Erste Töchter: Roman

Rezensionen zu "Erste Töchter: Roman"

  1. 4
    03. Okt 2024 

    Traumatische Kindheit und Jugend...

    Autofiktion - unter dieser Prämisse werden derzeit viele Romane geschrieben. Wie viel Fiktion hier in diesem kurzen Buch beinhaltet ist, weiß man nicht. Viel Autobiografisches ist jedoch eingeflossen - und "Erste Töchter" ist offenbar ein Folgeband von "Junischnee", den ich aber noch nicht gelesen habe. Luna scheint das Alter Ego der Autorin Ljuba Arnautovic zu sein, die Erzählung widmet sich jedoch auch anderen Charakteren, vor allem ihrer Schwester Lara und dem Vater.

    Der Vater Karl dominiert das Geschehen, er schiebt die Figuren in seinem Umfeld wie beim Schach hin und her, Bauernopfer werden achselzuckend in Kauf genommen. Ehefrauen werden sitzen gelassen, wenn sich etwas Besseres ergibt, die Kinder immer wieder aus ihrer Umgebung gerissen und, wenn es den Zwecken Karls dient, auch ins Kinderheim abgeschoben. Seine Gerissenheit setzt Karl ein für endlose Manipulationen, kalt, hartherzig, egozentrisch, hochstaplerisch, rücksichtslos, narzisstisch. Seine eigene Zeit in Russland (zwölf Jahre Gulag!) hat ihn natürlich geprägt - aber wie immer gilt: das ist eine Erklärung, keine Entschuldigung.

    Die intensive Beschäftigung der Autorin mit der Geschichte ihres Vaters bietet ihr womöglich ein Verstehen, macht die erlittenen eigenen Traumata dagegen kein bisschen weniger schlimm. Die Trennung von der Mutter, die Heimaufenthalte, sie als die Ältere mit Verantwortungsgefühl der Jüngeren gegenüber und gleichzeitig die Ohnmacht, doch nichts ausrichten zu können, die Stiefmutter und die erneute Trennung, der Leistungsdruck des Vaters ohne dass sie den Erwartungen entsprechen konnte (gymnasialer Zweig), immer wieder verfrachtet in neue Lebenssituationen ohne eine wirklich konstante verlässliche Bezugsperson. Urvertrauen, Bindungssicherheit, Selbstbewusstsein - sicherlich Fremdwörter für Luna.

    Ergänzt wird die Familiengeschichte durch Anmerkungen zum jeweiligen politisch-gesellschaftliche Geschehen, was bei der zeitlichen Einordnung der Handlung hilft. So sind nicht alle "Erziehungsbesonderheiten" des Vaters ausschließlich auf seine Persönlichkeit und seine seelischen Narben zurückzuführen, vieles passt einfach auch ins damalige Zeitbild. Die Literatur und später die eigene Politisierung (auch hier sind die Querverweise auf das damalige politsch-gesellschaftliche Geschehen hilfreich) sind bedeutsame Anker für Luna, die ihr helfen, nicht zusammenzubrechen.

    Die Autorin hat einen sehr distanzierten, nahezu berichthaften Schreibstil gewählt, der Emotionen vollkommen außen vor lässt - vielleicht eine Möglichkeit, beim Schreiben selbst die notwendige Distanz zu den vielen traumatischen Erlebnissen einhalten zu können? Einzelne Sätze lassen aber doch anklingen, was die jeweiligen Ereignisse ausgelöst haben. Und manchmal war es, als wallten bei mir stellvertretend die Emotionen auf, die die Autorin im Text selbst verweigert.

    Ein kurzes Buch - ich mag hier nicht "Roman" schreiben - das gegen Ende doch irgendwie unfertig wirkt. Im letzten Drittel wirken die Szenen arg zusammengestückelt, Episoden, die wohl unbedingt noch geschildert werden sollten ohne dass sich mir immer ein Bezug erklärte. Manches bleibt im Unklaren, was ich gerne aufgelöst gewusst hätte, eine klare Linie fehlt letztendlich.

    Alle in allem: sehr komprimiert, sehr distanziert - und dennoch... Es hat auch was!

    © Parden

  1. 5
    12. Sep 2024 

    Familiäre Nähe aus etwas kühler Distanz

    Ljuba Arnautović ist die ältere der ersten Töchter von Karl, deren Familiengeschichte in dem Roman „Erste Töchter“ kurz und knapp und mit einer klaren Distanz erzählt wird. Karl ist Sohn von Eltern, die auf dem Balkan des frühen 20. Jahrhunderts mit Bewunderung auf die aus der Revolution hervorgegangene Sowjetunion blicken, sehen sie dort doch ihre politischen Ideale des Kommunismus wachsen und realisiert werden. Sie stellen die politischen Ideale in ihrem Leben dann weit über die Interessen der Familie und wandern nach Moskau aus, können dort eine Zeitlang etwas Karriere machen, doch geraten dann in die Mühlen der stalinistischen Verfolgung, was für sie Lager, Vertreibung und Trennung von dem Sohn bedeutet. Und auch der verbringt dann eine lange Zeit seines Lebens in sowjetischer Lagerhaft, bevor es ihm gelingt, nach Österreich auszuwandern, gemeinsam mit seiner ersten Frau, der Russin Nina, mit der er 2 Kinder – die ersten Töchter – hat. Die Traumata des Erlebten werden ihn und auch Nina nie verlassen, sie bestimmen im Folgenden in großem Maße weiter die Familiengeschichte, in der Karl nach Höherem drängt, um das Erlebte ganz weit hinter sich zu lassen, und in der andererseits Nina nie richtig aus dem Dunkel des Erlebten herauskommt und sich so nie auf das neue Leben im Westen einzustellen lernt. Daran zerbricht diese Familie, Karl trennt sich und beginnt mit Erika eine neue Ehe und ein neues Leben mit dieser anderen Frau. Das bedeutet für die Töchter, dass sie nunmehr zwei Mütter – Mutti und Mama – haben, die ab jetzt ganz unterschiedliche Rollen in ihrem Leben spielen.
    Doch damit noch nicht genug: nach ein paar Jahren kommt Karls dritte Frau ins Spiel. Die Töchter werden durch diese Veränderung voneinander und in ihrem Lebenslauf getrennt und entwickeln sich fortan sehr unterschiedlich. Die politisch-historischen Entwicklungen in Österreich und Deutschland, die im Roman Erwähnung finden und so einen prägenden Hintergrund für die Geschichte und ihre Figuren bilden, wirken sich auf die beiden Mädchen ganz unterschiedlich aus. Und doch bleibt da ein immerwährendes Band der Verbundenheit, das sie immer wieder zusammenbringt.
    Arnautovićs Roman ist sehr knapp gefasst und lässt den Leser seine Figuren intensiv, aber in einer doch recht kühlen Distanz erfahren. Die geschichtlichen Ereignisse werden benannt, aber nicht weiter erläutert und auch nicht direkt in den Handlungsverlauf hineingeholt. Sie bilden das Hintergrundrauschen zu der Geschichte und den besonderen Lebensläufen dieser Figuren. Die Kombination aus familiärer Nähe, distanzierter Schilderung und historischen Anklängen konnte mich für diesen Roman erwärmen. Ich habe mit Interesse die Lebensläufe dieser Figuren verfolgt und meine Sympathien und Antipathien für den ein oder anderen wurden durch die Autorin stimmig untermauert, ohne dass ich mich von ihr zu sehr beeinflusst fühlte. Ich gebe dem Roman deshalb gerne 5 Sterne.

