Gentleman über Bord

Buchseite und Rezensionen zu 'Gentleman über Bord' von Herbert Clyde Lewis
4.9
4.9 von 5 (9 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Gentleman über Bord"

Ein wohlsituierter New Yorker Geschäftsmann stürzt urplötzlich in eine mentale Krise. Um zu gesunden, so spürt er, muss er seinen von grauem Erfolg geprägten Alltag hinter sich lassen, und kurzerhand tritt er eine Schiffsreise an. Kaum auf See, stellt sich die erhoffte Erleichterung tatsächlich ein, doch dann ... macht er einen einzigen falschen Schritt und landet mitten im Pazifik, während sein Schiff sich immer weiter von ihm entfernt. Was denkt ein Mensch in solch einer Situation? Woraus schöpft er Hoffnung? Und wie blickt er nun auf sein Leben, dessen er vor Kurzem noch so überdrüssig war? Mit Gentleman über Bord gelang Herbert Clyde Lewis ein tiefgründiges, genial komponiertes Meisterwerk, das fast ein Jahrhundert lang weitgehend unbeachtet blieb und in der vorzüglichen Übersetzung von Klaus Bonn jetzt endlich auf Deutsch vorliegt.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:176
Verlag: mareverlag
EAN:9783866486966

Rezensionen zu "Gentleman über Bord"

  1. Ein wertvoller Leseschatz

    Im Original erschien "Gentleman über Bord" von Herbert Clyde Lewis bereits im Jahr 1937. Es ist das Verdienst des Mare Verlages, dieses zu recht als "genial kompiniertes Meisterstück" eingeordnete Werk in einer wunderschönen Ausgabe neu aufgelegt zu haben. Es ist ein schmaler Roman, der es aber in sich hat und mich von der ersten bis zur letzten Seite begeistert hat. Nun bin ich fast traurig, diesen überaus kostbaren literarischen Schatz nicht mehr neu entdecken zu können, denn tatsächlich geschieht es auch Viellesern nicht allzu oft, dass sie in derr Flut an jährlichen Neuerscheinungen eine Perle von solch unermesslichem literarischen Wert aufspüren.

    Schon die vorangestellten persönlichen Worte der Programmleiterin des Verlags, Judith Weber, haben meine Neugierde auf die Geschichte immens gesteigert. In knappen, präzisen Worten schildert sie den Inhalt von Lewis' Werk und begründet so ihre Motivation, das Werk in die Klassikerreihe des Mare Verlages aufzunehmen. Worum geht es also?

    Im Mittelpunkt von "Gentleman über Bord" steht der erfolgreiche Geschäftsmann Henry Preston Standish. Er hat viel im Leben erreicht, doch dann wird er eines Tages von einer Art Lähmung befallen und wird sich der Notwendigkeit bewusst, aus seinem Alltag auszubrechen. Seine Frau zeigt sich verständnisvoll und kurz entschlossen tritt Standish schon bald eine Schiffsreise an. Lewis beschreibt nur kurz die Idylle des Meeres und die Schönheit der Sonnenauf- und Untergänge, bevor er den Leser quasi ins kalte Wasser schmeißt - genauso wie seinen Hauptprotagonisten Standish. Natürlich wird dieser nicht wirklich über Bord geworfen, nein! Die Ironie des Schicksals ist, dass selbst einem erfolgreichen Geschäftsmann, einem angesehenen Gentleman ein winzig kleiner Fehltritt genügt, um ins Verhängnis zu stürzen: Nach einem Fehltritt rutscht Standish auf einem Ölfleck aus und landet gleich darauf in den Fluten des Ozeans. Er, der Gentleman, paddelt plötzlich hilflos im großen Ozean. Was für ein symbolträchtiges Bild! Denn egal, was man im Leben erreicht, wie erfolgreich man ist, Gentleman hin oder her: Am Ende ist ein jeder nur ein kleiner Mensch im großen Universum, den Launen der Natur nicht im geringsten gewachsen. Ich fühlte mich an die Thesen meines Lieblingsphilosophen Hans Blumenberg erinnert, der in seinem umfangreichen Lebenswerk die absolute Überlegenheit der Welt und die korrespondierende Hilflosigkeit des Menschen immer wieder in ihren unterschiedlichsten Facetten herausgearbeitet hat.

