Herzfaden: Roman der Augsburger Puppenkiste

Buchseite und Rezensionen zu 'Herzfaden: Roman der Augsburger Puppenkiste' von Thomas Hettche
4.45
4.5 von 5 (7 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Herzfaden: Roman der Augsburger Puppenkiste"

Ein zwölfjähriges Mädchen gerät nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste durch eine verborgene Tür auf einen märchenhaften Dachboden, auf dem viele Freunde warten: die Prinzessin Li Si, Kater Mikesch, Lukas, der Lokomotivführer. Vor allem aber die Frau, die all diese Marionetten geschnitzt hat und nun ihre Geschichte erzählt. Es ist die Geschichte eines einmaligen Theaters und der Familie, die es gegründet und berühmt gemacht hat. Sie beginnt im 2. Weltkrieg, als Walter Oehmichen, ein Schauspieler des Augsburger Stadttheaters, in der Gefangenschaft einen Puppenschnitzer kennenlernt und für die eigene Familie ein Marionettentheater baut. In der Bombennacht 1944 verbrennt es zu Schutt und Asche. »Herzfaden« erzählt von der Kraft der Fantasie in dunkler Zeit und von der Wiedergeburt dieses Theaters. Nach dem Krieg gibt Walters Tochter Hatü in der Augsburger Puppenkiste Waisenkindern wie dem Urmel und kleinen Helden wie Kalle Wirsch ein Gesicht. Generationen von Kindern sind mit ihren Marionetten aufgewachsen. Die Augsburger Puppenkiste gehört zur DNA dieses Landes, seit in der ersten TV-Ser

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:263
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Rezensionen zu "Herzfaden: Roman der Augsburger Puppenkiste"

  1. Ein hinreißender Roman über die Macht der Phanatsie

    Seien wir doch mal ehrlich. Wem von uns, die wir in den frühen siebziger Jahren gebannt vor den Sendungen der Augsburge Puppenkiste, seien es Jim Knopf oder wie mein damaliger Favorit Don Blech, gesessen haben, hat es gestört, dass es sich bei den Akteuren um Holzpuppen handelte. Sie nahmen uns mit in die Welt der Phantasie und Abenteuer, und das völlig zu recht. Neben den Weihnachtsvierteilern im ZDF gehörten die Aufführungen der Augsburger Puppenkiste zu den Highlights des (zum Teil sogar noch schwarz-weißen) Fernsehjahres.

    Genau in diese Welt entführt uns Thomas Hettche mit "Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste"zurück. Es ist schon viel Gutes über diesen Roman geschrieben worden, so dass ich mich hier nur auf ein paar lose Gedankenfäden konzentrieren möchte. Die Handlung spielt auf zwei Ebenen. Ein (zu früh) erwachsen gewordenens Kind verirrt sich auf dem Dachboden des Theaters der Augsburger Puppenkiste. Dort begegnen ihm zahlreiche alte Bekannte (die Marionetten früherer Aufführungen, vor allem aber mit Hannelore Oemichen, genannt Hatü; eines der Gründungsmitglieder des Ensembles. Diese erzählt dann im zweiten Handlungsstrang die Ursprünge des Marionettentheaters. Noch im Zweiten Weltkrieg begann ihr Vater Walter damit, die Menschen mit Märchen, die von den Marionetten vorgeführt wurden, die Menschen aus der harten Realität des Alltags zu entführen, was nach Rückschlägen (so der Verlust des ersten Puppenkastens bei einem Bombenangriff) auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit von Nöten war. Erzählt wird die Geschichte bis in die frühen sechziger Jahre, als die Verträge mit den diversen Fernsehsendern, insbesondere dem HR, der Augsburger Puppenkiste zum bundesweiten Durchbruch verhalfen. Insofern ist der Roman ein Plädoyer für die Macht der Phantsie und die Notwendigkeit, sich die kindliche Naivität und Unbefangenheit zu bewahren.

    Leider wurde mein Lesegnuss deutlich dadurch getrübt, dass am Weihnachtsmorgen der Herzfaden meines Hundes zeriss, aber dafür kann der Roman nichts.