  1. 4
    07. Sep 2024 

    Aufarbeitung der eigenen Geschichte

    Die 1954 in Kursk geborene und heute in Wien lebende Autorin hat mit
    „ Erste Töchter“ die Trilogie ihrer fiktionalen Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte beendet.
    Stand im ersten Band „ Im Verborgenen“ ( 2018 ) die Großmutter der Autorin im Mittelpunkt, eine sozialdemokratische Widerstandskämpferin, so war es in „ Junischnee“ der Vater Karl Arnautović. Der kommt als Neunjähriger 1934 als sog. „ Schutzbundkind“ in die Sowjetunion. Gemeinsam mit seinem drei Jahre älteren Bruder Slavko verbringt er zunächst einigermaßen gute Jahre in einem Kinderheim. Die Lage ändert sich nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion. Die Brüder werden getrennt, der Ältere wird früh im Gefängnis umkommen. Karl überlebt als Straßenkind, als Gefangener und zehn Jahre als Zwangsarbeiter im Gulag. Erst 1955 kehrt er nach Österreich zurück, gemeinsam mit seiner russischen Frau Nina und ihrem ersten Kind, Tochter Ljuba. Um sie und um die jüngere Tochter Lara geht es nun im vorliegenden Buch.
    Der Vater ist die alles dominierende Figur. Seine Traumata bestimmen das Leben seiner Töchter und seiner Frauen. „ Karl ist ein Gezeichneter. Nicht nur Gesicht und Körper tragen die Narben seines schweren Schicksals. Was ihn Jahre des Hungers, der Kälte und ständiger Todesgefahr hat überstehen lassen, ist ein unbändiger Lebenswille und ein Ehrgeiz, …Das harte Leben hat ihn eine Lektion gelehrt: Nie wieder Opfer sein! …Stärker sein als andere. Keine Rücksicht nehmen. Immer nach oben streben, dorthin, wo die Macht ist.“
    Er wird sich bald von seiner Frau Nina trennen und die frühere Freundin seines verstorbenen Bruders heiraten. Doch die passt nicht zu den ehrgeizigen Plänen Karls. Seine dritte Frau, eine Ärztin aus gutem Hause, ermöglicht ihm den sozialen Aufstieg. „ Wenn Karl betrunken ist, prahlt er: „ Ich habe eine 25-jährige geheiratet, und als sie 35 war, hab ich mir wieder eine 25-jährige genommen, und als die 35 war, hab ich mir wieder eine 25-jährige genommen.“ Zu seinem Status die passende Ehe. Zu seinen Ehen der passende Status.“ Es wird sogar noch eine vierte Ehefrau geben.
    Auch beruflich ist Karl erfolgreich . Seine Kenntnisse der russischen Sprache und vor allem der russischen Mentalität sind interessant für die deutsche Wirtschaft. Arbeitet er zunächst nur als Dolmetscher, so wird er bald für deutsche Konzerne in Russland Verhandlungen führen.
    Doch unter seinem unbedingten Aufstiegswillen leiden die Töchter. Sie werden zum Spielball seiner Interessen. Auf die leibliche Mutter folgt die erste Stiefmutter, später die zweite , dazwischen Heimaufenthalte. Als Karl mit seiner dritten Ehefrau in München eine Familie gründet, holt er die beiden Mädchen zu sich. Aber die Gemeinsamkeit hält nicht lange an. Karl schickt die jüngere Tochter Lara zurück nach Wien zu seiner ersten Frau. „ Die Schwestern sind fortan wie Erich Kästners doppelte Lottchen …Die eine lebt jetzt beim Vater, die andere bei der Mutter, die eine in München, die andere in Wien….Nur wird in dieser echten Geschichte das Happy End ausbleiben.“ Einzig an diesem Satz wird der Schmerz fühlbar, den die Mädchen erlitten haben.
    Die Entfremdung der Schwestern ist nicht aufzuhalten. Die langen Trennungen, das Aufwachsen in unterschiedlichen Milieus hinterlassen Spuren. Während Luna, wie sie sich jetzt nennt, in gutbürgerlichen Verhältnissen aufwächst, hat es Lara bei der Mutter wenig komfortabel. Während die eine in München ein Gymnasium besucht, geht die andere in Wien auf die Hauptschule. Anrührende Briefe im Roman von Lara und Luna zeugen von den hilflosen Versuchen, die alte Nähe wiederherzustellen.
    Doch es braucht einschneidende Erlebnisse, damit sich die beiden Schwestern nach Jahren wieder einander nähern.
    Dazwischen verfolgen wir vor allem Lunas Weg, einen Weg zunehmender Politarisierung. Wach registriert sie gesellschaftliche Veränderungen und Umbrüche und beteiligt sich aktiv daran. Schon früh begreift Luna den Unterschied zu Mitschülern, deren Eltern während der Nazizeit in Deutschland gelebt haben. „ Sie ist froh, auf der „ richtigen“ Seite geboren zu sein - ihre Freundinnen tragen mehr oder weniger schamhaft das Geburtsmal schuldig gewordener Väter oder mitgelaufener Mütter.“
    Schlaglichtartig greift die Autorin einzelne politische Ereignisse heraus, auf die Luna reagiert. Es beginnt mit der Mitarbeit an einer Schülerzeitung, geht weiter mit politischen Schulungen bis zum Wohnen in einer Landkommune. Während Luna studiert und sich ausprobiert, wählt ihre Schwester Lara mit einer frühen Heirat und einem ersten Kind einen gegensätzlichen Weg.
    Auch wenn Ljuba Arnautović nicht in der Ich -Form erzählt, so erkennt man sie doch unschwer in der Figur der Luna. Sie erzählt ihre Geschichte in einer distanzierten und weitgehend emotionslosen Prosa. Beinahe protokollartig fasst sie ihr Leben und das ihrer Familie zusammen. Es sind oftmals Erinnerungsssplitter, die assoziativ zusammengefügt werden. Dabei gibt es, gerade zum Ende hin, viele Zeitsprünge, die z.T. offene Fragen hinterlassen. Vielleicht hätten dem schmalen Roman einige Seiten mehr gut getan.
    Da „ Erste Töchter“ für sich allein stehen soll, die Vorgeschichte des Vaters aber elementar für die weiteren Geschehnisse sind, so musste die Autorin zu Beginn des Buches den Inhalt ihres letzten zusammenfassen. Ich war froh, den Vorgänger schon zu kennen, so fiel es mir leichter, die geballten Informationen und die vielen Personen besser einzuordnen.
    Den kühlen und sachlichen Ton habe ich nicht als Manko empfunden. Ich denke, er musste sein. So konnte sich die Autorin die z.T. schmerzlichen Erinnerungen auf Distanz halten. Außerdem gab es immer wieder kleine Bemerkungen, die die Verletztheit und Trauer spüren ließen. Hier ist der Lesende gefordert, sich vorzustellen, was das Geschilderte mit den Figuren macht. Eine Sicht in ihr Innenleben gibt die Autorin kaum.
    Auch wenn der Vater ein Despot war, so ist das Buch keine Abrechnung mit ihm. Indem sich die Autorin so intensiv mit seiner Biographie auseinandergesetzt hat, konnte sie Verständnis für ihn entwickeln. Karl wurde zu dem, der er war, aufgrund seiner bitteren Erfahrungen. Das Buch endet versöhnlich.
    „ Erste Töchter“ ist ein Buch, das ich mit Interesse und Gewinn gelesen habe. Auch wenn es nicht an die Qualität und die Intensität von „ Junischnee“ heranreicht. ( Was möglicherweise auch an den unterschiedlichen Erfahrungen der Figuren liegen mag. ) Nun möchte ich noch das erste Buch der Autorin lesen, in dem sie von ihrer Großmutter väterlicherseits erzählt.

