Gehe hin, stelle einen Wächter: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Gehe hin, stelle einen Wächter: Roman' von Harper Lee
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4 von 5 (4 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Gehe hin, stelle einen Wächter: Roman"

Sensationeller Manuskriptfund - das literarische Ereignis im Sommer 2015


Harper Lee hat bisher nur einen Roman veröffentlicht, doch dieser hat der US-amerikanischen Schriftstellerin Weltruhm eingebracht: „Wer die Nachtigall stört“, erschienen 1960 und ein Jahr später mit dem renommierten Pulitzer-Preis ausgezeichnet, ist mit 40 Millionen verkauften Exemplaren und Übersetzungen in mehr als 40 Sprachen eines der meistgelesenen Bücher weltweit. Mit „Gehe hin, stelle einen Wächter“ – zeitlich vor „Wer die Nachtigall stört“ entstanden – erscheint nun das Erstlingswerk. Das Manuskript wurde nie veröffentlicht und galt als verschollen – bis es eine Freundin der inzwischen 89-jährigen Autorin im September 2014 fand.


In „Gehe hin, stelle einen Wächter“ treffen wir die geliebten Charaktere aus „Wer die Nachtigall stört“ wieder, 20 Jahre später: Eine inzwischen erwachsene Jean Louise Finch, „Scout“, kehrt zurück nach Maycomb und sieht sich in der kleinen Stadt in Alabama, die sie so geprägt hat, mit gesellschaftspolitischen Problemen konfrontiert, die nicht zuletzt auch ihr Verhältnis zu ihrem Vater Atticus infrage stellen.


Ein Roman über die turbulenten Ereignisse im Amerika der 1950er-Jahre, der zugleich ein faszinierend neues Licht auf den Klassiker wirft. Bewegend, humorvoll und überwältigend – ein Roman, der seinem Vorgänger in nichts nachsteht.


Autor:
Format:Kindle Edition
Seiten:321
EAN:

Rezensionen zu "Gehe hin, stelle einen Wächter: Roman"

  1. 4
    16. Okt 2016 

    Ein zu empfehlender Gesellschaftsroman

    Das Buch habe ich vor drei Tagen zu Ende gelesen, und nun komme ich endlich dazu, die Buchbesprechung darüber zu schreiben.

    Mir hat das Buch recht gut gefallen, allerdings die Szenen auf den letzten 30 oder 40 Seite haben mich so gar nicht angesprochen.

    Die Hauptthematik kommt eigentlich gut rüber. Die junge Protagonistin Jean Louise Finch, Spitzname Scout, versucht sich als Frau gegen gesellschaftliche Konventionen aufzulehnen. Sie entspricht partout nicht dem amerikanischen Frauenideal. Dadurch, dass die Mutter recht früh gestorben ist, fehlten ihr weibliche Vorbilder. Die damalige kleine Scout orientierte sich ganz nach ihrem älteren Bruder. Scout tat alles, was Jungen taten. Sie trug auch hauptsächlich Latzhosen.

    Die Handlung spielt in der Mitte der 1950er Jahre ...

    Richtig spannend fand ich auch, dass Jean Louise als Jugendliche sexuell nicht aufgeklärt war. Auf der Schule hatte sie ein Junge unaufgefordert geküsst und ihre Freundinnen, die auch nicht aufgeklärt waren, verbreiteten das Gerücht, man würde durch einen Kuss schwanger werden. Jean Louise gerät in Panik, eigentlich in ihre erste schwere Lebenskrise … Sie zählt ihre Schwangerschaftswochen, rechnet aus, wann das Kind geboren werden müsste …

    Die erwachsene Jean Louise lebt alleine in New York. Sie ist in der Lage, für sich zu sorgen, indem sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreitet. Unabhängig wie sie ist, wurde sie zu einem autonomen Leben von ihrem Vater erzogen.

    Jean Louise fährt für einen längeren Urlaub in ihre Geburtsstadt Alabama, um den mittlerweile über siebzigjährigen Vater Atticus, der gesundheitlich nicht mehr auf der Höhe ist, zu besuchen.