    "Gentleman über Bord" ist eine sehr handlungsarme Geschichte. Nach dem unglückseligen Fehltritt des Gentlemans lesen wir ausführlich über Standishs Gedanken und Emotionen. Trotz dieser aussichtslosen Situation ist Standish zunächst darauf bedacht, um jeden Preis eine gute Figur zu machen. Für einen Gentleman scheint es nicht schicklich lautstark nach "Hilfe" zu rufen. Also unterlässt er es. Das hat schon eine gewisse Komik. Doch zu ernst ist die Situation, das Lachen bleibt einem im Halse stecken. Dennoch folgt man fasziniert Standishs Gedanken, wie sie hin und her fließen und zwischen Optimismus und zunehmender Verzweiflung und Hilflosigkeit. Den rettenden Frachter immer im Blick, arrangiert sich der Gentleman lange mit der Situation, muss sich bei allem Stolz auf sein Durchhaltevermögen nach und nach klar machen, dass er in dieser Lage nicht uneingeschränkt am Erscheinungsbild eines Gentlemans festhalten kann. Vielleicht für ihn die schmerzhafteste Erfahrung seines Unglücks. Selbst ein Gentleman muss sich hier letztlich der Naturgewalt unterordnen.

    Aber wird er denn nicht auf dem Frachter, auf dem er unterwegs war, vermisst? Nun ja. Es sind wenige Menschen an Bord. Davon findet ein jeder Gründe, warum er nicht aktiv geworden ist, als die Berührungspunkte zu Standish wegfielen. Insofern haben wir hier ein Miniaturportrait der Gesellschaft, die gerne wegschaut. Als der Vorfall dem Kapitän schließlich gemeldet wird, kehrt der Frachter um - nach 13 Stunden. 13 Stunden, in denen der Gentleman Standish einsam im Ozean getrieben ist, über sein Leben, Gott und die Welt und schließlich auch den Tod philosophiert hat...

    Ich habe "Gentleman über Bord" nahezu atemlos gelesen. Etwas Vergleichbares in der großen, breiten Literaturwelt ist mir noch nicht untergekommen. Was für eine Kunst, aus einem kleinen winzigen Fehltritt eine Geschichte zu komponieren, die über die ganz großen Fragen der Menschheit nachdenkt! Und immer schaffte es Lewis die Balance zwischen tragischen und komischen Elementen zu halten. Ich denke, das ist das Besondere des Werkes. Die Situation, in die Standish hineingerät ist hochtragisch. Aber was er daraus macht ist gleichzeitig Unterhaltungsliteratur vom Allerfeinsten. Und das ist mitnichten abwertend gemeint. Im Gegenteil: Noch nie hat mich ein Roman, in der eine Unglückssituation im Mittelpunkt steht, gleichzeitig auch amüsiert. Lewis gelingt dies, während ich gleichzeitig die Einladung angenommen habe, darüber nachzudenken, wie ich selbst möglicherweise in einer vergleichbaren Situation empfunden hätte.

    Ich bin auch Wochen später noch restlos begeistert und habe eine neue kostbare Perle im literarischen Universum entdeckt, für die ich nicht müde werde, zu werben: Lest unbedingt dieses Buch! "Gentleman über Bord" hat wirklich großes Potential zu einem neuen persönlichen all time favorit.