  1. Luna und Lara ...

    ... sind die ersten Töchter von Karl und Nina aus Kursk. Das Buch ist der dritte Teil einer bewegten Familiengeschichte der Autorin, das in "Junischnee" und "Im Verborgenen" seine Vorgänger findet.

    Der Einstieg beginnt in einem Wiener Kaffee, wo Dörte aus reichem Münchner Haus den wesentlich älteren, filterlos rauchenden, nicht schönen Mann kennenlernt. Dörte wird Karls dritte, aber nicht letzte Ehefrau werden. Und so wird in den ersten wenigen Sätzen ein Charakter gezeichnet, der sich klar und spröde durch die Jahre zieht.

    Karl war 12 Jahre im Gulag, hat dort seine Nina kennengelernt und sie anschließend mit nach Wien genommen. Nina gebar Karl zwei Töchter, konnte aber in der Fremde nicht heimisch werden. Karl hingegen wollte vorwärtskommen, lernte Erika kennen und entzog Nina das Sorgerecht. Nina bleibt in Wien landet bei Grischa zur Untermiete, um ihre Töchter sehen zu können. Doch auch mit Erika hält es Karl nicht lange aus und geht mit Dörte nach München. Beide Mädchen sollen folgen, doch die jüngere Lara wird rebellisch und wird schließlich an Erika vorbei Nina in Wien übergeben. Fortan sind beide Schwestern getrennt und entwickeln sich recht unterschiedlich. Luna erlebt die Studentenunruhen in München fast vor der eigenen Haustür, ist bei der Herausgabe einer Studentenschrift beteiligt, lernt das Leben in Kommunen kennen, während Lara sich früh bindet, heiratet und Kinder bekommt.

    Luna, das Alter Ego Ljubas, wie sehr schnell klar wird, macht es sich zur Aufgabe, die Familienchronik festzuhalten, den Wurzeln nachzuspüren. In knappen, fast schon stenografischen Worten nimmt sie sich eine Person nach der anderen vor, hält kurz bei wichtigen Episoden inne (wie die 80stündige Bahnfahrt der Schwester von der Sowjetunion zurück nach Österreich), um dann in rasantem Tempo, ohne Emotionen fortzufahren. Und doch konnte ich in ihren nüchternen Sätzen die ein oder andere Wut, die Erklärungsversuche für Karls, oder aber auch Grischas kaltem Verhalten heraushören, obwohl die Schilderungen gänzlich ohne Wertung auskommen.