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  1. 4
    22. Nov 2020 

    Marionetten und mehr...

    Ein zwölfjähriges Mädchen entdeckt nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste im Foyer des Theaters eine kleine Holztür, öffnet sie und gerät wie Alice im Wunderland in eine Märchenwelt, in der viele Freunde warten: die Prinzessin Li Si, Kater Mikesch, Lukas, der Lokomotivführer und viele andere. Vor allem aber trifft es dort Hatü, die Frau, die einst mit ihrem Vater all diese Marionettenfiguren geschnitzt und gebaut hatte und die eine große Geschichte zu erzählen hat: die Geschichte dieses einmaligen Theaters und der Familie, die es erfunden, gegründet und berühmt gemacht hat. Es ist die Geschichte eines deutschen Kultur-Mythos, die weit zurückreicht in die ersten Jahre des Zweiten Weltkriegs, als Walter Oehmichen, ein Schauspieler des Augsburger Theaters, im Lazarett einen Puppenschnitzer kennenlernt . . .

    Das 12jährige Mädchen ist sauer, als es mit dem Vater eine Vorstellung der Augsburger Puppenkiste besuchen muss. Sie ist doch kein kleines Kind mehr! Sie versteckt sich trotzig in einer Ecke im Foyer und entdeckt dort zufällig eine winzige Tür. Neugierig geworden, erforscht das Mädchen, was hinter der Tür liegt. Und sieht sich unverhofft auf einem Dachboden wieder, wo sie im Licht des Mondes auf 'alte Bekannte' tifft. Jim Knopf taucht plötzlich auf, ebenso wie die Prinzessin Li Si und Kater Mikesch. Die berühmten Marionetten der Augsburger Puppenkiste führen hier ein Eigenleben - und mitten unter ihnen ist Hatü, die Frau, die mit ihrem Vater Walter Oehmichen einst die Marionetten schnitzte und das Puppentheater zu einer landesweit bekannten Institution machte.

    "Der wichtigste Faden einer Marionette. Nicht sie wird mit ihm geführt, sondern mit ihm führt sie uns. Der Herzfaden einer Marionette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht."

    Der Handlungsstrang mit dem 12jährigen Mädchen bildet den Rahmen der Gegenwart für die eigentliche Erzählung. Hatü erinnert sich an ihre Kindheit und Jugend, an die Zeit des Zweiten Weltkriegs und das Nachkriegsdeutschland, an die Anfänge der Augsburger Puppenkiste und ihren nie erwarteten Ruhm durch die Auftritte im TV. Das Marionettentheater mit 'Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer', 'Urmel aus dem Eis', 'Kleiner König Kalle Wirsch' oder auch 'Eine Woche voller Samstage' sind aus vielen Kindheiten nicht wegzudenken. So gehören diese Aufführungen auch zu meinen nostalgischen Erinnerungen.

    Ein eindringliches Zeitportrait stellt Thomas Hettche hier vor, lässt Hatü aus dem Dunkel treten, mit ihrer ewigen Zigarette, und erzählen. Der Dachboden, nur ein kleiner Kreis beleuchtet durch den durchs Fenster scheinenden Mond, wirkt dabei wie eine Bühne. Das Mädchen und mit ihm der Hörer tauchen tief ein in die Geschichte des berühmten Marionettentheaters. Die Marionetten selbst agieren auf dem Dachboden eher zurückhaltend, oftmals ebenfalls nur als Zuhörer.

    Was den Handlungsstrang der Gegenwart mit dem der Vergangenheit verbindet, ist die Figur des 'Kasper'. Entstanden ist diese Marionette in einem Ferienlager der Hitlerjugend - Hatüs erste selbst geschnitzte Marionette -, und stets ging für Hatü von ihr etwas Bedrohliches aus. Und tatsächlich verkörpert der Kasper auch auf dem Dachboden 'das Böse', was auch das Mädchen zu spüren bekommt. Es gilt schließlich, seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen - doch wird das gelingen?