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  1. 5
    03. Mai 2023 

    Mit Anstand über Bord und untergehen

    Der kleine Roman “Gentleman über Bord“ von Herbert Clyde Lewis führt uns auf ein Schiff, dass neben Fracht einige Passagiere an Bord hat und sie in Richtung südliches Amerika bringen will. Diese Passagiere bilden einen interessanten Durchschnitt durch die höhere US-amerikanische Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts, einem Zeitpunkt, zudem auch dieser Roman zuerst erschienen ist. Im mare-Verlag bekommt dieser Roman nun ein neues Leben in deutscher Übersetzung von Klaus Bonn.
    Einer der Passagiere ist der im Titel genannte Gentleman, der durch einen nur kleinen Fehltritt über Bord geht und mitten im Pazifik landet. Dort treibt er und bleibt in seiner immer aussichtsloseren Lage trotz allem der Gentleman, der er zeitlebens war und sein wollte, er bewahrt Ruhe, seine „stiff upper lip“ und stoische Ruhe und Haltung.
    „Das Anstandsgefühl eines Mannes war genauso wichtig wie sein Leben.“
    Währenddessen läuft auf dem Frachter für ihn alles in eine falsche und fatale Richtung. Sein Fehlen wird immer wieder wegerklärt und in seiner Tragweite und Dramatik ungemein lange nicht erkannt. So wird des Gentlemans Hoffnung auf Rückkehr des Schiffes und sein darauffolgendes Auffinden immer mehr haltlos und nichtig. Beide winzige Punkte im Pazifischen Ozean entfernen sich immer weiter voneinander und Rettung wird immer unwahrscheinlicher. So treibt der Leser zeitweise mit dem Gentleman in den Fluten des Ozeans und zeitweise beobachtet er an Bord die hauptsächlich irrationalen und zeitweise verantwortungslosen Handlungen des Bordpersonals. Er kann dabei auch eintauchen in die sehr sorgfältig ausgewählte Figurengruppe, die die Passagierliste dieses Frachters bildet. Die sorgfältige Auswahl führt dazu, dass einer spezifischen Gesellschaftsschicht der USA in den frühen 1920er Jahren intensiv nachgespürt werden kann.
    Währenddessen befindet sich der Gentleman in einer existentiellen Situation zwischen Leben und Tod, zwischen Luft und Wasser in einer fassungslosen Einsamkeit und Abgeschiedenheit von allen denkbaren Rettungsmöglichkeiten. Ein Mann und das Meer – auf diese einfache Formel kann man diese Situation zusammenfassen, wie sie rein, klar und stilecht von Lewis geschildert wird.
    Mich erinnerte dieser Roman in seiner so sehr eindrücklich geschilderten existentiellen Situation an Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ – ebenfalls ein Werk in einer Miniaturform mit großen existentiellen Situationen beim Kampf zwischen Mensch und Natur, und er hat mich wirklich ähnlich stark beeindruckt. Dieser kurze Roman ist eine wirkliche literarische Perle, die viele Leser verdient hat.

