Gentleman über Bord

Der erfolgreiche 35-jährige New Yorker Börsenmakler Henry Preston Standish braucht eine Auszeit, heutzutage würde man wohl von einem Burnout oder einer Midlife-Crisis sprechen. Seine Frau und die beiden kleinen Kinder zeigen Verständnis, so dass Standish auf Erholungsreise gehen kann. Er ist bereits einige Wochen unterwegs, als ihn ein Zufall auf den Frachter „Arabella“ spült, der die wenig befahrene Route von Hawaii nach Panama fährt. Es sind nur wenige Passagiere an Bord, die der besseren Gesellschaft angehören und uns im Zuge des Romans vorgestellt werden. Standish genießt die Überfahrt außerordentlich. Er hat Freude an den Sonnenauf- und -untergängen, bewundert den spiegelglatten Ozean oder den leuchtenden Sternenhimmel. Wir Leser dürfen diese Naturschönheiten gleichfalls intensiv genießen. Ansonsten ist Müßiggang angesagt. Es gibt einen Pool, eine Bibliothek, gutes Essen sowie Möglichkeiten, sich zu unterhalten.
Der dreizehnte Tag ist der Tag, an dem Standish buchstäblich aus seinem doch recht durchschnittlichen Leben fällt: Er rutscht am frühen Morgen unglücklich auf einem Ölfleck aus und stürzt in den Pazifik. Niemand bemerkt das Unglück, dummerweise ist Standish so fest in seiner Standesehre verankert, dass er weder undiszipliniert um Hilfe ruft, noch sonst auf sich aufmerksam macht. Stattdessen vertraut er darauf, dass jemand seine Abwesenheit an Bord recht bald bemerkt, so dass die „Arabella“ umkehren und ihn wieder aufsammeln wird.
Dieses überaus spannende wie skurrile Setting hat der Autor wunderbar ausgearbeitet. Auf der einen Seite partizipieren wir an den Gedanken und Erinnerungen des Gestürzten, der seine Zuversicht lange nicht verliert, und sich sogar ausmalt, wie verschiedene Zuhörer später auf die Erzählungen über sein wahnwitziges Abenteuer reagieren werden. (Diese Fantasiegespräche sind durchaus tragikomisch – das Lachen blieb mir allerdings im Hals stecken.)
Es dauert eine ganze Zeit, bis Standish der Ernst der Lage klar wird. Auf der anderen Seite dürfen wir parallel dazu die kleine Reisegesellschaft an Bord weiter beobachten. Aus den verschiedensten Gründen meldet nämlich niemand zeitnah das Fehlen Standishs, so dass wertvolle Zeit verstreicht. Als Leser bangt man und evaluiert die Wahrscheinlichkeiten einer Rettung. Standish selbst bleibt lange optimistisch. Er ist ein guter Schwimmer, das Salzwasser trägt ihn zudem mit wenig Anstrengung.
„Standish hielt Ausschau nach der „Arabella“ in der Ferne. Sie war nicht größer als ein Kanu. Er schaute zum Himmel. Der war so groß wie der Mut eines Mannes, und das Meer dehnte sich weiter als seine Hoffnungen.“ (S. 61) Es sind Sätze wie dieser, die den Roman wirklich zu einem Kleinod machen. Lewis verfügt über einen wunderbaren Schreibstil, der einem die sich im Zeitablauf verändernden Emotionen des Protagonisten zwischen Wut, Hoffnung und Schicksalsergebenheit sehr nahe bringen. Man empfindet regelrecht mit ihm. Der einsame Mann im Pazifik kontrastiert maximal zum sorglosen Alltag der Passagiere an Bord. Dieser Gegensatz ist faszinierend und zeigt anschaulich die Dekadenz und Oberflächlichkeit einer privilegierten gesellschaftlichen Klasse, deren Charakterzeichnung ebenso sorgfältig gelungen ist wie die des Protagonisten.