    Eine leise Erzählung ist dieses Buch, Biografisches verwebt mit märchenhaften Elementen, mit der Betonung der Kraft der Fantasie in dunklen Zeiten. Düster oft die Stimmung, dann aber auch wieder bezaubernd. Traurig irgendwie das Bild der Marionetten und ihrer Erschafferin auf dem Dachboden - aber so ist es ja: die Augsburger Puppenkiste gehört nicht mehr zum sonntäglichen Nachmittagsprogramm der TV-Sender, sie ist wieder 'nur' ein Theater in Augsburg und damit ein Relikt, das man, wie es antiquarischen und ausgemusterten Dingen nun einmal geht, auf dem Dachboden wiederfindet, wo man ab und an herumstöbert. Weißt du noch?

    Das Buch ist auf der diesjährigen Shortliste des Deutschen Buchpreises gelandet. Dazu der Kommentar der Jury:

    "Leichthändig und elegant verwebt dieser Roman große Themen der Gegenwart und der deutschen Vergangenheit. Von einem verzauberten Dachboden aus führt er uns in die Welt der Holzmarionetten, in den Zweiten Weltkrieg, in die westdeutsche Nachkriegszeit, zum Verlust von Unschuld und dem Ende der Kindheit. Er handelt von der Fantasie und ihrer Rückeroberung – und Thomas Hettche gelingt dabei ein Stück Illusionskunst, die so spielerisch und melancholisch ist, wie jene, von der dieser Roman selbst so beeindruckend erzählt."

    Dem ist nichts hinzuzufügen...

    Die ungekürzte Hörbuchausgabe (7 Stunden und 54 Minuten) wird den beiden Handlungssträngen entsprechend abwechselnd gelesen von Valery Tscheplanowa und Christian Brückner, die die leise und eindringlich-düstere Atmosphäre der Erzählung gekonnt transportieren.

    Eine eindrucksvolle und interessante Wiederbegegnung mit der Augsburger Puppenksite...

    © Parden

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  1. Ein lispelndes Urmel und eine rauchende Hatü

    Wie habe ich mich doch gefreut, als ich erfuhr, dass es einen Roman über die Augsburger Puppenkiste geben sollte. Ich bin mit ihr aufgewachsen und während andere Bären, oder Barbies gesammelt haben, zogen bei mir die ersten Marionetten ein.
    Und was für ein schönes Buch hielt ich dann in den Händen, in Leinen gebunden, mit Lesebändchen und Emma (die Lokomotive aus Jim Knopf) lacht mir nicht nur silbern auf dem Schutzumschlag entgegen, sondern prägt auch gülden den roten Buchdeckel. Überrascht hat mich dann der zweifarbige Druck des Textes in blau und rot.

    Meine Erwartungen waren hoch und voller Enthusiasmus legte ich los. Doch was war das? Ein Mädchen flieht nach einer Puppenkistenvorstellung vor ihrem Vater eine Treppe hoch und findet sich auf dem Dachboden des historischen Heilig-Geist-Spitals wieder. Dort hängen all die Marionetten, die plötzlich lebendig werden und sich um dieses Mädchen, welches übrigens bis zum Schluss namenlos bleibt, versammeln. In diese illustre Gesellschaft platzt dann Hatü, Hannelore Marschall (1931- 2003), Tochter des Mitgründers des berühmten Puppenthaeters Walter Oehmichen und die Geschichte wechselt von rot zu blau, zu Hatüs Leben, ihrer Kindheit und Jugend, dem Krieg, vom Verschwinden der jüdischen Mitbewohner, von der Zerstörung Augsburgs durch die Brandbomben, vom Wiederaufbau und von ihrer Arbeit mit den Marionetten.