    Auch in diesem Buch findet man wieder die Auseinandersetzung mit den Rassenunruhen und den Rassenunterschieden. Jean Louises Vater ist Anwalt und hat sich in der Vergangenheit für die schwarze Population stark gemacht und plötzlich merkt Scout, dass ihr Vater politisch nicht mehr derselbe ist. Große Enttäuschungen machen sich in ihr breit … Ich möchte nicht zu viel verraten und halte mich hierzu bedeckt.

    Als sie bei ihrem Vater diese Entdeckung macht, gerät sie in eine tiefe Identitätskrise. Sie hatte ihren Vater als Kind stark idealisiert, schaute immer stolz zu ihm auf, und fand in ihm ein großes Vorbild im Kampf um Menschenrechte für alle. Nicht nur sie bewunderte ihren Vater, der juristisch sehr gefragt war, auch der Bruder strebte nach dessen Vorbild. Doch leider lebt der Bruder Jem nicht mehr. Mit Anfang zwanzig schied er aus dem Leben. Während der Vater den Tod des Sohnes längst akzeptiert hat, trauert Jean Louise noch lange um den Bruder. Der Vater gibt ihr den Tipp, die Toten endlich zu begraben, und ich diese Haltung recht merkwürdig fand.

    Man fragt sich selbst als Leserin, wie Jem diese politische Wesensveränderung des Vaters aufgefasst hätte? Wie wäre er selbst damit umgegangen?

    Entidealisiert Jean Louise nun ihren Vater? Sie lebte nach der Maxime: Gleiche Rechte für alle, Sonderrechte für niemanden. Gelten nun diese Ideale für sie nicht mehr? Jean Louises Weltbild scheint vor ihren Augen zu zerbröseln, denn nicht nur im Vater sieht sie diese Veränderung, sondern auch in ihrem Freund, der von Atticus zu seinem Stammhalter auserkoren wurde, zieht in dieselbe politische Richtung. Auch mit ihm bricht sie die Beziehung. Jean Louise kann scheinbar ihre Ideale ohne die ihres Vaters schwer aufrechterhalten, dabei wird klar, dass der Ablösungsprozess zu ihrem mächtigen Vater trotz ihrer 26 Jahren nicht stattgefunden hat.

    Atticus war kein schlechter Vater. Obwohl er beruflich viele Herausforderungen zu überwinden hatte, nahm er sich trotzdem viel Zeit für seine Kinder. Abends las er ihnen immer Geschichten vor, wobei Jean Louise schon im Kleinkindalter lesen lernte ... Es waren nicht immer Kindergeschichten, die Atticus vorlas. Aus Zeitmangel las er den Kindern auch aus der Zeitung vor, und schlug damit zwei Fliegen mit einer Klappe.

    Zitat:
    Er las seinen Kindern alles vor, was er selbst gerade las, und die Kinder wuchsen erfüllt von einer unorthodoxen Belesenheit heran. Früh sammelten sie Erfahrungen mit Militärgeschichte, Gesetzesentwürfen, den Abenteuern von Sherlock Holmes, dem Gesetzbuch von Alabama, der Bibel und mit Gedichten von Palgrave. (2015, 133)

    Was ist passiert, dass der Vater politisch nicht mehr derselbe ist? Diese Frage lässt sich auf den letzten Seiten beantworten.

    In dem Buch bekommt man noch recht viele interessante Szenen zu lesen. Allerdings die Streitgespräche auf den letzten Seiten haben mich nicht wirklich überzeugen können. Auch die Auseinandersetzung zwischen dem Onkel und Jean Louise fand ich merkwürdig. Als Jean Louise aus dem Streitgespräch mit ihrem Vater zu fliehen versucht, taucht dann plötzlich ihr Onkel, Bruder von Atticus, auf, und zwingt sie zur Besinnung, indem er sie mit einem Hieb ins Gesicht blutig boxt. Die Lippen schwellen an … Jean Louise ist dadurch wieder gesprächsbereit. Der Onkel liest ihr die Leviten und bringt seine Nichte dadurch zu mehr Verständnis dem Vater gegenüber. Daraufhin kommt es zu einem neuen versöhnlichen Kontakt zwischen Vater und Tochter …

    Diese Szenen haben mich ja nun gar nicht überzeugen können. Der plötzliche Sinneswandel war mir nicht glaubwürdig genug, und schon allein diese Gewaltanwendung widerte mich an, war aus meiner Sicht zu dick aufgetragen.