    Ich las dieses Buch, ohne die Vorgänger zu kennen, geschweige denn sie zu vermissen. Der Schreibstil der Autorin ist sehr ungewöhnlich, emotionslos, sehr gerafft, aber diese Konzentration gefiel mit auf Anhieb und überzeugte mich durch ihre besondere Struktur. Ich bekam eine Ahnung von den Zeiten des Kalten Krieges, vom speziellen Austrofaschismus und von den Prägungen der Menschen durch den Krieg und ihren Folgen.

    Ljuba Arnautovic skizziert hier eine besondere Menschengruppe, zerrissen zwischen Kommunismus und Kapitalismus, zwischen Heimaten, Werten und Überzeugungen. Die Autorin hat ihren Weg gefunden und lässt uns Leser daran teilhaben, wertefrei, aber keineswegs gedankenlos. Jeder Satz sitzt und keiner ist zuviel. Schlussfolgerungen liegen allein in der Gedankenarbeit des Lesers. Klasse! Nach viel Sahnetorte, habe ich diese Vollkornstulle voller Inbrunst verspeist.

  1. Entwurzelt

    Zwölf Schulwechsel, manchmal sogar mitten im Schuljahr, davon allein in den ersten vier Volksschuljahren sechs? Ich habe gewaltige Probleme, mir das vorzustellen! Da können doch keine Wurzeln geschlagen werden, kein Vertrauen aufgebaut!

    Bei dem Vater wundert es einen jedoch nicht – Karl führte auch ein sehr unstetes Leben: sowjetisches Kinderheim für Schutzbundkinder (als Rettung gedacht) schon mit 9 Jahren, nach Auflösung des Heims gewöhnliche sowjetische Kinderheime, Straßenkind, Jugendgefängnis und Gulag, von dem er erst 1955 nach Hause zurückkehrte. Wieder daheim sechs Kinder von vier Ehefrauen, die er sich jeweils zur Verbesserung seiner aktuellen Lebenssituation aussuchte. Und so wuchsen Luna und Lara zuerst bei ihrer Mutter in Kursk, dann bei ihrer Stiefmutter Erika in Wien und anschließend bei Dörte, Karls 3. Ehefrau, in München auf, dazwischen lagen auch Zeiten in Kinderheimen. Mit 13 (Luna) und 10 (Lara, die Rebellische) wurden sie getrennt: Luna blieb bei Vater und Dörte in München, Lara ging/ musste zurück zu Erika bzw. Nina in Wien.

    Mir schwirrte der Kopf vom Erzähltempo und ich hatte Mühe, durch Aufzeichnungen den Überblick über die Personen und Ereignisse (besonders am Anfang) nicht zu verlieren. (Hilfreich wäre da bestimmt, die Vorgänger-Bücher ‚Im Verborgenen‘ und ‚Junischnee‘ gelesen zu haben. Diese reizen mich jedoch jetzt auch noch!)

    Fassungslos machte mich bei dieser Familiengeschichte (?) der Autorin im 20. Jahrhundert zweierlei: 1. was Karl seinen zwei Erstgeborenen zumutete, obwohl er es doch aus eigener Erfahrung hätte besser wissen müssen und 2. das Verhalten der Frauen – dass sie sich auf Karl eingelassen haben, ob als Geliebte oder als Ehefrau. Und wie seine Ehefrauen sich seinen Vorstellungen und Plänen unterordneten, obwohl z.B. Dörte doch intelligent und als Ärztin berufstätig war. Kann das nur damit begründet werden, dass Männermangel nach dem 2. Weltkrieg herrschte und manche Frauen dankbar waren, wenn sie überhaupt einen Mann ‚abkriegten‘?

    Begeistert haben mich Puzzlesteine der Geschichte, die so in keinem Geschichtsbuch stehen (z.B. die Fahrt von Luna zusammen mit ihrer kleinen Tochter per Zug heimwärts von Moskau im Jahr 1985, ‚Perestroika-Jahr’ genannt, die 80 Stunden dauerte oder die Lebensgeschichte von ‚Grischa‘) Andere Teile, z.B. die 60er Jahre mit den Studentenunruhen, den Hausbesetzungen und der RAF, werden wahrscheinlich den meisten bekannt sein.

    4 Sterne gebe ich für dieses Buch, zu dem mir als erstes das Wort ‚atemlos‘ einfällt! Ich habe es trotzdem gerne gelesen, einfach weil ich es interessant fand und empfehle es auch allen, die Interesse an dieser Materie haben.

  1. Verwerfungen und Traumatisierungen

    Mein Lese-Eindruck:

    „Er raucht filterlos.“ Ein starker Beginn, der sogleich die eigentliche Hauptfigur ins Zentrum rückt: Karl, den Vater der „Ersten Töchter“. Karl wurde als sog. Schutzbundkind von seinen kommunistischen Eltern in die UdSSR geschickt und gerät dort in den Strudel der Ideologien, deren Opfer er wird. Nach einem langen Aufenthalt im GULAG kehrt er erst 1953, nach Stalins Tod, nach Österreich zurück. Er ist seiner Familie und seiner Heimat entfremdet, er kennt keine Werte und keine Moral, er hat nur ein einziges Ziel: er will auf der sozialen Stufenleiter aufsteigen. Diesem Ziel ordnet er alles unter. Er ist ein Egomane, er kennt keine Rücksichten, er lügt und betrügt, tauscht seine Ehefrauen nach Bedarf und sozialem Status aus.