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  1. 5
    02. Mai 2023 

    Irgendwo im Pazifik

    Irgendwo im Pazifik, zwischen Hawaii und Panama ist es passiert: ein Gentleman ging über Bord. Und wie es besagtem Gentleman mit dem klangvollen Namen Henry Preston Standish dabei erging, und welchen Verlauf sein Schicksal nahm, erzählt der Roman „Gentleman über Bord" von Herbert Clyde Lewis, erstmalig veröffentlicht im Jahre 1937.
    Mr. Standish wurde das Gentleman-Sein in die Wiege gelegt und mit einer angemessenen Erziehung gefestigt. Mittlerweile ist er 35, Börsenmakler in New York, gut situiert, verheiratet, mit zwei Kindern. Sein Leben verlief bisher solide, erschreckend solide, so dass ihn der Gedanke an das, was da noch kommen bzw. eher nicht kommen könnte, in eine seelische Krise stürzt. Er entschließt sich darauf hin zu einer Auszeit und sucht sein Seelenheil auf einer Reise, die ihn kreuz und quer, über und entlang des amerikanischen Kontinents führt.
    Eine seiner letzten Etappen ist die Fahrt auf einem Frachter, die ihn von Hawaii nach Panama führen soll. Und mitten im Pazifik passiert es: er geht über Bord; der Faux Pas ist zwar peinlich, dennoch, bewahrt Mr. Standish seine Haltung, denn einmal Gentleman immer Gentleman - egal in welcher Situation. Sein Verschwinden bleibt zunächst unbemerkt, keiner der acht Mitreisenden oder der Schiffsbesatzung scheint ihn zu vermissen. Das Leben an Bord des Frachters geht auch ohne Mr. Standish weiter.
    So dümpelt der Gentleman im Pazifik vor sich hin, allein, kein Schiff weit und breit, nur er in dem ruhigen spiegelglatten Gewässer. Zunächst behält seine Zuversicht noch Oberwasser, doch je länger er auf seine Rettung wartet, um so mehr lässt er den Gedanken an die Möglichkeit seines bevorstehenden Todes zu. Mit seinem Optimismus schwindet auch nach und nach seine Gentleman Attitüde und seine Gedanken nehmen philosophische Ausmaße an.
    Dieser Stimmungswandel überträgt sich auf den Leser. Anfangs liest man den Roman mit einer Mischung aus Amüsement, Fassungslosigkeit und Unbehagen. Lewis schafft mit viel Wortwitz und Ironie eine sehr skurrile Situation, in der sich der Gentleman dem Leser gegenüber der Lächerlichkeit preisgibt. Denn seine Angst, die Würde zu verlieren ist größer ist als die Angst, sein Leben zu verlieren.
    Doch je mehr man sich mit der Vorstellung beschäftigt, an Mr. Standishes Stelle zu sein, also als unbedeutendes Menschlein dieser gigantischen Naturgewalt hilf- und hoffnungslos ausgeliefert zu sein, umso unbequemer wird die Lektüre. So gerät man zwangsläufig ins Philosophieren, zumal die humoristische Erzählweise von Lewis in Ernsthaftigkeit umschwenkt. Diese Ernsthaftigkeit überträgt sich auf den Leser und man ertappt sich dabei, nach den unterschiedlichsten Denkansätzen zu suchen, die sich auf die menschliche Existenz und ihre Endlichkeit übertragen lassen.
    Lewis hat mit „Gentleman über Bord" einen zeitlosen Roman geschrieben, dessen existenzialistische Denkanstöße auf jede Epoche unserer Zeit übertragbar sind. Dazu bedurfte es keines philosophischen Mammutwerkes. Stattdessen genügten Lewis 176 Seiten voller Wortwitz und einem tragischen Helden inmitten von Naturgewalten, und schon hatte er ein Kleinod der Weltliteratur geschaffen. Großartig!

    © Renie

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  1. Lost in the sea

    „[…] Er schaute zum Himmel. Der war so groß wie der Mut eines Mannes, und das Meer dehnte sich weiter aus als seine Hoffnungen.“ (S. 61)

    Das ist nur einer von vielen wunderbaren Sätzen aus „Gentleman über Bord“ (erstmals erschienen 1937) von Herbert Clyde Lewis, ein in meinen Augen völlig zu Unrecht vergessener Autor, der aber jetzt dank des mare-Verlags in einer wunderschönen Ausgabe in der Übersetzung von Klaus Bonn und einem Nachwort von Jochen Schimmang zu hoffentlich neuen und verdienten Ehren gelangt.

    Henry Preston Standish ist ein erfolgreicher New Yorker Geschäftsmann mit Frau und Kindern. Das schützt ihn jedoch nicht davor, urplötzlich in eine mentale Krise (heute würde man Burn-Out dazu sagen) zu stürzen und eine Auszeit zu nehmen. Auf einem Frachter mit insgesamt 9 Passagieren passiert das Unglaubliche: ein falscher Tritt – und unser (tragischer) Held landet kopfüber im Pazifik.

    Auf den folgenden gut 160 Seiten werden die Leserinnen und Leser mitgenommen auf einen wilden Parcours aus Hoffen und Bangen, Lachen und Weinen, dem (kritischen) Blick auf die amerikanische Gesellschaft der 1930er-Jahre und – so kurios sich das jetzt anhören wird – aus slapstickartigen und urkomischen Passagen.

    Was geht einem Mann, der mutterseelenallein im Pazifik schwimmt durch den Kopf? Hadert er mit seinem Schicksal? Nimmt er es von Gott gegeben hin? Was denken die anderen Passagiere und die Schiffscrew? Das alles zeigt uns Herbert Clyde Lewis in für die Situation nicht unbedingt passend erscheinender lyrisch-poetischer Sprache, die jedoch trotzdem wie der Deckel auf den Topf passt und so die tragische Situation „erträglich“ macht.