    Mein Fazit?

    Auch wenn mir das Buch im Ganzen gefallen hat, ist es tatsächlich aus meiner Sicht nicht so gut gelungen wie Wer die Nachtigall stört. Natürlich können sich Menschen zu ihrem Nachteil verändern, aber in diesem Buch wirken viele Szenen/Dialoge auf mich nicht überzeugend genug. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken kann. Viele Szenen wirkten auf mich ein wenig entstellt, psychologisch zu künstlich dargestellt.
    Die Autorin selber schien ja von diesem Buch auch nicht überzeugt gewesen zu sein, weshalb sie es nicht zur Veröffentlichung freigab. Oder doch?, siehe Feuilleton der Frankfurter Allgemeine ... Ganz klar ist das leider auch nicht ...

    Der Buchtitel, ein Zitat aus der Bibel, stimmt mich noch immer nachdenklich. Passt er oder passt er nicht zum Inhalt? Ja, er passt schon, ich muss aber für mich selbst noch die nähere Bedeutung herausfinden.

    Aber ich finde, dass man das Buch sehr gut verfilmen könnte. Die Themen sind alle sehr menschlich und keineswegs abstrakt. Wer weiß, vielleicht erfährt dieses Buch ebenso eine Verfilmung? Ich selbst habe wieder Lust verspürt, Wer die Nachtigall stört ein weiteres Mal zu sehen.

    Im Feuilleton der Frankfurter Allgemeine gibt es zu dem Buch folgende interessante und kritische Besprechung.

    http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/gehe-hin-stelle-einen-waechter-von-harper-lee-13704501.html

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  1. Ein Tochter befreit sich...

    Vorne weg
    Harper Lee wurde mit ihrem Roman "Wer die Nachtigall stört", der 1960 erschienen ist und mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, bekannt. Der vorliegende Roman, ihr Erstlingswerk, galt bisher als verschollen, bis es eine Freundin der Autorin zufällig im September 2014 gefunden hat. Es ist zwar zeitlich vor "Wer die Nachtigall stört" entstanden, die Romanhandlung spielt jedoch 20 Jahre danach.

    Inhalt
    Der Roman spielt in den 1950ern in Alabama, in Maycomb County. Die 26jährige Jean Louise fährt jedes Jahr von New York, wo sie arbeitet, für zwei Wochen in ihre Heimat, um ihren inzwischen 72jährigen Vater Atticus Finch, einen Rechtsanwalt, zu besuchen. Ihre Mutter ist gestorben, als sie zwei Jahre alt war, und auch ihr älterer Bruder starb wegen eines Herzfehler als junger Mann.

    Ihr Jugendfreund Henry (Hank genannt), der von ihrem Vater nach dem Tod seines einzigen Sohnes mehr oder weniger "adoptiert" wurde und aus schwierigen familiären Verhältnissen stammt und im Gegensatz zu Jean Louise nicht der bürgerlichen Oberschicht angehört. Henry studiert Jura und steigt in die Rechtsanwaltskanzlei seines vermeintlich zukünftigen Schwiegervaters ein.
    Jean Louise ist fast in ihn verliebt und kann sich inzwischen vorstellen, ihn zu heiraten, obwohl ihre Tante Alexandra, die sich um ihren von Arthritis geplagten Vater kümmert, dagegen ist.
    Seine Familie ist nicht gut genug für Jean Louise - wir schreiben die 50er Jahre und der Südstaaten-Standesdünkel ist immer noch stark ausgeprägt, ebenso wie die Diskriminierung der "Neger". Und ausgerechnet Jean Louises Vater, den sie für seine Rechtschaffenheit verehrt und für sie gottgleich, ist Vorsitzender einer Bürgerwehr. Jean Louise findet zuhause eine Schmähschrift über die "Nigger" und konfrontiert ihre Tante mit dem Inhalt:

