Harz: Thriller

Rezensionen zu "Harz: Thriller"

  1. Das ganz normale Grauen

    Ein kurzer Hinweis: der Klappentext lässt es klingen, als sei Liv den ganzen Tag eingesperrt in ihren Container. Tatsächlich darf sie diesen durchaus verlassen und ist nur darauf trainiert, sich dabei nicht sehen zu lassen und sich sofort in den Container zurückzuziehen, sobald Entdeckung durch einen Außenstehenden droht.

    Genre:

    Meines Erachtens ist dies ist kein klassischer Krimi oder Thriller, sondern eher ein zutiefst verstörendes Familiendrama, das sich gekonnt über Genregrenzen hinwegsetzt.

    Spannungsbogen:

    Das Buch entwickelt jedoch eine ungemeine Spannung – eine düstere Sogwirkung, der man sich nur schwer entziehen kann. Man schaudert, man ekelt sich, man wird geschüttelt von Grauen und Mitleid, aber man kann das Buch kaum einmal weglegen. Das erklärt wohl, warum Ane Riel für diesen Nicht-Krimi den dänischen, norwegischen und schwedischen Krimipreis erhielt, sowie den Preis für den besten Kriminalroman Skandinaviens insgesamt.

    Charaktere:

    Der Familienvater fällt durchs Raster und reißt Frau und Tochter mit sich in den Abgrund. Da blutete mir das Herz, nicht nur für die unschuldige kleine Liv, sondern auch für ihn selbst. Er ist nicht hassenswert, obwohl er furchtbare Dinge tut, denn er ist nicht böse, sondern motiviert von Angst und Leid – und fehlgeleiteter Liebe, die dennoch tief und wahrhaftig ist. Seine Obsession entsteht aus dem verzweifelten Versuch, das zu beschützen und festzuhalten, was ihm wichtig ist.

    Überhaupt ist Liebe der treibende Faktor für alle wichtigen Charaktere, und so kann man nicht umhin, mit ihnen mitzufühlen und mitzuleiden.

    Einen Großteil der Geschichte erlebt man aus Sicht von Liv, für die ihr alles andere als normales Leben eben doch die Normalität ist. Alles ganz logisch und richtig. Von ihrem Vater lernt sie, Tiere zu töten, in fremde Häuser einzubrechen und zu stehlen, ohne das geringste Unrechtsbewusstsein. Kleine Kinder akzeptieren die Welt noch, die ihnen ihre Eltern vorgeben, ohne dies zu hinterfragen. Da beschleicht den Leser schon ein mehr als ungutes Gefühl, aber das wahre Grauen bricht erst über einen herein, sobald Außenstehende den Mikrokosmos der Familie betreten.

    Schlüssigkeit und Wirkung:

    Es ist ein geschickter Schachzug der Autorin, sie zu Wort kommen zu lassen: Den neugierigen Postbote, der nur deshalb die Grenzen austestet, um etwas zum Tratschen zu haben. Den Wirt der Dorfkneipe, der aus ehrlicher Besorgnis um das Kind handelt, das er dabei beobachtet hat, wie es des Nachts Lebensmittel und andere Dinge stiehlt.

    Auf einmal sieht und hört und riecht und schmeckt man schonungslos, was bisher nur zu erahnen war, weichgezeichnet durch den Filter der vermeintlichen Normalität.

    Weg mit dem Filter, weg mit der Normalität, da rascheln die Ratten, stinkt es nach Blut und Urin, wimmert die Mutter, da stürzt man in ein ganz tiefes Loch, wie Alice in den Kaninchenbau… Nur das unten kein Wunderland wartet. Das ist entsetzlich, grauenhaft, ekelhaft, schauderhaft, da schüttelt es einen geradezu. Und das, ohne dass die Autorin auf billige Effekthascherei zurückgreift.

    Schreibstil:

    Die Autorin setzt den Schreibstil meisterhaft ein. Die klare und oft schlichte, fast nüchterne Sprache lässt umso deutlicher hervortreten, was in dieser Familie alles schiefläuft. In anderen Szenen baut sie mit prägnanten Bildern eine dichte Atmosphäre auf – besonders in den Passagen des Buches, in denen man die Geschehnisse aus den Außen der Außenstehenden sieht.

    FAZIT

    Ein kleines Mädchen ertrinkt – angeblich. Tatsächlich hat ihr Vater das nur vorgetäuscht, um sie für tot erklären zu lassen und nicht in die Schule schicken zu müssen. Er handelt aus Liebe, aber was er erschafft, ist ein familiärer Albtraum, eine verkehrte Welt, die für seine Tochter ganz normal ist.

    Obwohl das Buch meines Erachtens kein Psychothriller ist, sondern ein düsteres Familiendrama, fand ich es nervenzerfetzend hochspannend und werde noch lange darüber nachdenken. Die Autorin zieht alle Register, um unglaublich viel Atmosphäre zu erzeugen und Charaktere zu erschaffen, die sich einer einfachen Einteilung in gut oder böse entziehen.