Für mich ist dieser kleine Roman große Literatur. Er greift zeitlose Themen auf und beschäftigt sich mit den existentiellen Fragen des Lebens. Nach dem Ende der Lektüre bleibt viel Raum für eigene Gedanken. Die Sprache passt wunderbar zur Entstehungszeit (Erstveröffentlichung 1937), die Übersetzung von Klaus Bonn lässt keine Wünsche offen und das Nachwort von Jochen Schimmang ordnet das Werk ein und gibt einen Interpretationsansatz. Die optisch und haptisch anspruchsvolle Hardcover Ausgabe im Schuber lässt jedes bibliophile Herz höher schlagen. Der Roman ist auch als Geschenk sehr zu empfehlen.
Große Lese-Empfehlung für alle Freunde besonderer Geschichten!
'Ein Fehltritt, und ein paar Sekunden später bin ich in einer völlig anderen Welt!' (57)
Ist das nicht eine zeitlose Angelegenheit, etwas, was jedem von uns passieren kann, wenn auch nicht so existenziell schlimm wie beim Gentleman?! Doch von Anfang an: Henry Preston Standish, ein erfolgreicher Börsenmakler, hat sich eine Auszeit von Beruf und Familie genommen und ist auf einem Frachter unterwegs, weit draußen auf einer kaum befahrenen Route. Dass er auf einem Ölfleck ausrutscht und kopfüber ins Wasser fällt, darf ich verraten, denn das steht schon im ersten Satz.
Wie wird er nun damit umgehen, mit diesem Missgeschick, dass einem Gentleman nicht passieren darf, das ihn der Lächerlichkeit preisgäbe? Wird er gerettet werden? Das ist eine Frage, die bis zum Ende offen bleibt. Bis dahin aber erfahren wir eine Menge, obwohl es sich nur um ein dünnes Büchlein handelt: sein Leben, seine Gedanken, aber auch einiges über die wenigen Passagiere an Bord und einige Mitglieder der Besatzung. Ich finde, dass sie alle typische Verhaltensweisen zeigen, die man auch heute noch beobachten kann.
Faszinierend ist es, wie der Autor die Situation beschreibt, das Verlorensein eines kleinen Menschleins im unendlichen Ozean, den Naturgewalten ausgeliefert, ganz auf sich alleine gestellt. Als Leser ist man ganz nah dabei, teilt mal die Hoffnung, mal die Ängste, die aufkommende Verzweiflung, die dann doch aufkommenden Todesgedanken.
Dieses Büchlein ist zu Recht ein wiederentdeckter zeitloser Klassiker mit viel Gehalt, mit Anregungen zum Nachdenken, in mitreißender Sprache geschrieben, die aber nicht übertrieben wirkt, mit gut beschriebenen Charakteren, ein Büchlein, das nachwirkt.
Ich habe nur ein TB-Lese-Exemplar, aber für Bibliophile dürfte es sehr verlockend sein, dass es dieses Büchlein in einer wunderschönen Ausgabe im Schuber gibt. Auf jeden Fall sehr empfehlenswert.
Kurzmeinung: Ein ganz besonderes Büchlein!
Der Roman „Gentleman über Bord“, erschien in der Originalausgabe 1937 und fand nicht viel Beachtung. Dankenswerterweise hat der Mare Verlag den Roman dem Vergessen entrissen: ich sage es gleich vorab, er ist großartig. In Gedanken hörte ich ständig den Song „La Mer“ von Charles Trenet. Das Meer ist so schön, aber auch so schrecklich.
Die Story ist so simpel wie grauenhaft. Ein Mensch geht über Bord. In der Tiefsee. Auf einer unbefahrenen Strecke. Die Sprache des Romans ist so wunderschön, dass man das Grauen beinahe nicht spürt, aber es ist da: lost in deep sea. Das wünscht man keinem. Man hofft und bangt mit dem Gentleman. Der tapfer dahinschwimmt und dem allerhand Gedanken im Kopf herumgehen. Ein kleiner Mensch, die große und großartige Natur. Das ist ein ungleiches Kräftemessen. Wird ein Wunder geschehen? Die Stärke des Roman liegt in der Empathie, die der Leser aufbringt. Unwillkürlich. Im Hoffen und Verzweifeln folgt er der Romanfigur. Er kann nicht anders.
