Schicksalsschläge und falsche Entscheidungen, die zu mehr Tiefen als Höhen führen.
    Während des Lesens war ich manchmal irritiert. Was ich oben als vom Hauptgeschehen wegleitende Einschübe bezeichnete, hat bei mir stellenweise Langeweile ausgelöst, ich konnte keinen Sinn darin erkennen. Manche Episode steht für eine Epoche, auch für Probleme der Zeit, doch es werden auch Skurrilitäten geschildert, die den Ernst des Romans auflockern. Nach der Beendigung der Lektüre jedoch erschloss sich mir so manche Szene, vieles passt zusammen.
    Der Autor hat seine Geschichte sehr intelligent konzipiert. Die zunächst vagen Andeutungen bekommen mit Kenntnis des Gesamtwerks (überwiegend) einen Sinn.

    Er behandelt ein großes Spektrum an Themen, hat eine Fülle facettenreicher Charaktere geschaffen, die uns durch den Erzähler glaubwürdig geschildert werden und unterschiedlichen Milieus entstammen. Die Palette geht dabei von rührend bis skrupellos, die Stärke liegt im Dazwischen. Er schildert glückliche Zeiten, Abschiede, er berichtet von Zweifel, Scheitern und Neuanfang. Lange Zeit passt sich Protagonist Paul an die Unwägbarkeiten des Lebens an und versucht, das Beste für sich und seine ihm Anvertrauten zu tun. Er ist ein Menschenfreund, ein Sympathieträger. Bis es irgendwann zu dem Ereignis kommt, das ihn in die Haftanstalt bringt.

    Das Besondere am Roman ist die Sprache, die mir zu beschreiben schwer fällt, weil sie einfach einzigartig ist. Paul berichtet in Metaphern und Bildern sehr ausdrucksstark. Fast auf jeder Seite möchte man zitieren oder markieren. Große Gefühle werden auf den Punkt gebracht: „Meine Frau war der Umhang, der Stab, das Kaninchen und der Hut zugleich.“ (S. 216)

    Das Ende des Romans beinhaltet Ende und Anfang. Der Erzähler macht sich wohl eine Philosophie seines Kumpels Patrick zu eigen: „Das Leben ist wie die Gäule, mein Sohn: Wenn es dich abwirft, hältst du die Schnauze und steigst sofort wieder auf.“ (S. 232)
    Insofern ist es kein durchweg trauriges Buch, sondern ein nachdenkliches. Für mich persönlich musste das Lektüreerlebnis noch etwas nachreifen, ich musste das Gelesene setzen lassen, das Buch noch ein paar Mal durchblättern…

    Völlig zu Recht hat dieser besondere Roman den Prix Goncourt 2019 gewonnen. Bitte lest dieses Buch, aber gebt ihm - wie einem guten Wein - die Zeit, die es braucht, um sich zu entfalten.

    4,5/5 Sterne

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  1. Die eigentümliche Lebensgeschichte von Paul Hansen

    "Das Excelsior war wie Zahnpasta, schnell dabei, aus der Tube zu quellen, doch wenig bestrebt, wieder in sie zurückzukehren." (Buchauszug)
    Paul Hansen sitzt im Gefängnis in Montreal in einem baufälligen, heruntergekommenen Condo, das sie zu zweit belegen. Sein Mitinsasse Hells Angel Biker Patrick, ein Hüne von Mann hat genauso seine Eigenheiten wie Paul selbst. So bekommt er zum Beispiel von einer Maus regelrecht Panik. Wir gehen zurück in Pauls Vergangenheit nach Frankreich, wo er als Sohn eines dänischen Pastors und einer französischen Mutter und Kinobesitzerin zur Welt kam. Doch nach der Scheidung ihrer Eltern zieht der Vater nach Kanada, wo später auch Paul sein neues Leben beginnt. Als Hausmeister im Excelsior fristet er sein Leben, zwischen Swimmingpool, Heizanlagen und alten Menschen. Lediglich seine Frau Winona und Hund Nouk geben seinen Leben einen Sinn.

    Meine Meinung:
    Das preisgekrönte Buch des Franzosen Jean-Paul Dubois, hat mich durch den Klappentext neugierig gemacht, den bisher kannte ich diesen Autor noch nicht. Besonders weil es ausgezeichnet wurde, wollte ich gerne mehr von Paul Hansens Vergangenheit wissen. Der Schreibstil ist einfach, allerdings nicht gerade so, dass man dieses Buch nebenher lesen kann. Den der Inhalt ist schon teilweise recht technisch, kompliziert und durchaus auch mal trocken. Ich war schon etwas enttäuscht, den ich hatte doch teilweise eine etwas andere Vergangenheit erwartet. Sei es die Lebensgeschichten der Eltern, die unterschiedlicher nicht sein kann, sie scheitert dann auch irgendwann an ihren recht verschiedenen Interessen. Leidtragender aus dem Ganzen ist natürlich wie immer der Sohn in dem Fall Paul. Zudem wirkt Dubois Humor in diesem Buch oft auf mich recht trocken und nicht immer kann ich mich darüber amüsieren. Besonders wenn viele Einlagen den Gastrointestinaltrakt betreffen, fand ich das schon ein wenig schräg. Doch mitunter bringt er auch recht humorvolle Einlagen, sei es die Haare schneiden bei Zellengenosse Patrick. Dieser hat deshalb eine regelrechte Phobie, bei der bis auf seine Mutter, seither jeder gescheitert ist. Überhaupt gefallen mir die Abschnitte, bei denen ich Paul im Gefängnis erlebe besonders gut. Dagegen sind viele Szenen aus der Vergangenheit regelrecht überladen mit technischen Details oder für mich einfach zu belanglos. Am ehesten gefiel mir noch die Zeit, wo er als Hausmeister und Mädchen für alles im Excelsior arbeitet. Dieses Gebäude, das für mich ein wenig wie ein exquisites Altenheim vorkommt, bestimmt immer mehr Pauls Leben. Den mit den Jahren ist er nicht nur Hausmeister, sondern übernimmt immer mehr zeitaufwendige Tätigkeiten für die älteren Insassen. Dieses Buch ist eine Geschichte, die man wirklich in Ruhe lesen sollte. Man darf sich dabei nicht ablenken lassen, sonst überliest man recht schnell die kleinen Details, die der Autor hier gerne mit einbaut. Es gibt wenig Höhepunkte, sondern Pauls Leben plätschert im Grunde so dahin, wie es begonnen hat. Wenn überhaupt, dann vielleicht erst am Schluss, als man erfährt, warum er in Haft ist. Für mich war es allerdings wenig überraschend, da ich gegen Ende zu mir schon fast denken konnte, warum er im Gefängnis war. Die Charaktere sind zwar alle recht gut durchdachte, doch für mich blieben sie teilweise zu oberflächlich. Trotz einiger Enttäuschungen und anderen Erwartungen, konnte mich dieses Buch dann doch noch etwas begeistern, deshalb von mir 3 1/2 von 5 Sterne.