    Ich will mich bzw. euch gar nicht länger mit weiteren Einzelheiten aufhalten. Stattdessen geht ein Appell an alle raus, die an hochwertig gestalteten Büchern (die jeden einzelnen Cent wert sind!) und tollen Geschichten interessiert sind: kauft und lest dieses Buch und drückt die Daumen, dass auch das restliche (überschaubare) Werk von Herbert Clyde Lewis ins Deutsche übertragen wird.

    Eine wunderbare Wiederentdeckung und damit nichts Anderes als (mindestens) 5* wert.

    ©kingofmusic

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  1. 5
    30. Mär 2023 

    "Ganz allein sehe icn mir beim Sterben zu"

    Der kleine Roman beginnt mit einem Paukenschlag: Henry Preston Standish stürzt kopfüber in den Pazifik. Als Leser erwartet man nun Näheres: wer ist das, wieso stürzt er ins Meer, was geschieht jetzt zu seiner Rettung? Der Erzähler lässt den Leser mit diesen Fragen alleine und wendet sich der Schönheit des Sonnenaufgangs zu. Mit dieser speziellen Form von Humor wird der Leser im Roman immer wieder konfrontiert.

    Standish ist ein New Yorker Börsenmakler und stammt als Nachfahre einer der Pilgrim Fathers aus bester Familie. Er ist verheiratet, wohnt mit Frau und zwei Kindern in bester New Yorker Lage am Central Park. Der Erzähler bezeichnet ihn als „öde“: er erledigt alles, was zu erledigen ist, immer ordentlich, aber ohne jede Emphase. Weil umgekehrt auch ihn alles anödet, unternimmt er eine längere Reise und so landet er auf dem Frachter Arabella und fährt nach Panama. Wo er auf einem Ölfleck ausrutscht und ins Meer stürzt.

    Standish hat zunächst keine Angst, sondern er schämt sich. Ein Mann seiner Erziehung und seiner Gesellschaftsklasse stürzt eben nicht ins Meer, zudem mache das der Schiffsbesatzung Ärger, und auch das gehört sich nicht. Nun plagen ihn die Überlegungen, wie er sich angemessen zu verhalten habe. Er ist sich sicher, dass sein Verschwinden auf dem Schiff bemerkt wird und seine Rettung naht. Er hält bereits Reden an die Reporter, an Freunde und seine Familie, wenn er seine dramatische Rettung und sein Überleben in diesen unendlichen Weiten erzählen wird. Dazu wird es nicht kommen; verschiedene Zufälligkeiten führen dazu, dass sein Verschwinden erst am Abend bemerkt wird.

    Standishs Gefühle schwanken zwischen freudiger Zuversicht, Panik, Empörung und Hoffnungslosigkeit. Er tröstet sich zwar und meint, dass das Ertrinken eine vornehme Art des Sterbens sei. Aber er sieht auch, dass die Dinge, die ihn bisher definiert hatten – seine vornehme Herkunft, seine verfeinerten Manieren, seine Lebensart etc. - ihn jetzt im Stich lassen. Zum ersten Mal empfindet er die Kostbarkeit des Lebens und stellt fest, dass alle Wünsche ihm bisher erfüllt worden waren, aber der eine Wunsch nach Überleben ihm versagt werden wird.

    Schon im ersten Satz zeigt sich der ironische Grundton des Textes, mit dem der Erzähler nicht nur den Protagonisten, sondern auch die anderen Figuren betrachtet. Damit erspart der Autor dem Leser die zwangsläufig emotionsbesetzte Identifikation mit dem Protagonisten und erlaubt ihm, dem Schicksal Standishs aus der Distanz zuzuschauen.

    Das kann man gut finden oder auch nicht; in diesem Fall war es mir ganz recht.

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  1. 4
    28. Mär 2023 

    Auszeit im Pazifik...

