Fallen

Buchseite und Rezensionen zu 'Fallen' von Sandra Hughes
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5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Fallen"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:160
Verlag: Dörlemann
EAN:9783038200291

Rezensionen zu "Fallen"

  1. 5
    17. Feb 2016 

    Ein entsetzlicher Schicksalsschlag!

    "Dann fuhr das Auto weg, und Luca setzte sich in Bewegung. Gedankenlos wie Federvieh, das nach seiner Enthauptung weiterrannte. Seinen halb tauben Rumpf stemmte er vorwärts mit dem einen Bein, Zentimeter für Zentimeter. Sein Knie schürfte er blutig. Er sah den Mann nicht, der wenig später Geld holte, die junge Frau auch nicht, auch nicht den zweiten Mann und später die zweite Frau. Er sah den Mann nicht, der beim Bankomaten Geld holte und den anderen Mann auch nicht. Nichts sah er mehr vom schönen Sommerspätnachmittag. Auch die ältere Dame nicht, die zum Bankomaten ging, und später den Mann und den anderen Mann und die Frau nach diesem. Er sah nichts mehr. Er kroch, bis ein Passant sich über ihn beugte, das Handy am Ohr: Da liegt ein junger Mann an der Hauptstraße 114, beim Bankomaten, ohne Bewusstsein." (S. 66)

    Unfassbar! Da bricht ein 15-Jähriger mit einem Hirnschlag auf der Straße, vor einem Geldautomaten, zusammen. 10 Personen ignorieren ihn, gehen an ihm vorbei, lassen ihn liegen. Erst die 11. Person ruft Hilfe. Wertvolle Minuten verstreichen. Minuten, die Einfluss auf das Leben einer ganzen Familie nehmen. Sandra Hughes beschreibt in ihrem Roman "Fallen", dem eine wahre Zeitungsmeldung zugrunde liegt, wie die Familie Gerber mit den Auswirkungen dieses Schicksalsschlages umgeht.

    Anfangs überkam mich das Entsetzen. Eine derartige Situation möchte man sich einfach nicht vorstellen. Man weiß, dass solche Dinge passieren. Keiner ist vor Schicksalsschlägen gefeit. Und doch hofft man immer, dass das Schicksal einen übersieht.
    Insofern leidet man mit der Mutter Vera mit. Sie, die eine besondere Beziehung zu ihrem Sohn hatte, die für ihn da war, deren Lebensinhalt ihre Familie ist, ist mit der Situation völlig überfordert. Sie versinkt in Trauer und Wut, handelt irrational, ist für ihren Sohn Luca in dieser Situation eher Belastung als Hilfe. Und oft fragt man sich, wie man selbst mit solch einer Lage umgehen würde, kommt aber nicht weit bei dieser Überlegung. Denn spätestens, wenn einem vor Entsetzen die Luft wegbleibt, weist man diese Überlegungen weit von sich.

    Ganz anders Jan, der Vater. Vor dem Zusammenbruch von Jan spielte er eher eine Nebenrolle in der Familie Gerber. Man hatte den Eindruck, dass Vera und Jan nebeneinander her lebTen. Sie war völlig auf die Entwicklung Luca's konzentriert sowie auf die besondere Mutter-Sohn-Beziehung. Aber in dem Moment, indem die Katastrophe über die Familie hereinbricht, übernimmt Jan die Führungsrolle in der Familie. Vera ist zu nichts mehr in der Lage. Jan hat es eigentlich mit 2 Katastrophenfällen zu tun. Denn neben Luca, um den es in erster Linie gehen sollte, hat Jan es mit dem Totalausfall von Vera zu tun.

    "Hören, gehen, kauen, schlucken. So viel brauchte es für ein ganzes Leben. Und noch viel mehr, dachte sie und weinte. Herrgott, sagte Jan, hör mit dem Weinen auf, Luca hat die Augen geöffnet, das ist schon viel. Herrgott, flüsterte sie, als sie durch den Flur taumelte, blind von Tränen, vor Jan fliehend und vor Luca, der bloß noch dalag und blinzelte. Der du da nicht bist im Himmer, der mich nicht verschont vor dem Bösen. Sie fand die Toilette ... Jan kam nicht ... Soll ich doch, dachte sie, hier verrecken." (S. 49 f.)

    Der Roman ist in 3 Teile aufgebaut. Der 1. Teil behandelt den Zeitpunkt des Unfalls. Luca macht sich auf den Weg zum Bankautomaten. Obwohl der Leser weiß, was passieren wird, macht sich Unbehagen breit. Man spürt Vera's Unruhe, weil Luca nicht nach Hause kommt, dieses Schwanken zwischen Beruhigung und Angst. Vera, die schon immer überängstlich war, wenn es um Luca ging, kämpft gegen ihre aufsteigende Panik an. Im 2. Teil geht es um die ersten Wochen und Monate nach Luca's Hirnschlag und seine Zeit in der Klinik. Vera will nicht wahrhaben, was mit ihrem Sohn geschehen ist. Sie erträgt es nicht, ihn in seiner Hilflosigkeit zu sehen. Im 3. Teil ist Luca wieder zuhause und versucht, sich seinen Alltag einzurichten. Die besondere Mutter-Sohn-Beziehung scheint sich in Wohlgefallen aufgelöst zu haben. Luca wendet sich von ihr ab. Er erträgt Vera's Bemutterungsversuche nicht mehr, weil sie ihm deutlich machen, wie hilflos er geworden ist.