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  1. Ein Menschenfreund

    Die beiden Zellenbewohner im Montrealer Gefängnis könnten nicht unterschiedlicher sein und doch kommen sie überraschend gut miteinander aus. Der Hells Angel Patrick Horton, ein gefängniserprobter, knallharter junger Hüne mit Panik vor Nagetieren und Haareschneiden, wartet wegen Beteiligung an einer Exekution auf seinen Prozess. Ganz anders sein Zellengenosse, der bisher gänzlich unauffällige, unbescholtene Paul Hansen, der von seinen Toten besucht wird: seiner angebeteten Frau Winona, seinem Vater Johanes und seiner Hündin Nouk. Zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung wurde er verurteilt, ein „angemessenes Strafmaß im Verhältnis zur Schwere des Delikts“, das „weder dramatisch noch harmlos ist“. Für Spannung sorgt, dass wir erst am Ende der gut 250 Seiten den Grund für die Verurteilung des Ich-Erzählers Paul und seine fehlende Reue erfahren:

    "Das Gericht besitzt die vollständige Aktenkenntnis von mir. Es hat alle Zeugen gehört und mich lange vernommen. Es hat mich zu zwei Jahren Haft verurteilt. Alles ist gesagt. Wenn sie mich vorzeitig entlassen wollen, dann ist das ihre Sache. Ich werde aus ihren Händen keine Reuekörner picken, um ein paar Monate Freiheit zu erbetteln." (S. 56)

    Gegenwart und Vergangenheit
    Szenen aus dem Gefängnisalltag wechseln ab mit Pauls Rückblick auf sein Leben. Geboren 1955 in Toulouse als Kind einer ungleichen Verbindung zwischen einem dänischen Pastor aus Skagen und einer französischen Programmkino-Erbin, „die sich den Dingen der Kirche und des Glaubens hermetisch verschloss“ und keinerlei Rücksicht auf den Beruf ihres Mannes nahm, ging er nach der Scheidung der Eltern mit dem entwurzelten, in seinem Glauben erschütterten und nicht mehr zur Ruhe findenden Vater 1976 nach Kanada.

    Als Hausmeister einer Wohnanlage in Montreal war Paul für weit mehr als die Haustechnik und den heimtückischen Pool zuständig. Auch seinen einzigen Freund fand er dort:

    "Kieran Read ist einer der achtundsechzig Eigentümer, die in Montreal im Ahuntsic-Viertel eine Wohnung im Dondo Excelsior besitzen, dessen Verwalter ich sechsundzwanzig Jahre lang war, dessen Concierge, Faktotum, Krankenpfleger, Beichtvater, Gärtner, Psychologe, Elektroniker, Klempner, Elektriker, Küchenverkäufer, Chemiker, Mechaniker, kurzum: ehrbarer Hausmeister dieses kleine Tempels, dessen Schlüssel ich fast alle besaß, dessen Geheimnisse ich alle kannte." (S. 104)

    Berufliche Erfüllung und privates Glück mit seiner Frau und geliebten „Zauberindianerin“ Winona, väterlicherseits Algonkin-Indianerin, mütterlicherseits Irin, bescherten ihm Jahre tiefer Zufriedenheit, bis sich die Verhältnisse ab Ende 1999 dramatisch veränderten.

    Ein Sprachkünstler
    Den 1950 in Toulouse geborenen, in Frankreich populäre Jean-Paul Dubois, der für diesen Roman 2019 überraschend den Prix Goncourt erhielt, kannte ich bisher nicht. "Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise" spiegelt das Leben eines unauffälligen, genügsamen Mannes an den äußeren Veränderungen einer Zeit, in der gelebte Menschlichkeit seltener wird. Schwer zu glauben, dass irgendjemand von diesem Scheitern nicht erschüttert würde oder die Tatmotive des ehrlich wirkenden Ich-Erzählers nicht verstünde. Vor allem Dubois‘ zwischen flapsig-humorvoll und ernst-melancholisch mäandernde Erzählweise und sein unerschöpflicher Vorrat origineller Sprachbilder und Metaphern begeisterten mich, allerdings schweifte die Beichte immer wieder in weniger interessante Gefilde ab.

    Jedes Lebensschicksal in diesem lesenswerten Roman ist anders, jedem wird die nötige Aufmerksamkeit zuteil und jeder bewohnt die Welt auf seine Weise.

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