    Henry Preston Standish braucht eine Auszeit. Sein Alltag - Arbeit, Familie, gesellschaftliche Anlässe - erfüllt ihn nicht mehr, er ist müde und antriebsarm. Um auf ganz andere Gedanken zu kommen begibt er sich auf Reisen, und derzeit befindet er sich mit einigen anderen Passagieren auf einem Frachter im Pazifik. Lange schon hat er keine solche Seelenruhe mehr empfunden. Doch am dreizehnten Tag seiner Reise rutscht er auf einem Ölfleck aus - und landet mitten im Pazifik...

    "Und zack - ein Fehltritt, und ein paar Sekunden später bin ich in einer völlig anderen Welt." (S. 57)

    Kein Problem, möchte man denken, doch weit gefehlt. Es ist sehr früh morgens, und niemand bekommt mit, dass da ein Mann über Bord gegangen ist. Und Standishs Erziehung verhindert, dass er gleich lautstark auf seine missliche Lage aufmerksam macht. Ein Gentleman fällt doch nicht einfach so ins Wasser! Und was für ein Bild gäbe er ab, würde ihn jemand in dieser Situation sehen! So verstreicht wertvolle Zeit, und als Standish schließlich doch beschließt zu rufen, ist der Frachter bereits außer Hörweite...

    Die Erzählung begleitet Standish bei seiner vielstündigen Odyssee im Pazifik und beobachtet scharf die wechselvollen Gedanken und Emotionen des im Wasser Treibenden. Dieser formuliert im Geiste schon die heldenhaften Reden, die er nach seiner Rettung zu halten gedenkt, gerät übers Hoffen aber zunehmend auch ins Verzagen, spätestens als der Frachter hinterm Horizont verschwindet. Nichts, woran Standish sich festhalten könnte, weder beim Schwimmen noch mit seinem Blick. Die Gedankengänge verändern sich, nehmen allgemeingültige existenzialistische Züge an.

    Doch nicht nur Standish und seine prekäre Lage werden beleuchtet, zwischendurch wendet sich die Erzählung auch den anderen Personen auf dem Frachter zu, wodurch ein Gesellschaftsportrait der damaligen Zeit auf kleinstem Raum entsteht - (der Roman erschien erstmals 1937). Zudem zeigen sich zeitlose Verhaltenskomponenten, die Entstehung von Gerüchten beispielsweise, die sich verselbständigenden Gedankengänge innerhalb einer Gruppe, das Heuchlertum intoleranter Missionare u.a.m.

    Unbestritten ist dies ein kunstfertig konzipierter Kurzroman, der Gesellschaftsportrait und existenzialistische Betrachtungen auf nur wenigen Seiten überzeugend zu präsentieren vermag, gespickt noch mit präzise beobachteten und poetisch geschilderten Naturereignissen. Trotzdem habe ich mich mit der Erzählung nicht immer wohlgefühlt, v.a. gegen Ende hin. Neben dem zeitweiligen Unbehagen beim Lesen irritierte mich auch die Distanz zum Geschehen, die ich einfach nicht überbrücken konnte. Emotional blieb ich hier eher gleichgültig, was vermutlich in der Absicht des Autors lag, was mich persönlich aber doch etwas störte.

    Ein sprachlich versiertes interessantes Gedankenexperiment, das ich gerne gelesen habe...

    © Parden

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  1. Zwischen Bangen und Hoffen in Hoher See

    Der erfolgreiche 35-jährige New Yorker Börsenmakler Henry Preston Standish braucht eine Auszeit, heutzutage würde man wohl von einem Burnout oder einer Midlife-Crisis sprechen. Seine Frau und die beiden kleinen Kinder zeigen Verständnis, so dass Standish auf Erholungsreise gehen kann. Er ist bereits einige Wochen unterwegs, als ihn ein Zufall auf den Frachter „Arabella“ spült, der die wenig befahrene Route von Hawaii nach Panama fährt. Es sind nur wenige Passagiere an Bord, die der besseren Gesellschaft angehören und uns im Zuge des Romans vorgestellt werden. Standish genießt die Überfahrt außerordentlich. Er hat Freude an den Sonnenauf- und -untergängen, bewundert den spiegelglatten Ozean oder den leuchtenden Sternenhimmel. Wir Leser dürfen diese Naturschönheiten gleichfalls intensiv genießen. Ansonsten ist Müßiggang angesagt. Es gibt einen Pool, eine Bibliothek, gutes Essen sowie Möglichkeiten, sich zu unterhalten.