    "Du - weißt du, dass der Mist , der da drinsteht, Herrn Dr. Goebbels wie einen naiven kleinen Jungen vom Land aussehen lässt?" (S.117)

    Heimlich wohnt sie der Sitzung der Bürgerwehr bei, am gleichen Ort im Gerichtssaal, in dem sie sich vor langer Zeit immer mit ihrem Bruder versteckt hat, um ihrem Vater zuzusehen.
    Sie ist wie vor den Kopf geschlagen, was sie dort hört und kann es immer noch nicht glauben, dass ausgerechnet ihr Vater Teil dieser Bürgerwehr ist, die für den Erhalt des Grundsatzes seperate but equal eintritt.
    Durch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes wurde 1954 die Rassentrennung in öffentlichen Schulen in allen Bundesstaaten für verfassungswidrig erklärt (Wikipedia) und damit die Trennung aufgehoben.

    Im Roman "Wer die Nachtigall stört" verteidigt ihr Vater erfolgreich einen Schwarzen vor Gericht, der unschuldig ist, und daher kann Jean Louise nicht glauben, dass ihr Vater zum Rassisten geworden ist. Auch deshalb, weil ihr schwarzes Kindermädchen Calpurnia für sie zur Familie gehört hat, wie in einigen Rückblicken deutlich wird.

    Doch der eigentlich Konflikt des Romans besteht in der Loslösung vom Vater, weniger in den unterschiedlichen Ansichten zu den Schwarzen und deren Rechten.

    "Aber ein Mann, der nach der Wahrheit gelebt hat - und du hast an das geglaubt, was er gelebt hat -, dieser Mann macht aus dir nicht nur einen argwöhnischen Menschen, wenn er dich enttäuscht, er nimmt dir alles. Ich glaube, deshalb verliere ich jetzt fast den Verstand..." (S.202)

    Bewertung
    Der Roman zeigt auf, wie schwierig es den Menschen in den Südstaaten fällt, die Schwarzen als gleichwertig anzusehen und anzuerkennen. Selbst Jean Louise, die zeit ihres Lebens "farbenblind" gewesen ist, würde keinen Schwarzen heiraten. In ihrer Naivität erfasst sie weder die Angst, die die Menschen davor haben, Macht gegenüber den Schwarzen zu verlieren, wenn sich diese an der Politik beteiligten, und ihren Unwillen darüber, Gesetze und Vorschriften hinzunehmen, die von den Yankees kommen. Es ist diese Naivität, die beim Lesen bisweilen befremdet, andererseits zeigt der Roman eindrucksvoll die notwendige Emanzipation Jean Louises auf, die mit einer Entthronisierung ihres Vaters einhergehen muss. Es ist ein Roman, über eine junge Frau, die ihren eigenen Weg finden muss und sich deshalb von dem ihres Vaters distanziert, aber es ist auch ein Roman, der einen Einblick in die weiße Seele der Südstaaten erlaubt, wie sie in den 50ern des letzten Jahrhunderts zu finden war.

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  1. 4
    05. Jan 2016 

    Scout heißt jetzt Jean Louise

    Wie in jedem Sommer seit sie in New York lebt fährt Jean Louise zurück nach Maycomb, um ihren Vater und den Rest der Familie zu besuchen. Ihr geliebter Bruder Jem ist leider viel zu früh verstorben und ihr Jugendfreund Dill ist in Europa. Und so ist einiges anders in der Heimat, doch die 26-jährige freut sich auf den Besuch. Besonders auf ihren Vater, der in ihren Augen nichts falsch machen kann. Zwar nervt Tante Alexandra ein wenig, weil sie Jean Louise in das enge Kleinstadtleben einbinden will. Aber es ist Sommer, bis zu dem Tag als Jean Louise mitbekommt, dass ihr Vater im Bürgerrat ist.

