Grimsey: Eine Novelle

Buchseite und Rezensionen zu 'Grimsey: Eine Novelle' von Ulrich Schacht
4
4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Grimsey: Eine Novelle"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:189
Verlag: Aufbau Verlag
EAN:9783351036188

Rezensionen zu "Grimsey: Eine Novelle"

  1. 4
    06. Feb 2016 

    Sprachgewaltig...

    Ein Mann in der Mitte seines Lebens, ein Berichterstatter und Fotograf, der schon viele Regionen der Welt bereist hat, ein Inselsammler. Besonders die arktischen Inseln haben es ihm angetan, und so ist es nur konsequent, dass er mit seiner Kamera auch Grimsey aufsucht, eine winzige isländische Insel im Nordmeer am Polarkreis.

    "Oh, sagte er, ich sammle Inseln, wenn Sie verstehen? Arktisinseln ganz besonders. Wow, rief der Mann, that's good, that's very good. But I hope you have enough room for them?! O ja, sagte er und legte die rechte Hand auf seine linke Brustseite." (S. 185)

    Einen einzigen Tag wird der Mann, dessen Namen wir nicht erfahren, auf dem kargen Eiland verbringen. Was gibt es dort schon zu sehen? Eine kleine Kirche, in der sich Massen toter Fliegen befinden, ein wettergegerbter Friedhof, ein verlassener Leuchtturm, einige kleine Häuser, ein winziger Supermarkt - und die karge Natur, Fels und Gras und Möwen. Tote Möwen vor allem, die überall im Gras verteilt liegen, wie kleine Flecken weißen Schnees.

    "Was wusste er von Grimsey und dem Leben hier? Daß die Insel eine Perle war, aufgezogen auf der Polarkreiskette, die dem ganzen Globus um den Hals hing. Daß es hier bedeutende Vogelkolonien gab. Daß ein Wikinger namens Grimur zur Landnahmezeit in ihrem südlichen Teil einen Hof gegründet und sich mit einer Reihe von Trollen und anderen nordischen Gespenstern herumgeschlagen hatte, weil das Eiland bis zu seiner Ankuft ihr Quartier gewesen war, das sie nicht verlassen wollten. Sonst nichts." (S. 31 f.)

    Der Mann durchquert die Einsamkeit und die Natur, begegnet vereinzelt Menschen, lässt sich aber vor allem von den Bildern treiben, die ihm vor seine Kamera kommen - und von seinen Gedanken. Bilder schaffen Erinnerungen, und so legt der Mann nicht nur seinen Weg auf Grimsey zurück, sondern auch etliche Passagen seiner Vergangenheit - seine Kindheit, seine Zeit des Erwachsenwerdens und der Haft, vereinzelte Ereignisse seiner zahllosen Reisen. Und die Perlenkette der Erinnerungen hängt schließlich gedankenschwer um den Hals des Fotografen, eine Bilanz seiner Träume, vom Reisebericht zur Lebensbeichte.

    "Beim Umdrehen jedoch (...) sah er, daß im Rasen, etwas abseits, ein Holzpflock steckte, über den vier Ringe aus Gummi gestülpt waren. Das sportliche Spielzeug, blaßrosa, blaßblau, blaßgelb und blaßgrün, löste in seinem Kopf ein Signal aus, das sogleich seine Füße erreichte und sie am Weiterlaufen hinderte: Mit solchen Ringen, die ein feines Rillenprofil trugen, hatten er und seine Freunde sich in jener Zeit vergnügt, als er auch seine Inseln baute, im Ferienlager oder auf dem Schulhof. Jahrzehnte lag das zurück, und nie wieder hatte er Gummiringe dieser Art gesehen, bis in ihre Farbblässe hinein glichen sie jenen von damals, er wußte für den Moment nicht, ob er weinen oder lachen sollte über das unerwartete Wiedersehen von Dingen, die scheinbar keinerlei Bedeutung für sein weiteres Leben gehabt hatten." (S. 55)

    Ulrich Schacht lässt hier offensichtlich auch viele autobiografische Elemente in die Novelle einfließen, die einen Einblick auch in sein Leben und seine Gedankenwelt gewähren. 1951 wurde Schacht im Frauengefängnis Hoheneck geboren, wuchs dann in Wismar auf und wurde 1973 wegen 'staatsfeindlicher Hetze' in der DDR zu sieben Jahren Freiheitsentzug verurteilt - man entließ ihn jedoch bereits 1976 in die BRD. Als Redakteur und Journalist arbeitete er für verschiedene Zeitungen, heute lebt er seit 1998 als freier Autor in Schweden.

    "Zuerst fiel seine Aufmerksamkeit auf einen Bagger, der hinter der Kante, die an ihrem Fuß in einen groben Geröllsaum überging, auf dem der Ozean seine Wellen verlor, wie ein Ungetüm hervorragte. Es schien aus dem Meer gekommen zu sein und war dabei, die Kante zu erklimmen. Schon hatte es die Zähne seines mächtigen Gebisses in das Erdreich neben dem Asphaltband geschlagen, um den massigen, panzerschweren Leib nachzuziehen, da mußte ihm plötzlich die Luft ausgegangen oder etwas anderes Furchtbares geschehen sein: All seine Kraft war in dieser letzten Bewegung steckengeblieben, erstarrt. Seitdem hatten Wind und Wetter die leuchtend gelbe Haut des Monsters fast vollständig abgezogen und den darunterliegenden Leib aus Stahlknochen und Eisenfleisch in eine rostbraune Masse verwandelt, die sich der Farbe der nahe liegenden Basaltsäulen, denen das Meer seit Urzeiten seine Wellen entgegenbranden ließ, anzugleichen begann." (S. 18)

    Trotz der leisen Töne und der ruhigen Bilder kommt die kleine Novelle sprachgewaltig daher, oftmals mit langen und verschachtelten Sätzen, die mehrfach gelesen werden wollen, um sie in ihrer Gänze zu erfassen, detailgetreu und bildhaft. Ein bisschen hatte ich zuweilen das Gefühl, mich durch Sirup zu lesen - süß und ein wenig zäh, in kleinen Portionen genossen eine Delikatesse, zu viel davon jedoch schlecht zu vertragen. Und so habe ich Wochen gebraucht, um diese Novelle bis zum Ende zu lesen, immer wieder ein paar Seiten, so dass der eintägige Ausflug nach Grimsey letztlich für mich zu einer langen Reise wurde.

    Aber eine Reise, die sich gelohnt hat, die mich nicht nur mitnahm auf diese kleine Insel am Polarkreis, sondern auch in die Gedankenwelt des reisenden Fotografen - und ein wenig auch zu mir selbst.

    © Parden

    Teilen