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  1. sammellust die zu weit geht

    Klappentext: Liv ist seit dem sechsten Lebensjahr tot, ertrunken in der Brandung. Das zumindest lässt ihr Vater Jens die Behörden glauben. Jens ist ein krankhafter Sammler, getrieben von der Angst, seine einzige Tochter zu verlieren. Und so lebt Liv in der Einsamkeit eines Containers hinter dem Hof, versteckt zwischen selbst gezimmerten Särgen und in Harz konservierten Tieren - ein sorgsam von der Außenwelt abgeschirmtes Leben, ein Leben in der Falle. Meisterhaft erzählt Ane Riel von einer scheinbar verkehrten Welt, in der aus Liebe Obsession wird und aus dem Wunsch nach Sicherheit tödliche Gefahr.

    Meinung:
    Das Cover gefällt mir sehr gut und ist auch passend zum Inhalt, da es um das Harz von Bäumen geht. Der Hintergrund sieht aus wie gesägte Holzlatten und der Titel ist im Stil von Bernstein gehalten. Also wirklich eine gute Idee.
    Der Klappentext verspricht spannende Lesestunden. Ich wollte auch unbedingt wissen, was Jens dazu treibt die Behörden glauben zu lassen, dass seine Tochter tot wäre.
    Jedoch hat das Buch nicht ganz so die Spannung gebracht. Ich finde die Story plätschert sehr seicht dahin. Ich habe auch lange gebraucht um rein zu kommen und mich schon fast ein bisschen gequält weiter zu lesen.
    Der Schreibstil an sich hat mir gut gefallen. Ich konnte es flüssig lesen und für mich wäre es wohl ein Pageturner geworden wenn die Story nicht so wenig hergegeben hätte.
    Mit Liv konnte ich mich recht gut identifizieren. Sie wächst dem Leser sehr schnell ans Herz und sie tut einem recht leid, da sie so von der Welt abgeschottet leben muss und auch die Taten des Vaters mit ansehen muss.
    Mit den anderen Charakteren kann ich leider nicht so viel anfangen. Die Stellen bei denen es um Jens ging, waren für mich leider viel zu langatmig und langweilig, sodass ich auch manchmal ganz schön quergelesen haben.

    Meinung:
    Leider war dieser Thriller rein gar nichts für mich. Stellenweise war mir das Buch zu langweilig und der Spannungsbogen ging mir viel zu sehr wie eine Achterbahn rauf und runter. Der Story fehlt einfach das Etwas, das es für mich zu einem richtig spannenden Thriller macht.

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  1. Unglaulich in seiner Eindringlichkeit

    Eine kleine dänische Insel, eigentlich ein wunderbarer Ort zum Leben. Der „Kopf“ der Insel ist durch eine schmale Nehrung, dem „Hals“ mit dem Rest der Insel verbunden. Dort am Kopf, in dieser Abgeschiedenheit wächst Jens Haarder mit seinem älteren Bruder Mogens und den Eltern Silas und Else auf. Den frühen Tod des Vaters verwindet der sensible und eigenbrötlerische Junge kaum. Später gründet Jens mit Maria, der Pflegerin seiner Mutter seine eigene kleine Familie. Doch es ist wieder ein schwerer Verlust, der Jens vollkommen aus der Bahn wirft.
    Nicht jeder Thriller braucht reißerische Effekte. In Ane Riels Thriller „Harz“ reicht der kleine private Wahnsinn eines Mannes, der in seiner selbst gewählten Isolation immer mehr in seiner eigenen verkehrten Welt lebt und alle mitnimmt, die er liebt.
    „Nein, er konnte nichts entbehren. Was ihn verließ, kam nicht zurück. Und darum verließ ihn nichts.“

    Es ist eine obsessive, fehlgeleitete Liebe, die Jens Haarder die Grenzen zwischen Freund und Feind, zwischen Normalität und Wahn nicht mehr erkennen lässt. Hier wird eine Besessenheit beschrieben, die durchaus im Bereich des Möglichen liegt, was viel stärker auf mich wirkt als haarsträubende Killerstorys.
    Die Autorin erzählt die Geschichte teilweise aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Kindheit und Jungend von Jens wird von einem durchaus neutralen und beobachtenden Erzähler geschildert. Aber auch die sechsjährige Tochter Liv berichtet aus ihrer kindlich naiven Sicht, eine Perspektive die das ständig ansteigende Grauen noch mehr vorantreibt. Was uns Liv nicht erzählen kann, wird oft durch Briefe der Mutter an das Kind ergänzt.
    „Harz“ ist ein Thriller, der eine ganze Palette an Gefühlen erzeugt, man wünscht und hofft ganz stark, dass Liv, dieses kleine Leben, gerettet werden kann. Es ist unglaublich in seiner Eindringlichkeit. Die Grausamkeiten Mensch und Tier gegenüber sind verstörend und trotzdem führt einen die Autorin auf seltsam behutsame Weise durch diese beklemmende Tragödie.

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