    Die vielen süßen Bleistiftzeichnungen von Szenen und Puppen aus dem Theater täuschen nicht darüber hinweg, dass die ziemlich abstruse Rahmenhandlung auf dem Dachboden mit einem bösen Kasper und der sehr stringend erzählten Biografie Hatüs, sich zusammenfügen, wie ein eckiger Klotz im runden Loch. Die Geschichte der Augsburger Puppenkiste ist gespickt mit Daten und endlos vielen Namen von Mitspielern, Helfern, Kritikern und Gönnern. Hatüs Seelenleben aber bleibt mit zunehmendem Alter auf ein emotionsloses Beziehungskistengeplänkel beschränkt. Der Seitensprung ihres Vaters bleibt ein abgehakter Punkt auf der Faktenliste. Es gibt vereinzelte Szenen, die ein wenig mehr Potential für eine eindringliche Story gehabt hätten, werden aber nicht weiter verfolgt und wirken verloren.

    Was sich derweil auf dem Dachboden abspielte, blieb mir leider ein Rätsel, gleichsam verschwommen im unerwähnten Zigarettennebel, den es aber zweilfellos gegeben haben musste, weil Hatü eine Fluppe nach der anderen rauchte. Das Geheimnis des Kaspers schließlich, spiegelt die tiefe Scham Hatüs wieder (worüber, werde ich an dieser Stelle nicht verraten), verpufft aber in einer sinnlosen Verfolgungsjagd nach einem Smartphone.

    Das ganze Buch mutet eher nach einer eiligen Auftragsarbeit an, die keiner Seite, weder den Puppen, noch dem Mädchen, geschweige denn Hatü gerecht wird. Ein wenig konnte ich mit den Gedanken abschweifen und an meine Stunden mit der Puppenkiste denken, dazu war mir der Roman eine Stütze und die Zeichnungen eine Freude, aber der Gesamteindruck hat mich dann doch eher enttäuscht. Der Herzfaden, der die Marionetten lebendig werden lässt, diesen Herzfaden vermisse ich im Roman. Schade!

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  1. Ein Herzensbuch - nicht nur wegen Urmel & Co.

    "„Der Herzfaden?“ fragt Hatü.
    „Der wichtigste Faden einer Marionette. Nicht sie wird mit ihm geführt, sondern mit ihm führt sie uns. Der Herzfaden einer Marionette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht.“" (S. 64)

    Ein für mich unwiderstehliches Thema hat Thomas Hettche für seinen neuen Roman "Herzfaden" gewählt: die Augsburger Puppenkiste. Ich selbst bin mit deren zauberhaften Marionetten und Geschichten aufgewachsen und sehe mit Freude, wie die Geschichten Jung und Alt bis heute begeistern. Urmel, Kater Mikesch, Jim Knopf und die Katze mit Hut sind aus dem Leben meiner Familie jedenfalls nicht wegzudenken. Und wenn die Holzköpfe der Figuren uns zuzublinzeln, zu erröten oder kokett zu lächeln scheinen, weiß ich nun, dass der "Herzfaden" dafür verantwortlich ist.

    Allerdings beschränkt sich Thomas Hettche bei weitem nicht auf die bewegte Geschichte dieses Marionettentheaters. Dass der von Matthias Beckmann wunderschön illustrierte Roman über zwei Handlungsstränge verfügt, wird bereits an den beiden Druckfarben blau und rot deutlich. Während die blauen Abschnitte im Präsens die Geschichte der Puppenschnitzerin und Marionettenspielerin Hannelore Marschall-Oehmichen, genannt Hatü (1931 – 2003), Tochter des Gründers Walter Oehmichen, erzählen, spielen die roten, fantastischen Teile im Jetzt, erzählt in der Vergangenheitsform:

    "Die Vergangenheit ist die Gegenwart und die Gegenwart die Vergangenheit. Die Zeit löst sich in der Dunkelheit auf. In einer Geschichte setzt sie sich wieder zusammen." (S. 193)

