Gabriel: Ein Dialogroman

Rezensionen zu "Gabriel: Ein Dialogroman"

  1. Wenn sich Freiheit und Frausein ausschließen

    Im September 2019 stellte die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrer "Theaterserie" George Sands "Gabriel" als "phantastisches Stück über die Freiheit" vor und zeigte sich empört: "Bisher ist es nicht ins Deutsche übersetzt. Das muss sich ändern!" Gut zwei Jahre danach kommt der Reclam Verlag diesem Wunsch nach und veröffentlicht eines der persönlichsten Werke der großen Schriftstellerin aus der Zeit der Romantik erstmals als deutsche Übersetzung. Eine kluge und nachvollziehbare Entscheidung.

    Denn seit der ersten Publikation in der französischen "Revue des Deux Mondes" im Jahre 1839 hat dieser von George Sand so betitelte "Dialogroman" auch fast 200 Jahre später erstaunlicherweise kaum an Aktualität eingebüßt. Wobei schon die Genre-Einteilung deutlich macht, dass Sand die Konventionen ihrer Zeit nicht nur in Sachen Kleidungsstil und gesellschaftlichem Duktus herzlich egal gewesen sein dürften. Doch ob nun "Phantasie", "Dialogroman" oder "Drama" - "Gabriel" dürfte in seiner Mischung aus Feminismus, Genderdebatte und Individualismus durchaus bei einer breiten Leserschaft den Nerv der Zeit treffen.

    Kurz vor dessen 16. Geburtstag eröffnet der Fürst von Bramante seinem Enkel Gabriel, dass dieser eigentlich eine Frau ist und aus Gründen der Thronfolge als Junge großgezogen wurde, um der verhassten jüngeren Linie der Familie sämtliche Ansprüche zu verwehren. Doch Gabriel ist ein Freigeist, dem die Frage des Geschlechts nicht von großer Bedeutung scheint: "Ich jedenfalls habe nicht das Gefühl, dass meine Seele ein Geschlecht hat, wie Sie es mir so oft beweisen sollen", entgegnet der Junge. Wichtiger ist ihm die individuelle Freiheit: "Man kann Falken im Käfig erziehen und ihnen die Erinnerung oder den Instinkt der Freiheit abgewöhnen: Ein junger Mann jedoch ist ein Vogel mit besserem Gedächtnis und mehr Verstand", heißt es an anderer Stelle.

    Diese erstaunlich klugen Gedanken machen "Gabriel" zu einem sehr persönlichen Werk, denn auch George Sand selbst spielte mit der Geschlechterfrage, wie wir auch im informativen Nachwort von Walburga Hülk erfahren.

    Insbesondere die erste Hälfte des Buches ist bewegend, denn die Leser:innen begleiten Gabriel auf dem Weg seiner Selbstfindung und erkennen in seinem Streben nach Freiheit und Bildung und seiner Aufsässigkeit gegenüber dem Fürsten klassische Coming-of-Age-Motive, die sowohl sprachlich als auch inhaltlich überzeugen und dabei auch heute noch aktuelle Themen wie die Gleichberechtigung der Frau in den Vordergrund und klassische Geschlechterrollen infrage stellen.

    In der zweiten Hälfte entwickelt sich "Gabriel" stärker hin zu einer Tragödie mit Eifersuchtsmotiven, denn Gabrielle, wie sie sich mittlerweile nennt, spielt mitnichten die Rolle einer fürsorglichen Ehefrau, wie es sich ihr Vetter Astolphe wünschen würde, sondern strebt weiterhin nach individueller Freiheit und Selbstverwirklichung. Trotz ihrer Liebe zu Astolphe, den sie ursprünglich ja nur kennenlernen wollte, um gegen die Erziehung des Fürsten zu rebellieren.

    Lässt man sich als Leser:in auf die etwas eigentümliche Prämisse ein, dass Gabriel wirklich nichts davon ahnte, eine Frau zu sein, wird man in der Folge mit einem großen Drama belohnt, einem überraschend frischen Werk. Und wer Gabriel nach der Lektüre in irgendeine Rolle pressen möchte, dem wird er entgegnen: "Ich mag mein Pferd, Wind um die Ohren, Musik, Dichtung, Einsamkeit, Freiheit vor allen Dingen." Ein bemerkenswerter Satz eines unvergesslichen literarischen Helden.

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