    Wie ergeht es seinen beiden Töchtern mit diesem schwer traumatisierten Vater? Das ist das Thema des Buches bzw. könnte es sein. Die Autorin folgt dem Leben der beiden Mädchen und der Leser sieht, wie die Traumatisierung ihres Vaters den Kindern ihre Kindheit stiehlt. Sie wachsen heimatlos auf, können keine festen Bindungen entwickeln und müssen sich ganz dem Diktat des Vaters fügen, der seinen Aufstiegswillen rücksichtslos auslebt. Die Mädchen werden getrennt, und beide kompensieren ihre Heimatlosigkeit auf unterschiedliche Weise.

    Das ist ein gewaltiger und packender Stoff: wie nämlich die politischen Verwerfungen des frühen 20. Jahrhunderts in die nachfolgende Generation hineinwirken und ihr Leben beeinflussen.

    Damit ließe sich auch ein packender Roman schreiben. Die Autorin erzählt aber nicht, sondern sie zählt eher auf und berichtet. Chronikartig reiht sie die Erlebnisse aneinander und gibt ihnen Authentizität durch Namen, Daten und den Verweis auf historische Ereignisse. Diese historischen Ereignisse werden zu oft isoliert aufgezählt, teilweise in äußerst komprimierter Form, und sie werden vor allem nicht mit den Augen der Protagonistin gesehen. Nichts gegen Rückgriffe; hier aber werden sie immer wieder unmotiviert und ohne weiteren Erkenntniswert vorgenommen, und die Zeitsprünge verwirren den Leser.
    Nicht nur die Zeitsprünge verwirren, sondern auch die Brüche in der Chronologie, die Auslassungen, bislang unbekannte Namen und auch bekannte Namen, die dann aber doch keine Rolle spielen, unmotivierte Ortswechsel, plötzliche Wechsel des Schauplatzes, Nebensächlichkeiten, Leerstellen, unklare Vertiefungen – das alles erschwert das Lesen. Verlässt sich die Autorin vielleicht darauf, dass man die Vorgängerbände gelesen hat?

    Vermutlich ist dem Leser so wirr im Kopf, wie auch das Leben der beiden Schwestern sehr wirr verlief. Immerhin findet die Autorin ein markantes Schlussbild: die Schwestern setzen ihren Eltern und Großeltern einen Grabstein, der einen familiären Zusammenhalt symbolisiert, den es nie gab. Und drum liegt auch nicht jeder in dem Grab, der auf der Inschrift erwähnt wird.

    2,5/5*

  1. 2
    04. Sep 2024 

    Ich bin doch sehr enttäuscht

    Ich bin doch sehr enttäuscht

    Mit ihrem neuesten Roman „Erste Töchter“ erzählt Ljuba Arnautović die Familiengeschichte, die mit ihrem Roman "Im Verborgenen" begann, weiter. Sie nimmt den Faden der Erinnerungen an Russland wieder auf, um den Schicksalen der Familie Arnautović in Österreich und Deutschland weiter zu folgen. Wiederum im Mittelpunkt steht Vater Karl und um ihn kreisen, wie Satelliten, seine Frauen und seine ältesten Töchter.

    Meine persönlichen Leseeindrücke
    Ich habe mich sehr auf den neuen Roman von Ljuba Arnautović gefreut und bin schon nach ein paar Seiten in einer im Stile eines Berichtes verfassten Familiengeschichte gelandet. Auf den ersten Seiten skizziert die Autorin in groben Zügen eine Zusammenfassung ihres vorherigen Romans "Junischnee", den 2. Teil der Familiengeschichte, in dem Karl schon die Hauptfigur gab, um dann in einem rasanten Tempo die Kinderjahre der beiden Töchter aus erster Ehe zusammenfassen. Es sind wiederum nur 160 Seiten und einige muss sie opfern, damit all jene, die Junischnee nicht kennen, sich hier zurecht finden. Daraus geworden ist eine Familienchronik im Schnelldurchlauf und ich fühle mich etwas vor den Kopf gestoßen.

    Noch habe ich die wunderbaren Erzählungen von "Junischnee" in Erinnerungen, diese bewegenden, anrührenden und erschütternden menschliche Schicksale, eingebunden in der österreichisch-russischen Geschichte des letzten Jahrhunderts und bin etwas enttäuscht vom vorliegenden Buch.
    Karl ist also nach Wien zurückgekehrt und seinem gesellschaftlichen Aufstieg darf nichts im Wege stehen; weder Töchter noch Ehefrauen. Die Härte, mit der er seine Karriere antreibt, wird in wenigen Szenen zusammengefasst und so betrachte ich distanziert die Geschehnisse dieses seltsamen Familienkonstrukts. So richtig verstehen kann ich Karl nicht, denn dafür hat mir Ljuba Arnautović kaum Möglichkeit gegeben in ihn zu blicken. Es ist einfach nicht genug, die kargen Erklärungen zu Karls Gulagvergangenheit in den Raum zu werfen, ohne darauf in irgendeiner Weise einzugehen. Da kommen einfach keine Emotionen, die hier doch am Platz wären!

    Karl treibt ein ruheloser Geist um. Gierig will er nachholen, was ihm vermeintlich versagt geblieben ist. Seite 35

    Gefühle, die ich noch bei "Junischnee" empfunden habe, kommen hier gar nicht mehr vor. Das geht auch gar nicht, weil 39 Kapitel auf knapper Seitenanzahl nicht mehr hergeben als kurze Auszüge der Leben in abstrakten Handlungsbildern. Die Autorin konzentriert sich neben Karl auf das Wesentliche im Leben der erstgeborenen Töchter Luna und Lara, zumindest der Titel ist gut gewählt. Ansonsten ist wenig Romanhaftes zu finden, sondern vielmehr Lebensgeschichten im Telegrammstil. Ljuba Arnautović kann es definitiv besser.

    Eine, die von selben Eltern stammt, mit der sie einige Jahre lang das gleiche Schicksal teilte, die ihr äußerlich so ähnelt und fast die gleich Stimme hat. Seite 151

    Es ist definitiv kein Buch für mich, ich kann mich vom vorherigen Roman "Junischnee" nicht lösen, der in mir so große Empfindungen hervorgerufen hatte.