    Das Mädchen mit dem iPhone bleibt namenlos. Sie leidet unter der Scheidung der Eltern und der Besuch mit dem Vater im Puppentheater kratzt am Selbstbewusstsein der Zwölfjährigen. Weinend läuft sie davon und landet in dem sehr alten Haus voller geheimer Türen und Treppen auf dem Dachboden bei den Marionetten. Nicht nur, dass die Puppen plötzlich ihre Fäden abstreifen und sie selbst auf deren Größe schrumpft, es taucht auch noch eine riesenhafte Frau auf, die sich als Hatü, Mitbegründerin der Puppenbühne, vorstellt. Während Hatü ihr ihre und die Geschichte der Augsburger Puppenkiste erzählt, begreift die wieder lebendig gewordene Puppenschnitzerin gleichzeitig nach und nach, warum dieses Mädchen zu ihr gefunden hat. Alles hängt zusammen mit der ersten Puppe, die sie während der Kinderlandverschickung geschnitzt hat, dem Kasperl mit dem bösen Gesicht, vor dem sie sich immer gefürchtet hat. Das Mädchen wiederum kann den Dachboden nicht verlassen, bevor es nicht den Kasperl vertrieben und dessen geheimnisvolle Geschichte erfahren hat.

    Kunstvoll bettet Thomas Hettche in diese magische Erzählung Hatüs Erinnerungen ein. Von den ersten Puppen, die der Vater, ein Schauspieler und Landesleiter der Reichstheaterkammer, aus dem Krieg mitbringt, über das erste Wohnzimmer-Theater, den Puppenschrein, mit der selbstgebauten Spielbrücke und allen Puppen, die allesamt beim Luftangriff auf Augsburg am 25.02.1944 verbrennen. Nach dem Krieg nimmt die Familie einen neuen Anlauf und am 26.02.1948 lädt die Augsburger Puppenkiste mit „Der gestiefelte Kater“ zur Premiere ein. Allerdings ist dieser Teil des Romans weit mehr als die Chronik von Deutschlands berühmtestem Puppentheater, sondern Kindheit im Krieg und Jugend im Nachkriegsdeutschland, Grauen, aber auch Wiederauferstehung, zu der Walter Oehmichen beitrug:

    "Wir müssen die Herzen der Jugend erreichen, die von den Nazis verdorben wurden. Und die Fäden, mit denen wir sie wieder an Kultur anknüpfen, das sind die Fäden meiner Marionetten." (S. 128)

    "Herzfaden" ist ein Roman für Jugendliche wie Erwachsene, den man auf verschiedenen Ebenen lesen und verstehen kann. Wie schön, dass er auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2020 steht. Ich drücke die Daumen!

    Thomas Hettche: Herzfaden. Mit siebenundzwanzig Zeichnungen von Matthias Beckmann. Kiepenheuer & Witsch 2020
    www.kiwi-verlag.de

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  1. 5
    12. Sep 2020 

    Der Dachboden

    Im Haus der Augsburger Puppenkiste tritt ein 12jähriges Mädchen neugierig durch ein geheime Tür. Sie landet auf einem dunklen Dachboden und findet den Weg zurück nicht. Doch plötzlich hört sie Geräusche und überrascht trifft sie auf Marionetten und sie selbst ist auf einmal so groß wie Urmel, Jim Knopf, Prinzessin Li Si und wie sie alle heißen. Ihre Geschichte und die des Theaters wird erzählt von Hatü, der Tochter des Gründers. Das Mädchen erfährt vom zweiten Weltkrieg und von Walter Oehmichen, der aus der Kriegsgefangenschaft mit der Idee des Puppentheaters heimkehrt.

    Die Nazizeit und der Krieg haben Spuren hinterlassen, bei Walter Oehmichen, aber auch bei seiner Frau und den beiden Töchtern. Die Menschen brauchen etwas, das ihre kindliche Seele erreicht. Der Krieg und die Nazi-Gräuel können nicht ungeschehen gemacht werden und sie dürfen nicht vergessen werden. Doch vielleicht können die Menschen etwas wie Kultur wiederfinden. Hier möchte Oehmichen ein Angebot machen, zunächst um die Kinder zu erreichen. Doch bald gibt es auch Inszenierungen für Erwachsene. Seine Tochter Hannelore, die Hatü genannt wird, ist schon früh dabei. Noch als Jugendliche schnitzt sie ihre erste Marionette, einen Kasperl, der sie irgendwie ängstigt, so dass der Vater ihm freundlichere Züge geben will.

