Gleißendes Licht

Buchseite und Rezensionen zu 'Gleißendes Licht' von Marc Sinan
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Inhaltsangabe zu "Gleißendes Licht"

Türkisch. Deutsch. Armenisch. Eine Familiengeschichte voller Glanz, Tragik und Gewalt. Als der Berliner Komponist Kaan für einen längeren Aufenthalt nach Istanbul reist, wird er mit Gewalt auf die verschüttete Geschichte seiner Familie gestoßen. Deutlich und unerwartet überkommt ihn das Trauma seiner Großmutter, die durch den Völkermord an den Armeniern zur Waise wurde. Kaan beginnt, sich zu erinnern: an seine Großeltern, sie Armenierin, er Türke, die in den Jahren der Republik unter Atatürk zu Wohlstand kamen, um am Ende doch alles zu verlieren. An seine Mutter, die ihre türkische Heimat für einen deutschen Mann hinter sich ließ. An seine eigene Kindheit, Besuche bei den Großeltern am Schwarzen Meer, die nach grünen Bohnen und salzigem Fisch schmeckten, nach der Wärme der Bağlama klangen und in den Farben der Wellen leuchteten. Und während Kaan erzählt, erfasst ihn ein Wunsch nach Rache. Und nach Vergebung.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:272
EAN:9783498003142

Rezensionen zu "Gleißendes Licht"

  1. „Blutige Hände wäscht man in kaltem Wasser, nicht mit frischem B

    „Blutige Hände wäscht man in kaltem Wasser, nicht mit frischem Blut“ (S. 264)

    Der als Komponist und Gitarrist bekannte Autor Marc Sinan thematisiert in seinem Debütroman „Gleißendes Licht“ den Völkermord an den Armeniern und die Auswirkungen, die die fehlende Aufarbeitung und Entschuldigung seitens der türkischen Regierung bis heute hat.
    Kaan wächst in einem Vorort in München auf. Er ist (ebenso wie der Autor) der musikalisch talentierte Sohn eines deutschen Vaters und einer türkischen Mutter mit armenischen Wurzeln mütterlicherseits.
    Regelmäßig besucht er seine Großeltern am Schwarzen Meer, die unter Atatürk zunächst zu Wohlstand kamen und schließlich das meiste wieder verloren.
    Die Geschichte wird in zahlreichen Zeitsprüngen erzählt. In einem äußerst beklemmenden, an Grauen kaum zu überbietenden, hervorragend geschriebenen ersten Kapitel treffen wir im Jahr 1915 auf den 15-jährigen Großvater Kaans als dieser von Soldaten für einen Spezialauftrag angeworben wird. Es folgen Episoden aus Kaans Zeit als Kind, Jugendlichen und Erwachsenen, mehrmals unterbrochen von Rückblicken, in denen das Leben seiner Großeltern geschildert wird.
    Was so eindringlich begann, entpuppte sich für mich bald zu einem sperrigen, zwiegespaltenen Lesevergnügen, das zum einen der sprunghaften Erzählweise, zum anderen dem zwar talentierten, aber zugleich nervigen, äußerst egozentrischen, in Selbstmitleid suhlenden, suizidgefährdeten, seiner Freundin gegenüber übergriffigen Protagonisten Kaan geschuldet war. Doch Stück für Stück zeigte sich, dass Kaan unter einem noch unerkannten Trauma leidet, das seinen Ursprung in der erschütternden Lebensgeschichte seiner Großmutter Vahide hat, die als armenische Waise dem Völkermord nur knapp entging. Aufgenommen von einer muslimischen Familie bekam sie einen neuen Namen und wurde fortan als gläubige Muslima erzogen. Ihr späterer Ehemann, Kaans Großvater, konnte durch die Vertreibung armenischer Familien günstig Land erwerben und dadurch erfolgreich Haselnüsse anbauen und vermarkten.
    Interessant und schwierig wird der Text durch surreale Szenen, Gedankenspiele, Traumsequenzen, Rache- und Gewaltphantasien, die sich gegen die repressive Politik in der Türkei und seinen nie namentlich erwähnten Präsidenten richten.
    Zentral für den Roman ist außerdem der barbarische Tepegöz-Mythos, der für Kaans Großvater Antworten auf alle Fragen des Lebens bereithält. Hier lassen sich im Sieg der Gläubigen (Muslime) gegen die Ungläubigen (u.a. christliche Armenier) Verbindungen zum Völkermord, aber auch zur gegenwärtigen Situation in der Türkei ziehen. Eine kritische Sichtweise auf den Mythos wird Kaan von seiner Großmutter aufgezeigt, die ihn beschwört diesen anders zu sehen: „Es ist eine Geschichte über nichtsnutzige Männer, über Strafe und Rache und Hass und einen gottlosen Gott. (…) Sie feiern den Sieg der Gläubigen gegen die Ungläubigen. Die Geschichte von Tepegöz zeigt dir, warum der Schmerz in diesem Land kein Ende nimmt“ (S. 184 + 186).
    Sie fleht Kaan an, Rache für sie zu üben, dafür aber eine andere Form als die der Gewalt zu finden.
    „Singe Lieder, erzähle Geschichten, erfinde Rituale, wüte, räche, quäle, zerstöre, verletze, töte in diesen Geschichten, lass ab und vergib in der Wirklichkeit. Und dann: Verbrenne deine Angst. Deine Seele braucht Heilung. Sie liegt nicht in der Tat. Vertraue mir: Nur das Licht ist ein guter Ort“ (S. 195).
    Im Text ist die Verzweiflung des Protagonisten spürbar, erlittenes Unrecht sichtbar zu machen, einen gangbaren Weg zu finden, seine Großmutter und all die Ermordeten und Vertriebenen zu rächen und sich und seine Tochter vom Trauma zu erlösen. Doch geht es ohne Gewalt, wenn Täter schlicht leugnen, dass ein Verbrechen überhaupt stattgefunden hat?
    Letztendlich ist der Text getragen von der Hoffnung, dass in der Türkei der Stolz, sich Türke zu nennen irgendwann einmal ersetzt werden möge durch den Stolz, sich einen Menschen zu nennen (vgl. S. 264).
    Gleißendes Licht ist ein äußerst vielschichtiger Roman, der aufgrund der surrealen Versatzstücke, den lyrischen Einschüben und Songtexten, den mythologischen, historischen und politischen Bezügen sowie den zahlreichen Zeitsprüngen keinen leichten Zugang bietet. Konzentriertes, genaues Lesen ist ebenso erforderlich wie ein Einlassen auf die eigenwillige Textkomposition, die sprachlich und thematisch auf sehr unterschiedliche Art und Weise berührt. Insgesamt ist Marc Sinan ein außergewöhnlicher, streckenweise sehr bewegender Debütroman zu einem wichtigen Thema gelungen, der durch die explizite Darstellung einiger gewalttätiger Szenen nichts für zartbesaitete ist.

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