    Fazit
    „Erste Töchter“ ist der 3. Teil der Familiengeschichte und erzählt in groben Zügen das Leben des Vaters, der die Jahre der sibirischen Gefangenschaft verbissen nachholen will, und dabei das Leben seiner erstgeborenen Töchter Luna und Lara, beide aus der Beziehung zu seiner ersten Frau Nina, herrisch bestimmt. Das Werk als Roman zu verkaufen, ist vielleicht nicht ganz richtig. Der Erzählstil hätte besser zu einer Biographie gepasst.

  1. Wie viele Heimaten passen in einen Körper?

    Das Schicksal der Familie Arnautović lässt an ein Schachspiel denken: Zuerst wird der Vater Karl auf dem Schachbrett der europäischen Geschichte erbarmungslos herumgeschoben, dann degradiert er seine vier Ehefrauen und seine Kinder zu Schachfiguren, die er nach Belieben versetzt.

    Kinderverschickung
    1934 wird der neunjährige Karl zusammen mit seinem älteren Bruder Slavko, Söhne österreichischer Sozialisten, ins vermeintlich rettende Exil in die Sowjetunion geschleust. Auf gute Jahre folgen sowjetische Kinderheime, Leben auf der Straße und Jugendgefängnis, nachdem sie als Volksfeinde in Stalins Terrormühle geraten sind. Slavko kommt bereits 1942 um, Karl überlebt zehn Jahre im Gulag. Erst Ende 1955 kehrt er heim, wird nie wieder seine nächtlichen Geister los und kennt nur noch ein Ziel:

    "Nie wieder Opfer sein!" (S. 11)

    Vier Ehen, sechs Kinder
    Dafür wird er bis zu seinem Tod im Jahr 2000 viermal eine zu seinem jeweiligen Lebensabschnitt passende Frau heiraten: Die Russin Nina ist ihm nach der Freilassung aus dem Gulag nützlich und ist die Mutter seiner Töchter Luna und Lara. Erika, Slavkos Ex-Freundin, verhilft ihm in Wien zum Berufseinstieg und betreut die Töchter, die er der in Österreich hilflosen Nina entreißt. Dörte, die dritte und promovierte Ärztin aus gutem Haus, bringt vier Kinder zur Welt und verschafft ihm in München Zutritt in eine höhere Gesellschaftsschicht. Während der Ehe mit ihr nimmt er Luna und Lara zu sich nach München, schickt die rebellierende Lara jedoch bald zurück zu ihrer leiblichen Mutter Nina nach Wien. Ludmila, die späte vierte Ehefrau, ist wiederum Russin.

    Im Mittelpunkt stehen jedoch die beiden Schwestern Luna und Lara, die auf Karls Geheiß Orte, Schulen, Heime und Mütter wechseln und die er schließlich, als sie dreizehn und zehn Jahre alt sind, auseinanderreißt:

    "Die Schwestern sind fortan wie Erich Kästners doppelte Lottchen in einem ihrer Lieblingsbücher, sogar ihre Vornamen beginnen mit einem L. […] Nur wird in dieser echten Geschichte das Happy End ausbleiben." (S. 51)

    Wie unterschiedlich sich ihrer beider Leben entwickeln, sie sich entfremden und durch äußere Ereignisse schließlich wieder annähern, erzählt die 1954 in Kursk geborene, in Wien lebende Autorin Ljuba Arnautović in kurzen, zeitlich vor- und zurückspringenden Sequenzen. Nicht immer habe ich verstanden, warum über einzelne Ereignisse vergleichsweise ausführlich, über andere, in meinen Augen wichtigere, dagegen sehr verkürzt berichtet wird. Im Hintergrund läuft, soweit es für Lunas politische Entwicklung von Bedeutung ist, die Zeitgeschichte: Studentenunruhen, Konsumverweigerung, Frauenbewegung, Hausbesetzungen, die RAF.

    Dritter Teil einer Familiengeschichte
    "Erste Töchter" ist ein autofiktionaler Roman, vor allem in der Figur Lara betont die Autorin in ihrer Danksagung ausdrücklich die Fiktion. Leider wusste ich nicht, dass es zwei Vorgängerbände gibt: "Im Verborgenen" von 2018 über Karls Mutter Eva und "Junischnee" von 2021 über Karl. Obwohl das nur 155 Seiten starke "Erste Töchter" in 39 Kapiteln viele biografische Details enthält, bleibt doch ohne Kenntnis der anderen Bände manches unklar, tauchen Personen ebenso unvermittelt auf, wie sie wieder verschwinden, was unbefriedigend ist und mir stellenweise unfertig erschien. Trotzdem hat sich für mich die Lektüre dieses sehr emotionslos und berichthaft geschriebenen Buches gelohnt: wegen eines mir bislang unbekannten Puzzleteils der Geschichte und einer Frau, die sich angesichts eines Besuchs bei der Großmutter in Kursk fragt:

    "Sie hat doch schon zwei Heimaten – wie viele passen in einen Körper?" (S. 79)

  1. Schicksal + Aufarbeitung. Dichtung + Wahrheit.

    Kurzmeinung: Autofiktionale Aufarbeitung ist groß in Mode. Wenn es denn wenigstens ganz real wäre - und nicht halb erfunden.

    Die Autorin erzählt davon, wie die umständebedingte Verschickung ihres Vaters Karl zusammen mit seinem älteren Bruder Slavko nach Russland, auch ihr eigenes Leben beeinflusst hat. Der Vater wurde hart und unbarmherzig. Oder ist es nur der Vater der gleichnamigen Protagonisten? Schon hier setzt Verwirrung ein.
    Als Karl nach 20 Jahren nach Österreich zurückkehrt, mit Gulag-Erfahrung, ist er seelisch fertig. Er will nur noch nach oben und ordnet diesem Ziel alles unter, zahlreiche Ehefrauen werden auf verschiedenste Weise „geopfert“, das Kindeswohl der ersten Töchter Luna und Lara bleibt auf der Strecke. Trotzdem haben sie überlebt. Irgendwie.