Fazit: Ein wunderschöner Roman, der alles hat. Sprachlich top, leichte Hand, Figurenzeichnungen in aller Schlichtheit fesselnd, die Natur. Emotion. Von mir gibt es für den nur 176 Seiten starken Roman eine dicke Leseempfehlung und die volle Punktzahl.
Kategorie: Anspruchsvolle Literatur. Klassiker.
Mare Verlag, 2023
Auszeit im Pazifik...
Henry Preston Standish braucht eine Auszeit. Sein Alltag - Arbeit, Familie, gesellschaftliche Anlässe - erfüllt ihn nicht mehr, er ist müde und antriebsarm. Um auf ganz andere Gedanken zu kommen begibt er sich auf Reisen, und derzeit befindet er sich mit einigen anderen Passagieren auf einem Frachter im Pazifik. Lange schon hat er keine solche Seelenruhe mehr empfunden. Doch am dreizehnten Tag seiner Reise rutscht er auf einem Ölfleck aus - und landet mitten im Pazifik...
"Und zack - ein Fehltritt, und ein paar Sekunden später bin ich in einer völlig anderen Welt." (S. 57)
Kein Problem, möchte man denken, doch weit gefehlt. Es ist sehr früh morgens, und niemand bekommt mit, dass da ein Mann über Bord gegangen ist. Und Standishs Erziehung verhindert, dass er gleich lautstark auf seine missliche Lage aufmerksam macht. Ein Gentleman fällt doch nicht einfach so ins Wasser! Und was für ein Bild gäbe er ab, würde ihn jemand in dieser Situation sehen! So verstreicht wertvolle Zeit, und als Standish schließlich doch beschließt zu rufen, ist der Frachter bereits außer Hörweite...
Die Erzählung begleitet Standish bei seiner vielstündigen Odyssee im Pazifik und beobachtet scharf die wechselvollen Gedanken und Emotionen des im Wasser Treibenden. Dieser formuliert im Geiste schon die heldenhaften Reden, die er nach seiner Rettung zu halten gedenkt, gerät übers Hoffen aber zunehmend auch ins Verzagen, spätestens als der Frachter hinterm Horizont verschwindet. Nichts, woran Standish sich festhalten könnte, weder beim Schwimmen noch mit seinem Blick. Die Gedankengänge verändern sich, nehmen allgemeingültige existenzialistische Züge an.
Doch nicht nur Standish und seine prekäre Lage werden beleuchtet, zwischendurch wendet sich die Erzählung auch den anderen Personen auf dem Frachter zu, wodurch ein Gesellschaftsportrait der damaligen Zeit auf kleinstem Raum entsteht - (der Roman erschien erstmals 1937). Zudem zeigen sich zeitlose Verhaltenskomponenten, die Entstehung von Gerüchten beispielsweise, die sich verselbständigenden Gedankengänge innerhalb einer Gruppe, das Heuchlertum intoleranter Missionare u.a.m.
Unbestritten ist dies ein kunstfertig konzipierter Kurzroman, der Gesellschaftsportrait und existenzialistische Betrachtungen auf nur wenigen Seiten überzeugend zu präsentieren vermag, gespickt noch mit präzise beobachteten und poetisch geschilderten Naturereignissen. Trotzdem habe ich mich mit der Erzählung nicht immer wohlgefühlt, v.a. gegen Ende hin. Neben dem zeitweiligen Unbehagen beim Lesen irritierte mich auch die Distanz zum Geschehen, die ich einfach nicht überbrücken konnte. Emotional blieb ich hier eher gleichgültig, was vermutlich in der Absicht des Autors lag, was mich persönlich aber doch etwas störte.
Ein sprachlich versiertes interessantes Gedankenexperiment, das ich gerne gelesen habe...
© Parden
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