    Der dreizehnte Tag ist der Tag, an dem Standish buchstäblich aus seinem doch recht durchschnittlichen Leben fällt: Er rutscht am frühen Morgen unglücklich auf einem Ölfleck aus und stürzt in den Pazifik. Niemand bemerkt das Unglück, dummerweise ist Standish so fest in seiner Standesehre verankert, dass er weder undiszipliniert um Hilfe ruft, noch sonst auf sich aufmerksam macht. Stattdessen vertraut er darauf, dass jemand seine Abwesenheit an Bord recht bald bemerkt, so dass die „Arabella“ umkehren und ihn wieder aufsammeln wird.

    Dieses überaus spannende wie skurrile Setting hat der Autor wunderbar ausgearbeitet. Auf der einen Seite partizipieren wir an den Gedanken und Erinnerungen des Gestürzten, der seine Zuversicht lange nicht verliert, und sich sogar ausmalt, wie verschiedene Zuhörer später auf die Erzählungen über sein wahnwitziges Abenteuer reagieren werden. (Diese Fantasiegespräche sind durchaus tragikomisch – das Lachen blieb mir allerdings im Hals stecken.)

    Es dauert eine ganze Zeit, bis Standish der Ernst der Lage klar wird. Auf der anderen Seite dürfen wir parallel dazu die kleine Reisegesellschaft an Bord weiter beobachten. Aus den verschiedensten Gründen meldet nämlich niemand zeitnah das Fehlen Standishs, so dass wertvolle Zeit verstreicht. Als Leser bangt man und evaluiert die Wahrscheinlichkeiten einer Rettung. Standish selbst bleibt lange optimistisch. Er ist ein guter Schwimmer, das Salzwasser trägt ihn zudem mit wenig Anstrengung.

    „Standish hielt Ausschau nach der „Arabella“ in der Ferne. Sie war nicht größer als ein Kanu. Er schaute zum Himmel. Der war so groß wie der Mut eines Mannes, und das Meer dehnte sich weiter als seine Hoffnungen.“ (S. 61) Es sind Sätze wie dieser, die den Roman wirklich zu einem Kleinod machen. Lewis verfügt über einen wunderbaren Schreibstil, der einem die sich im Zeitablauf verändernden Emotionen des Protagonisten zwischen Wut, Hoffnung und Schicksalsergebenheit sehr nahe bringen. Man empfindet regelrecht mit ihm. Der einsame Mann im Pazifik kontrastiert maximal zum sorglosen Alltag der Passagiere an Bord. Dieser Gegensatz ist faszinierend und zeigt anschaulich die Dekadenz und Oberflächlichkeit einer privilegierten gesellschaftlichen Klasse, deren Charakterzeichnung ebenso sorgfältig gelungen ist wie die des Protagonisten.

    Für mich ist dieser kleine Roman große Literatur. Er greift zeitlose Themen auf und beschäftigt sich mit den existentiellen Fragen des Lebens. Nach dem Ende der Lektüre bleibt viel Raum für eigene Gedanken. Die Sprache passt wunderbar zur Entstehungszeit (Erstveröffentlichung 1937), die Übersetzung von Klaus Bonn lässt keine Wünsche offen und das Nachwort von Jochen Schimmang ordnet das Werk ein und gibt einen Interpretationsansatz. Die optisch und haptisch anspruchsvolle Hardcover Ausgabe im Schuber lässt jedes bibliophile Herz höher schlagen. Der Roman ist auch als Geschenk sehr zu empfehlen.

    Große Lese-Empfehlung für alle Freunde besonderer Geschichten!