    In der Nachkriegszeit als alles darniederlag, war es eine ungewöhnliche Idee, ein Marionetten-Theater zu gründen. Doch vielleicht brauchten die Menschen einfach etwas Positives und durch den Mund der Puppen kann man manchmal mehr sagen als man es als Mensch wagen würde. Die Zeiten waren schwer, aber mit den Jahren machte sich auch eine Aufbruchstimmung breit. Hatü erzählt von einer Zeit, wie sie das Mädchen nie erlebte. Die Entbehrungen, aber auch der Mut des Neubeginns. Die Geschichte der Puppen und einiger großartiger Inszenierungen, die die Augsburger Puppenkiste weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt gemacht haben. Aber auch die Geschichte des Kasperls, die die damalige Zeit so deutlich widerspiegelt. Man glaubt, beinahe selbst auf diesem fensterlosen Dachboden zu sitzen und Hatü zu lauschen. Man fühlt sich ein wenig am eigenen Herzfaden gezupft und ist froh, dass man sich von den Ereignissen auf diesem Dachboden berühren lassen durfte.

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  1. Die Augsburger Puppenkiste ist mehr …

    Kurzmeinung: Hat mich nicht so geflasht wie "Die Pfaueninsel", aber ihr werdet dem Urmel wiederbegegnen! Tas ist tsicher.

    Der Roman „Herzfaden“ von Thomas Hettche, zur Zeit (10.9.2020) sich auf der Longlist des Deutschen Buchpreises befindend und somit bereits als einer der besten deutschen Romane dieses Jahres ausgezeichnet, beschäftigt sich mit den Erfindern der Augsburger Puppenkiste.

    Die Familie von Walter Oehmichen, wobei Walter in leiternder Position am Stadttheater Augsburg beschäftigt war, wurde wie die meisten deutschen Familien in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen. Es ist nicht ganz klar, wie weit Walter Oehmichen oder die Familie selbst die Nazi-Ideologie mittrugen und verinnerlicherten, ob sie einfache Mitläufer waren oder mehr dahinter stand, die Kinder waren jedenfalls in der Hitlerjugend und wurden dort und auch im Schulunterricht entsprechend gehirngewaschen. Andererseits setzte der Vater auch verbotene Stücke auf den Spielplan, ein wenig getarnt, unter falscher Flagge, aber durchaus erkennbar. Widerstandskämpfer aber waren sie alle nicht.

    Die jüngere Tochter Hannelore erbt vom Vater die Liebe zur Schnitzkunst und zum Puppentheater und hilft ihm in der Nachkriegszeit tatkräftig, das kleine Theater aufzubauen. Als das Fernsehen in seinen Kinderschuhen noch, auf die Marionettenspieler und seine Geschichten aufmerksam werden, stehen die Zeichen auf Grün: die Augsburger Puppenkiste wird berühmt und ist aus keinem Kinderzimmer mehr wegzudenken.

    Kommentar: Thomas Hettche schreibt wie gewohnt in anmutiger Sprache und in einer zweifachen Erzählung diese Entwicklung auf. Dabei werden die Toten groß und die Lebenden klein. Warum ist das so? fragt sich der Leser. Und warum hat Hatü denn Angst gehabt vor dem Kasperl mit der großen Nase?

    Wie auch immer: man entdeckt im Roman „Herzfaden“ den Herzfaden, das ist der Faden, den die Puppen gar nicht haben, denn er ist unsichtbar. Und man entdeckt die Freunde der Kindheit wieder und ihren ernsten Hintergrund. Einen Schuss Surrealismus, wie es gerade modern ist, hat der Autor mit den Szenen auf dem Dachboden mit eingegossen. Hat dieser Schluck Surrealismus einen tieferen Sinn?

    Die Metaebene des Romans ist mehr angedeutet als ausgeführt, aber sie ist da. Ausgburger Puppenkiste und Zweiter Weltkrieg sind zeitgleich, das hat Auswirkungen auf den Roman und auf das Leben. Die Augsburger Puppenkiste ist gleichzeitig Märchen, Hoffnung und Auseinandersetzung. Gleichzeitig Vergangenheit und Gegenwart, wie der Autor schreibt.