    Der Kommentar und das Leseerlebnis:
    Man kann das überaus kurze und komprimierte Büchlein von Ljuba Arnautovic kaum für sich stehend lesen, die fehlenden Informationen aus „Junischnee“ schlagen arg negativ zu Buche. Kaum weiß man, wer wer ist. So viele Personen, so viele ähnlich klingende Namen, Lara, Luna, Mutti, Mama, viele Ortswechsel, viele Länder, Österreich, Deutschland, Tschechien, Russland - das alles verwirrt. Die halb berichtend, halb erzählende Geschichte will einfach zu viel. Zeitgeschichte vermitteln und Familiengeschichte über mehrere Generationen hinweg, auf gerade mal 150 Seiten, ist unmöglich. Etwas bleibt auf der Strecke: nämlich die Übersicht. Ein Vorwort oder Nachwort hätte gut getan und den Roman aufgewertet!
    Mit der emotionslosen Erzählweise habe ich keine Probleme, ich muss mich lesend nicht mit jedem Protagonisten verbinden, aber Zeitraffungen müssen so gesetzt werden, dass sie den Leser chronologisch oder personell nicht ins Schwimmen bringen. Das ist hier leider nicht gut gelungen.
    Zudem sind Erklärungen zum Zeitgeschehen und ausgezogene Einzelepisoden rein willkürlich gesetzt. Bald haben die Protagonisten die gerade noch Kinder waren, selber Kinder, Ehemänner, Ehefrauen; die meisten verschwinden wieder in der Versenkung, bevor man die Chance hatte, eine Ehe und wie sie sich anlässt oder den jeweiligen Partner kennenzulernen. Lapidar. Werden nicht mehr gebraucht. Weg damit: „Es wird klar, dass der Mann, den sie geheiratet hat, nicht zu ihr passt. Die Ehe wird geschieden.“ Diese Art von Komprimierung ist exemplarisch für den Roman, leider kein Einzelfall und jedes Mal ist die Leserin perplex: ein bisschen mehr hätte sie schon wissen wollen.
    Und warum trauern die Schwestern, die ersten Töchter, ihrem Vater so sehr nach, dass sie ihm eine leere Grabstätte kaufen, an der sie trauern können, obwohl sie doch so ein schlechtes Verhältnis zu ihm hatten?

    Fazit: Ein Roman, der nicht immer glücklich komprimiert, mit vielen guten Sätzen, aber noch mehr Leerstellen und den man kaum alleinstehend ohne seinen Vorgänger „Junischnee“ zu kennen, gewinnbringend lesen kann. Und als die Autorin im Nachwort bekennt, ihre Schwester wäre ja eigentlich "ganz anders," bin ich wirklich sauer. Warum dann ein Buch über sie schreiben? Warum sollte ich es lesen? Ich fühle mich als Therapiemittel missbraucht.

    Kategorie. Autofiktionaler Roman mit Austrofaschismus.
    Zsolnay, 2024

  1. Komprimierter Bericht über eine Familie zwischen den Welten

    Familiengeschichte in Bruchstücken mit eingeschobenen Geschichtsartikeln, zeitlich hin- und herspringend, mehr beschreibend als erzählend

    'Handlung, Figuren, Orte und Zeiten des Romans sind literarisch fiktional, auch wenn sie in Teilen auf wahren Begebenheiten beruhen.'

    So steht es ganz vorne. Allerdings kann ich schlecht erkennen, ob etwas fiktional ist und was. Das nicht allzu dicke Büchlein beschreibt mehr anstatt zu erzählen und hat mich nicht erreichen können. Dabei fängt es literarisch interessant an und wir geraten mitten hinein ins Geschehen, als die junge Dörte im Café in Wien einen Mann sieht, der sie interessiert, mit einem Gesicht wie eine Landschaft. Er wird eingehend beschrieben, dann auch sie selbst. 'Karl ist ein Gezeichneter. Nicht nur Gesicht und Körper tragen die Narben eines schweren Schicksals, auch seine Seele ist verwüstet.' (11) dann bricht die Erzählung abrupt ab und schiebt einen geschichtlichen Exkurs ein, trocken wie im Geschichtsbuch.

    Weiter geht es mit Karl und seiner Familie, allerdings nicht immer chronologisch, sondern hin- und herspringend, was ich verwirrend zu lesen fand. Karl wurde als Kind nach Russland geschickt, landete später dort in einem Lager des Gulag und wurde nach seiner Rückkehr nach Wien ein erfolgreicher Geschäftsmann in München. So verwirrend wie sein Werdegang ist vor allem seine Familiengeschichte mit vier Ehefrauen und Kindern, die er despotisch behandelt, belügt und betrügt. Von den beiden ersten – die Schwestern Luna und Lara – handelt die Geschichte hauptsächlich. Sie werden hin- und hergeschoben zwischen diversen Waisenhäusern und Müttern und am Ende getrennt. Die Frage ist, ob sie wieder zueinander finden. Sie überlegen in Briefen, wie es gewesen wäre, wenn man sie nicht voneinander getrennt hätte.

    'Schon komisch, ich habe eine Schwester, aber ich habe keine.' (66)
    'Du bist einfach Du, und ich bin ich.' (112)

    Das alles wird lapidar und emotionslos berichtet. Es gibt viele Leerstellen, verwirrende Zeitsprünge, geschichtliche Einschübe und kleinere Widersprüche. Die Personen kommen manchmal vor und verschwinden wieder wie z.B. die zweite Ehefrau Erika. Sie bleiben blass, gewinnen nicht an Kontur und man erfährt relativ wenig von ihnen. Manches ist zu komprimiert und viele Fragen bleiben offen, z.B. 'Unbezahlbar ist Ninas Hilfe bei der Betreuung, was es Luna ermöglicht, sich weiterzubilden und beruflich neu zu orientieren. (146) - Ja, aber was denn? Das wird nicht weiter erläutert und ist typisch für dieses Buch.