    Die Südstaaten Amerikas mit ihrer speziellen Apartheitsproblematik werden hier von der durch „Wer die Nachtigall stört“ weltbekannten Schriftstellerin Harper Lee thematisiert. Nach Presseverlautbarungen wurde das vorliegende Buch bereits vor ihrem Mega-Seller geschrieben, von den Verlagen allerdings zurückgewiesen. Nun sind wir alle an die irgendwie heile Kinderwelt Scouts gewöhnt und gerade von dieser Kinderwelt muss man sich im Laufe der Lektüre dieses neuen älteren Romans verabschieden. Jean Louise steht mit beiden Beinen im Leben, sie hat eine Arbeitsstelle in New York, sie ist die freiheitliche Gleichheit der Stadt gewöhnt und auch deren Gleichgültigkeit vermeintlichen Unterschieden gegenüber. Und so wirkt die jährliche Rückkehr nach Maycomb wie ein Rückschritt. Dennoch genießt ihr Vater in den Augen der Tochter höchstes Ansehen, einen Vorbildstatus, dem ein Mensch nur schwer gerecht werden kann. Das Entsetzen über das Verhalten des geliebten Vaters spürt man beim Lesen fast am eigenen Leib. Der Sockel wankt, es ist wie ein jähes Erwachen. Scout muss erwachsen werden und sich eingestehen, dass das Denken des Vaters nicht immer der Weisheit letzter Schluss ist. Eine Ablösung, die auch ein Aufbruch sein kann.

    Auch wenn dem Buch der süße Schmelz aus Scouts Kindertagen meist fehlt und nur hin und wieder in Erinnerungen aufblitzt, ist dieser Roman doch außerordentlich gelungen im Hinblick einer Ablösung der Tochter von ihrem Übervater und im Erklärungsversuch der Verlustangst der Südstaatler, welche sie so gegen logische Neuerungen eingestellt erscheinen lässt. Jean Louises Plädoyer für die Gleichheit ohne Gleichmacherei überzeugt. Sie emanzipiert sich von der althergebrachten Denkweise, letztlich ohne ihren Vater zu verlieren. Vielleicht hat sie ihn sogar gewonnen. Man könnte sich wünschen, es wäre möglich zu erfahren, was sie aus ihrem Aufbruch gemacht hat.

    4,5 Sterne

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  1. Kaffeeklatsch und Ku-Klux-Klan

    Harper Lees verschollener Erstling erzählt vom Erwachsenwerden

    „Die Hölle war und würde, was Jean Louise betraf, immer ein feuriger Pfuhl sein, dessen Ausmaße ungefähr genauso groß wie Maycomb, Alabama, waren und der von einer fünfzig Meter hohen Maure umschlossen wurde.“

    Harper Lee wurde durch ihren bislang einzigen Roman „Wer die Nachtigall stört“ weltberühmt. Darin kämpft der aufrechte Anwalt Atticus Finch gegen den Rassismus der Südstaaten in einem kleinen Provinzort in Alabama. Dieses Maycomb ist nur unschwer mit Monroeville zu identifizieren, wo Harper Lee 1926 geboren wurde und heute noch lebt.
    Der vorliegende neue Roman „Geh hin, stelle einen Wächter“ ging als Manuskript dem eigentlichen Debüt der Autorin voraus. Er wurde jedoch von ihrer einstigen Lektorin abgelehnt, mit der Bitte aus den Rückblicken der Protagonisten einen eigenständigen Roman zu verfassen. Nur zu verständlich, denn diese Kindheit bot wirklich starke Szenen. Beispielsweise die eines nachgespielten Gottesdienstes, bei dem die Kinder die Taufe in den modrigen Goldfischtümpel der Nachbarin verlegten, mit einem Publikum aus Pfarrer und Vater im Hintergrund.

    In der Handlungszeit des nun erschienenen Romans ist aus der kleinen Scout die 26-jährige Jean Louise geworden. Die Tochter des gerechten Atticus lebt in New York und kehrt nur im Sommer für zwei Urlaubswochen nach Maycomb zurück. Atticus, alt und von Arthrose geplagt teilt sich mittlerweile mit seiner Schwester Alexandra ein neues Heim. In seine Kanzlei hat er, nach dem Tod seines Sohns, Henry aufgenommen. Ein Kinderfreund der Geschwister, von dem man in der „Nachtigall“ weniger erfährt als von Dill, einer Truman Capotes nach empfundenen Figur, die laut neuem Roman in Italien lebt.

