Haie in Zeiten von Erlösern: Roman

Rezensionen zu "Haie in Zeiten von Erlösern: Roman"

  1. Geschwister- und Familienbande jenseits aller Südsee-Romantik

    Südseeromantik gibt es in „Haie in Zeiten von Erlösern“ nur für die Haole, die Weißen, die sich den Luxus dieser einzigartigen, unglaublich schönen Natur leisten können. Für die indigene Bevölkerung ist Hawai ein mythischer, magischer Ort, aber auch ein Ort, an dem es schwer ist, Arbeit zu finden und einen Lebensunterhalt zu bestreiten.

    Die Geschwister Dean, Nainoa und Kaui leben mit ihren Eltern ein sehr einfaches, entbehrungsreiches Leben in Honokaʻa auf Big Island/Hawai. Als die Zuckerrohrplantage geschlossen wird, versiegen die ohnehin spärlichen Einkünfte. Zunächst versuchen Augie (der Vater) und Malia (die Mutter) sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten; aber das Geld reicht nicht, so dass die Familie schweren Herzens auf die Insel Oʻahu/Hawai in die Stadt Kalihi, nahe Honolulu, ziehen muss. Kurz vor dem geplanten Umzug ereignet sich ein folgenreicher Zwischenfall. Der siebenjährige Nainoa stürzt während eines Ausflugs von einem Schiff ins Meer. Die Rettungsversuche gestalten sich schwierig, Haie nähern sich, umkreisen ihn; der größte Hai nimmt Nainoa schließlich in sein Maul und transportiert ihn zurück zum Schiff. Nainoa wird gerettet - für die Eltern ein unmissverständliches Zeichen der Götter, dass Nainoa von den ´aumakua, den Seelengeistern gesegnet und zu größerem auserwählt wurde. Schon bald zeigen sich bei Nainoa außergewöhnliche Fähigkeiten. Er spürt eine eigentümliche Kraft in sich und ist in der Lage Krankheiten und Verletzungen von Körpern zu lokalisieren und innerhalb kürzester Zeit zu heilen bzw. Heilungsprozesse anzustoßen. Schnell sprechen sich Nainoas Fähigkeiten herum, die Menschen bitten um Audienz, geben großzügig Spenden, so dass die Familie zum ersten Mal in ihrem Leben finanziell abgesichert ist. Doch manchmal scheitert Nainoa; irgendwann wird dem Jungen alles zu viel und die Hilfesuchenden werden mit dem Hinweis, ihr Sohn benötige eine Pause, wieder weggeschickt. Erneut reicht das Geld kaum zum Leben, aber Nainoa bleibt das „Wunderkind“ der Familie. Mit Leichtigkeit erhält er ein Stipendium für eine der renommiertesten Schulen, erzielt überall Bestnoten. Obwohl auch seine jüngere Schwester Kaui dort eines der wenigen Stipendien erhält, steht sie zeitlebens im Schatten ihres Bruders. Auch Dean, der Älteste, kämpft um Anerkennung: schulisch kann er mit seinen Geschwistern nicht mithalten, scheitert immer wieder an der Aufnahmeprüfung, hat dafür aber ein großes Talent für Basketball, macht dort zunächst Karriere.

    Kawai Strong Washburn konzentriert sich auf die Lebenswege der einzelnen Geschwister, die alle Hawai verlassen, um in den USA zu studieren bzw. zu arbeiten. Alle sind auf der Suche, wirken verloren und einsam. Nainoa versucht seine Gabe zu verstehen, kommt damit nicht klar, hat niemanden, der begreift, was wirklich in ihm vorgeht. Kaui und Dean versuchen beide auf ihre Weise die Last des „übermächtigen“ Bruders abzuschütteln, neben dem sie von ihren Eltern einfach nicht gesehen werden. Sehr bedrückend und intensiv zeigt der Autor wie alle drei wütend und verloren durchs Leben stolpern, wie die Familie weiterhin versucht auch über die Distanz den Kontakt aufrechtzuerhalten und dabei schon längst einen „echten“ Zugang zueinander verloren hat. Wir begleiten die einzelnen Familienmitglieder über einen Zeitraum von 14 Jahren (1995 - 2009). Jede:r erhält eigene Kapitel, die mit dem jeweiligen Namen und der Jahreszahl gekennzeichnet sind. Meist kommen Nainoa, Dean oder Kaui zu Wort, zwischendurch auch die Mutter Malia. Vater Augies Perspektive erhalten wir nur im abschließenden Kapitel.

    Für mich steht in diesem Roman eindeutig die Geschwisterbeziehung im Vordergrund und die Frage, welche Auswirkungen unbewusste Bevorzugung eines einzelnen auf das System Familie haben können. Es geht aber auch um Wurzeln, Entwurzelung und die Kraft, die Menschen aus einer Besinnung auf ihre Herkunft sowie Tätigkeiten ziehen können, die sie begeistern, in denen sie vollkommen aufgehen. Hawai lässt keinen der Geschwister los, alle kehren zeitweilig zurück, fühlen sich von der alten, mythengesättigten Natur angezogen. Kaui gelangt durch Hula-Tänze an einen „Kraftort“ in ihrem Inneren, Nainoa empfindet ähnliches beim Spiel auf der Ukulele und Dean, wenn er in einen Flow beim Basketballspiel gelangt. Aber es ist schwer, diese kurzen kraftvollen Momente nachhaltig in den Alltag zu integrieren. Der Roman ist auch ein Buch über das Scheitern und Weitermachen.

    Kawai Strong Washburns Sprache kommt von der Straße, ist oftmals derb, dann wieder zart poetisch. Ich konnte mich der Intensität des Textes kaum entziehen und habe dieses tief traurige Debüt voller hoffnungsvoller Momente verschlungen.

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