    Fazit: Die Augsburger Puppenkiste, wiederauferstanden nach einer Bombennacht in Augsburg, hat eine Geschichte, weil sie Teil der Geschichte ist.

    Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020
    Kategorie: Anspruchsvoller Roman
    Verlag: Kiwi, 2020

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  1. Ein raffinierter Tanz zwischen Historie, Realität und Fantasie,

    Dies ist eins von den Büchern, die man eigentlich gleich nach dem Beenden noch einmal lesen möchte. Ich weiß nicht, ob ich alles verstanden habe, aber was ich verstanden habe ist weise, zauberhaft, bittersüß und ich glaube, ich könnte noch sehr viel mehr verstehen.

    Natürlich erfährt man hier die Geschichte der Augsburger Puppenkiste: Wer war Walter Oehmichen, wie kam er zum Puppenspiel und was faszinierte seine Tochter Hannelore, die Hatü genannt wurde, daran? Es liest sich ein bisschen wie der amerikanische Traum in Deutschland: Vom einfachen Schauspieler, quer durch den Krieg zu einer Institution im frisch erfundenen deutschen Fernsehen.

    Zu dieser Familiengeschichte gehört auch ein gutes Stück Zweiter Weltkrieg, den man hier aber eher fühlt als dass man Fakten geliefert bekäme. Wie kommt man durch den Krieg mit einer Künstlerseele? Wie fühlt es sich an, wenn plötzlich Nachbarn, Freunde und Kollegen zu Geächteten werden, man mitten im Wahnsinn steckt und überleben will. Und wie sieht wohl ein Kind den Krieg, das nicht versteht, was passiert und sich wundert, dass seine Welt kopfsteht. Da kann ein Puppenspiel die Tür in eine andere Welt öffnen, wenn man den Herzfaden sieht, der eine Marionette lebendig macht, dieser Herzfaden, der bewirkt, dass Generationen dahinschmelzen wenn das Urmel sagt: „Ich tomme mit!“

    „Der Herzfaden, hat sie die Stimme ihres Vaters im Ohr, ist der wichtigste Faden einer Marionette. Er macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht.“

    Das ist der eine wundervolle Teil dieses Buches.
    Zusätzlich begleiten wir in der heutigen Zeit ein Mädchen, das sich verlaufen hat und in einer zauberhaften, aber beklemmenden Zwischenwelt gelandet ist. Auf dem Dachboden eines Puppentheaters trifft es auf eine riesige Hatü und hat selbst Marionettengröße. Wie kann das sein? Dieser Aspekt des Buches gibt Rätsel auf.
    „Die Vergangenheit ist die Gegenwart und die Gegenwart die Vergangenheit. Die Zeit löst sich in der Dunkelheit auf. In einer Geschichte setzt sie sich wieder zusammen.“
    Was ist ein Märchen und was geben uns Geschichten? Sind Märchen für Kinder gemacht? Von Geschichten wie Jim Knopf kann jeder etwas mitnehmen, egal wie alt er ist. Und vielleicht sollte man Märchen viel näher an sich heranlassen, statt es als Kinderkram abzutun…

    Das ist einer von unzähligen Interpretationsansätzen, die dieses Buch bietet. Wirklich festmachen kann man nicht so viel, stattdessen liefert es unendliche Möglichkeiten und eine Geschichte, die zaubrisch, morbide und nicht einzuordnen ist. Aber muss man denn immer alles einordnen?

    Man kann sich auch einfach fallen lassen, in dieses Buch voller Klugheit und Atmosphäre, nimmt dabei ein Stückchen Historie mit und hat das Staunen gelernt. Dieses Buch hat auch einen Herzfaden. Es packt den Leser auf der Gefühlsebene, in einer Zwischenwelt, die nicht jeder sieht. Das ist deutlich mehr, als man von einem guten Buch verlangen kann, so etwas machen die sehr guten Bücher.

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