    Henry oder Hank, wie Jean Louise ihren Freund nennt, inszeniert Lee nicht nur als Nachfolger Finchs, sondern auch als künftigen Ehemann von Jean Louise. Diese sträubt sich zunächst dagegen. Sie plant eine andere Zukunft, fern der Erwartungshaltungen Maycombs. Ihren eigenwilligen Widerspruchsgeist stellt Lee in flottem Schlagabtausch heraus, den sie vor allem mit Henry aber auch mit Tante Alexandra führt, stets begleitet von einem inneren Monolog voll pointierter Ironie.

    Die Veränderungen in Jean Louises Identitätsfindung verdeutlichen Gegensatzpaare. Der Weltstadt New York steht der Kaffeeklatsch des Provinzkaffs gegenüber. Aus Atticus Finch, dem vitalen Vater, wurde ein arthritischer Alter, der nach dem Verlust von Kindern und Kraft das Familienhaus gegen einen Altersruhesitz tauscht. Und anstatt der warmherzigen Haushälterin Calpurnia als Ersatzmutter bevormundet sie nun Tante Alexandra. Wenn sie am Ende diesen Wandel akzeptiert, ist aus dem Racker Scout endgültig eine junge Jean Louise geworden.

    Doch davor steht der dramatische Wendepunkt des Romans, der das Selbstbild der jungen Frau erschüttert, welches bis dahin vollkommen an der Idealfigur des Vaters ausgerichtet war. Ort und Anlass sind wie bei einer Gerichtssache akribisch verzeichnet. Sonntag, 14 Uhr 18 findet Jean Louise unter Atticus Unterlagen eine rassistische Broschüre des Ku-Klux-Klan. Aufgewühlt stürmt sie zum „Bürgerrat“, versteckt sich in der gleichen Loge, von der sie einst Atticus Kampf für das Gerechte verfolgte, und sieht nun wie er beim Unrechten mitmacht. Neben ihm sitzt Henry, den sie, das wird nun klar, niemals heiraten wird.
    Ohnmächtig wankt sie zurück, nimmt noch ganz in der Erinnerung verhaftet, den alten Weg. Aber dort wo sie ihre geborgene Kindheit verbracht hat steht nun eine Eisdiele.

    Nach einem kurzen Moment der Schwäche stellt sich Jean Louise der Konfrontation, die der Leser ungeduldig erwartet. Doch diese und damit die letzten hundert Seiten fallen enttäuschend aus. Während Henry gegen den Anklagemonolog noch eine Verteidigung versucht, reagiert Atticus kaum auf die Suada, mit der ihn seine Tochter überzieht. Im Gespräch mit dem intellektuellen Onkel Jack erteilt die Autorin ihm das Wort. Dr. Jack doziert über historische Wurzeln, nationalen Stolz und die gesellschaftliche Situation, die den Beibehalt der Rassentrennung in Alabama unabdingbar machten. Eine Wendung des Romans, die kurios wäre, würde nicht an seinem Ende schlagartig bewusst gemacht, worum es eigentlich geht, um das Erwachsenwerden von Jean Louise.

    Dieser Versuch, den Stein des Anstoßes zu umgehen, ist für Leser des 21. Jahrhunderts unbefriedigend. Für die Ablehnung von einst mag die brisante rassenpolitische Situation der fünfziger Jahre und die Kluft zwischen Nord- und Südstaaten verantwortlich sein. Oder waren es doch die Schwachstellen des Romans? Solche lassen sich im Sprachlichen finden, „leere Autos ... parken“, aber auch im Stil, beispielweise wenn Lee die Erinnerung an die Bestattung des Bruders im unpassenden Scout-Ton präsentiert oder die zunächst grandios gelungene Charakterisierung von Personen durch aneinandergereihte Satzfetzen durch zahlreiche Wiederholung strapaziert.
    Bis auf diese Einschränkungen ist Harper Lees nun publizierter Erstling ein spannender Roman dessen Heldin standhaft „farbenblind“ bleibt.

    Harper Lee, Gehe hin, stelle einen Wächter; übers. v. Klaus Timmermann u. Ulrike Wasel, 1. Aufl. 2015, Deutsche Verlags-Anstalt.

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