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  1. 5
    22. Mär 2023 

    Zeitloser Klassiker – allein im unendlichen Meer

    'Ein Fehltritt, und ein paar Sekunden später bin ich in einer völlig anderen Welt!' (57)

    Ist das nicht eine zeitlose Angelegenheit, etwas, was jedem von uns passieren kann, wenn auch nicht so existenziell schlimm wie beim Gentleman?! Doch von Anfang an: Henry Preston Standish, ein erfolgreicher Börsenmakler, hat sich eine Auszeit von Beruf und Familie genommen und ist auf einem Frachter unterwegs, weit draußen auf einer kaum befahrenen Route. Dass er auf einem Ölfleck ausrutscht und kopfüber ins Wasser fällt, darf ich verraten, denn das steht schon im ersten Satz.

    Wie wird er nun damit umgehen, mit diesem Missgeschick, dass einem Gentleman nicht passieren darf, das ihn der Lächerlichkeit preisgäbe? Wird er gerettet werden? Das ist eine Frage, die bis zum Ende offen bleibt. Bis dahin aber erfahren wir eine Menge, obwohl es sich nur um ein dünnes Büchlein handelt: sein Leben, seine Gedanken, aber auch einiges über die wenigen Passagiere an Bord und einige Mitglieder der Besatzung. Ich finde, dass sie alle typische Verhaltensweisen zeigen, die man auch heute noch beobachten kann.

    Faszinierend ist es, wie der Autor die Situation beschreibt, das Verlorensein eines kleinen Menschleins im unendlichen Ozean, den Naturgewalten ausgeliefert, ganz auf sich alleine gestellt. Als Leser ist man ganz nah dabei, teilt mal die Hoffnung, mal die Ängste, die aufkommende Verzweiflung, die dann doch aufkommenden Todesgedanken.

    Dieses Büchlein ist zu Recht ein wiederentdeckter zeitloser Klassiker mit viel Gehalt, mit Anregungen zum Nachdenken, in mitreißender Sprache geschrieben, die aber nicht übertrieben wirkt, mit gut beschriebenen Charakteren, ein Büchlein, das nachwirkt.

    Ich habe nur ein TB-Lese-Exemplar, aber für Bibliophile dürfte es sehr verlockend sein, dass es dieses Büchlein in einer wunderschönen Ausgabe im Schuber gibt. Auf jeden Fall sehr empfehlenswert.

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  1. Das Meer ist das Meer ist das Meer.

    Kurzmeinung: Ein ganz besonderes Büchlein!

    Der Roman „Gentleman über Bord“, erschien in der Originalausgabe 1937 und fand nicht viel Beachtung. Dankenswerterweise hat der Mare Verlag den Roman dem Vergessen entrissen: ich sage es gleich vorab, er ist großartig. In Gedanken hörte ich ständig den Song „La Mer“ von Charles Trenet. Das Meer ist so schön, aber auch so schrecklich.

    Die Story ist so simpel wie grauenhaft. Ein Mensch geht über Bord. In der Tiefsee. Auf einer unbefahrenen Strecke. Die Sprache des Romans ist so wunderschön, dass man das Grauen beinahe nicht spürt, aber es ist da: lost in deep sea. Das wünscht man keinem. Man hofft und bangt mit dem Gentleman. Der tapfer dahinschwimmt und dem allerhand Gedanken im Kopf herumgehen. Ein kleiner Mensch, die große und großartige Natur. Das ist ein ungleiches Kräftemessen. Wird ein Wunder geschehen? Die Stärke des Roman liegt in der Empathie, die der Leser aufbringt. Unwillkürlich. Im Hoffen und Verzweifeln folgt er der Romanfigur. Er kann nicht anders.

    Fazit: Ein wunderschöner Roman, der alles hat. Sprachlich top, leichte Hand, Figurenzeichnungen in aller Schlichtheit fesselnd, die Natur. Emotion. Von mir gibt es für den nur 176 Seiten starken Roman eine dicke Leseempfehlung und die volle Punktzahl.

    Kategorie: Anspruchsvolle Literatur. Klassiker.
    Mare Verlag, 2023

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