Jakobsleiter: Roman

Rezensionen zu "Jakobsleiter: Roman"

  1. 5
    01. Mai 2020 

    Panorama russischen Lebens

    Die heute 74jährige Ljudmila Ulitzkaja ist eine der weltweit erfolgreichsten Schriftstellerinnen Russlands und sie hat auch in Deutschland eine treue Lesergemeinde. Sie verbindet in ihren Büchern „ die jüdische Erzähltradition mit moderner Erzählkunst.“ Sie schreibt Drehbücher, Theaterstücke, Romane und Erzählungen. Für ihr Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, so z.B. dem Russischen Booker Preis, dem Orden der Französischen Ehrenlegion und dem österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Sie äußert sich auch öffentlich als Gegnerin des russischen Präsidenten Putin.
    Geboren wurde Ljudmila Ulitzkaja mitten im Krieg, im Jahr 1943 im Ural, wohin ihre Familie evakuiert worden war. Aufgewachsen ist sie in Moskau, wo sie heute auch lebt. Zur Schriftstellerin wurde sie erst spät. Zunächst arbeitete sie als Genetikerin, bis sie 1970 ihre Arbeit verlor, weil sie verbotene Literatur verbreitet hatte. Später war sie Dramaturgin am Theater und begann zu schreiben. Ende der 1980er Jahre veröffentlichte Ljudmila Ulitzkaja ihre ersten Erzählungen.

    Zum Buch:
    In ihrem neuesten Roman „Jakobsleiter“ steht eine russische Familiengeschichte im Zentrum des Erzählens. Das Schicksal der Figuren wird wie oft in ihren Büchern durch die großen historischen Umwälzungen bestimmt. „Jakobsleiter“ ist sicherlich Ulitzkajas persönlichster Roman. Jahrelang hatte sie eine Mappe mit dem Briefwechsel ihrer Großeltern bei sich daheim, aber erst 2011 begann sie darin zu lesen. Und diese Briefe, an die 500 Stück, Akten und andere Dokumente hat sie in diesem großen Familienroman verarbeitet. Herausgekommen ist eine gelungene Mischung aus Realität und Fiktion.
    Der eine Erzählstrang besteht aus den Briefen und Tagebuchaufzeichnungen von Jakow Ossetzki. Hierin erfahren wir von ihm und dem Leben seiner Frau Maria. Diese, 1890 geboren, war künstlerisch begabt und studierte Tanz und Reformpädagogik. Sie lernt 1911 bei einem Konzert Jakow kennen, einen gebildeten Wissenschaftler, der sich leidenschaftlich für Literatur und Musik interessiert. Die beiden verlieben sich und heiraten. 1916 kommt Sohn Genrich zur Welt. Als es 1917 zur Oktoberrevolution kommt, beginnen die Konflikte zwischen dem Paar. Während Maria als überzeugte Marxistin das kommunistische System bewundert, sieht Jakow die gesellschaftliche Entwicklung kritisch. Er vertritt eine humanistische Haltung und verteidigt die persönliche Freiheit. 1931 gerät Jakow im Zuge der stalinistischen Säuberungen in Haft und wird wegen vermeintlicher Sabotage angeklagt. 13 Jahre wird er in verschiedenen Lagern verbringen, erst 1956 nach Stalins Tod wird er rehabilitiert. Trotz der zahlreichen Briefe, die sich Jakow und Maria schreiben, kommt es zu einer Entfremdung zwischen den Eheleuten. „Briefmarken halten keine Ehe zusammen.“ heißt es im Buch. Maria beantragt heimlich eine Fernscheidung und heiratet erneut. Acht Monate nach seiner Entlassung stirbt Jakow an einem Herzinfarkt.
    In einem zweiten Erzählstrang wird das Leben von Enkelin Nora verfolgt, in der man unschwer das Alter Ego der Autorin erkennen kann.
    Nora arbeitet als Bühnenbildnerin und ist alleinerziehende Mutter. Der Vater ihres Sohnes ist Vitja, ein autistischer, hochbegabter Mathematiker, der eines Tages nach Amerika auswandert. Noras Liebe aber gilt dem georgischen Regisseur Tengis, der immer wieder bei ihr auftaucht, mit Nora erfolgreiche Theaterprojekte im In- und Ausland realisiert und danach wieder aus ihrem Leben verschwindet. Sohn Jurik geht ganz in der Musik auf, zieht einige Jahre als Gitarrist durch New York, bis Nora den Heroinsüchtigen nach Hause holt.
    Viel Stoff und noch viel mehr Geschichten, die Ljudmila Ulitzkaja vor dem Leser ausbreitet. Dazu kommen zahlreiche Exkurse über Musik, Literatur und vor allem über das Theater. Geschickt verbindet die Autorin die beiden Erzählstränge und liefert so ein Panorama russischen Lebens im letzten Jahrhundert, von der Zarenzeit bis in die postsowjetische Zeit. Gleichzeitig ist „Jakobsleiter“ ein praller, lebensnaher Familienroman mit unvergesslichen Figuren, der nebenbei die ganz großen Fragen stellt.

    Mein Eindruck:
    Obwohl mich das Thema und die Autorin sehr interessiert hat, habe ich etwas gebraucht, um in das Buch hineinzukommen. Anfangs blieben mir die Figuren seltsam fremd. Doch das hat sich bald geändert und ich habe mit Freude weitergelesen. Wie immer in russischen Romanen gibt es viel Personal. Damit der Leser sich zurechtfindet, ist am Anfang ein Stammbaum abgedruckt. Hilfreich sind auch die Anmerkungen der Übersetzerin im Anhang.
    Der Roman eignet sich sehr gut für Literaturkreise, da die Themen und die Figuren viel Diskussionsstoff bieten. Allerdings muss man den Umfang berücksichtigen ( beinahe 600 Seiten).
    „Jakobsleiter „ ist ein Roman für anspruchsvolle Leser mit Ausdauer.

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