    "Hör mit dem heueln Auf bist du gelämt oder ich???" (s. 120)
    Die Anteilnahme des Lesers und Einstellung gegenüber Vera verändert sich mit der Zeit. Anfangs hat man Mitleid mit ihr, doch irgendwann kippt die Stimmung. Man reagiert mit Unverständnis und Verwunderung auf ihre Panik und Hysterie, denkt sich, dass irgendwann der erste Schrecken überwunden sein muss und Mutter Vera wieder anfängt zu funktionieren und für ihren Sohn da ist. Sie kann sich jedoch nicht aus ihrer Gefühlslage befreien. Stattdessen nimmt sie anderen Menschen um sie herum, deren Glück übel und versinkt in Selbstmitleid. Irgendwann möchte man Vera einfach nur schütteln und rufen:"Komm zurück ins Leben! Deine Familie braucht dich!"

    "Aber ich störe die anderen beim Glücklichsein. Wieso?, hatte Jan gefragt und plötzlich sehr müde ausgesehen, die Haut grau und schwarze Ringe unter den Augen. Wieso schließt du dich selbst aus? Ich verstehe das nicht. Ja, Jan verstand das nicht. Immer schon war sie ausgeschlossen von diesem schwerelosen Glücklichsein. Sie hatte sich bemüht, wie alle anderen warme Tage nach den kalten schön zu finden. Sie war mit dabei beim Gesicht-der-Sonne-Zuwenden. Muss ich, hatte sie gedacht, muss ich es schön finden, und wurde sehr müde, während sie sich zusah, wie sie das Gesicht der Sonne zuwandte." (S. 76 f.)

    Der knappe Erzählstil von Sandra Hughes spiegelt die Verfassung von Vera perfekt wieder. Manchmal wirr und abgehackt, gern unter Verwendung von einzelnen Satzfragmenten, spürt man die Panik und das Gefühlschaos von Vera. Der Roman wird aus ihrer Sicht erzählt. Dabei gibt es einen ständigen Wechsel zwischen ihren Erinnerungen, der Realität, ihren Träumen und ihren Ängsten. Man hat immer den Eindruck, dass andere Personen, die an der Handlung beteiligt sind, jedoch nicht zur Familie gehören, wie durch einen Schleier erscheinen.

    Dieser Roman behandelt nicht nur den Hirnschlag Luca's und seine Auswirkungen auf das Familienleben. Tatsächlich stellt man mit der Zeit fest, dass diese Familie mit einem weiteren Katastrophenfall zu kämpfen hat: Vera's übertriebene Mutterliebe.

    Vera hat sich über ihren Sohn definiert. Ihre Lebensaufgabe war das Bemuttern von Luca und das Schaffen einer Familienidylle. Bereits vor seinem Hirnschlag hat Luca angefangen, sich von ihr zu lösen. Mit Luca's "Abnabelung" verliert Vera ihren Lebensinhalt und kommt mit ihrem Leben nicht mehr zurecht. Und man fragt sich am Ende, was Vera's Gefühlschaos und Totalausfall in einer Situation, in der sie gefordert ist, verursacht: die Sorge um Luca oder die Erkenntnis, dass ihr der Sinn ihres Lebens genommen wurde?
    Wie wohltuend, dass man am Ende des Romans erfährt, dass Mutterliebe in der Familie Gerber auch anders funktionieren kann. Insofern nimmt der Roman ein versöhnliches Ende.

    "Luca, schreiend und tobend und tagelang sprachlos, in seiner Wut verstiegen. Luca, unfassbar, arrogant. Luca, Herrscher über ihr Befinden. Ein kurzer Blick von ihm ließ sie aufatmen, ein halbes Wort jubilieren, ein böser Satz einbrechen. Sie war keine gute Mutter. Luca, der den Fleiß verlor und die Achtung vor den Lehrern, Luca mit Strafen und Verweisen. Jan mit strenger Stimme, ernsten Worten, die im Nichts verklangen, und sie in seinem Windschatten, Beschwörungen murmelnd, nutzlos. Die wunderbare Mutter, von Zweifeln zernagt." (S. 109 f.)

    Fazit:
    In diesem Roman steckt so viel mehr als man am Anfang vermutet. Tatsächlich konzentriert man sich zunächst auf das schreckliche Unglück, dass der Familie widerfahren ist. Doch irgendwann stellt man fest, dass die Probleme der Familie weitgreifender sind. Ein beeindruckender Roman mit einem Sprachstil, der das Gefühlsleben der Familie - insbesondere der Mutter - in einer unvorstellbaren Situation perfekt wieder spiegelt.

    © Renie

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