    Kleine Ausnahmen gibt es, z.B. die Briefe von Nina, der Mutter der beiden Schwestern, die in rührend fehlerhaftem Deutsch Briefe an die Mädchen schreibt oder die Schilderung einer Irrfahrt mit dem Zug mit Baby im kalten Winter.

    Fazit

    Leider ist dieses Buch eine große Enttäuschung für mich. Es ist kein Roman, sondern berichtet ziemlich verworren und zeitlich gerafft die Lebensgeschichte der beiden Schwestern - eine Familiengeschichte in Bruchstücken mit eingeschobenen Geschichtsartikeln, zeitlich hin- und herspringend, mehr beschreibend als erzählend.

    Erst im Laufe des Lesens habe ich erfahren, dass es zwei Vorgängerbände gibt, die sich mit der Familie beschäftigen: 'Im Verborgenen' und 'Junischnee'. Da ich die Leserproben interessant fand, werde ich wahrscheinlich zumindest eines dieser Bücher trotz probieren.

  1. Familienaufarbeitung im Protokollstil

    Nach „Im Verborgenen“ und „Junischnee“ folgt hier der dritte Roman, in dem sich die Autorin mit der Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte auseinandersetzt. Für mich ist es ein Erstkontakt und ich verstehe „Erste Töchter“ eher als Memoir. Die Autorin spürt intensiv ihrer eigenen Kindheit und Jugend nach, insbesondere in Bezug auf das wechselvolle Verhältnis zu ihrer Schwester. Dreh- und Angelpunkt der ererbten Familientraumata ist ihr Vater Karl, der als Kind im guten Glauben in ein russisches Kinderheim geschickt wurde, damit die Eltern sich politisch engagieren konnten. Mit Beginn des Krieges sind deutsche Kinder in Moskau nicht mehr wohlgelitten. Karl wird zwecks Umerziehung in grausige Heime verschoben, landet schließlich im Gulag und in der Verbannung. Erst 1953 kommt er ohne jegliche Ausbildung zurück nach Österreich, weiß sich aber seine russischen Sprachkenntnisse in den folgenden Jahren zunutze zu machen. Sein eiserner Wille, es zu etwas zu bringen, treibt ihn an. Er regiert hart über seine insgesamt drei (später vier) Ehefrauen sowie seine Töchter, die seiner Willkür ausgesetzt sind. Mit dem richtigen Gespür, Fleiß und einer Portion Hochstapelei gelingt ihm der gesellschaftliche Aufstieg in München, an dem jedoch nur Tochter Luna teilhaben darf. Die zwei Jahre jüngere Schwester Lara wurde im Alter von 10 Jahren zur leiblichen Mutter Nina nach Wien abgeschoben, wo sie im einfachsten Arbeitermilieu den Launen Grischas ausgesetzt ist, dem Vermieter und/oder brutalen Lebensgefährten der Mutter.

    Die Autorin erzählt aus der Perspektive ihres Alter Ego Luna. Der Text erinnert mehr an einen Bericht oder ein Protokoll als an einen flüssig geschriebenen Roman. Dialoge gibt es kaum, dafür Abschriften von Dokumenten und Briefen. Der Stil ist distanziert, Emotionen treten nur selten offen an die Oberfläche. Dennoch werden sie beim Leser erreicht, der sich über die Willkür Karls oder die patriarchischen gesellschaftlichen Zustände der Nachkriegszeit echauffieren kann. Arnautovic erzählt nicht streng chronologisch, sondern sprunghaft und fast fragmentarisch, als ob sie aus ihren Erinnerungen schöpft, die naturgemäß Lücken aufweisen. Sie greift Stationen ihres Lebens auf, die mit persönlichen Tragödien oder gesellschaftlich-politischen Ereignissen verknüpft sind, und führt sie in unterschiedlicher Ausführlichkeit aus. Manchmal bleiben dabei wesentliche Fragen auf der Strecke, die nur zum Teil beantwortet werden und die man sich zusammenreimen muss. Nicht alles Erzählte hat aus meiner Sicht Relevanz für den Gesamtkontext des Buches oder für den unbeteiligten Dritten.

    Im Kern geht es um transgenerationale Traumata, die sich auf nachfolgende Generationen auswirken. Die seelische Zerrüttung von Vater Karl tritt höchst anschaulich hervor. Dadurch, dass er sowohl seine Ehefrauen wie auch seine Töchter gegeneinander ausspielt und trennt, ist eine zunehmende Entfremdung vorprogrammiert. Die Beziehung der beiden Schwestern zueinander wird in Höhen und Tiefen geschildert. Am Ende finden sie als Erwachsene wieder zueinander – auch hier gibt ein tragisches Ereignis den Ausschlag dazu. Luna und Lara lernen, sich in ihrer Unterschiedlichkeit anzunehmen und dem anderen nichts vorzuwerfen. Auch für Vater Karl entwickelt man letztendlich eine gewisse Empathie, der Roman endet versöhnlich.

    Arnautovic schildert ein bewegendes Schicksal des 20. Jahrhunderts, wie auch der Klappentext suggeriert. Die geschichtliche Einbettung ist spannend, vielleicht fehlten mir hier ein paar Hintergründe. Auf den Schreibstil muss man sich einlassen, er ist gewiss nicht jedermanns Sache. Autofiktionale Texte, bei denen die Beteiligten noch am Leben sind, leuchten aus Rücksicht oft bewusst nicht jeden Winkel aus. So empfinde ich es auch hier. Der Autorin hat die Aufarbeitung ihres bisherigen Lebens bestimmt geholfen.
    Ich persönlich werde jedoch nicht tiefer in ihre Familiengeschichte einsteigen, bin aber überzeugt, dass das Buch seine Leser finden sollte.