Empusion

Buchseite und Rezensionen zu 'Empusion' von Olga Tokarczuk
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Inhaltsangabe zu "Empusion"

September 1913, Görbersdorf in Niederschlesien. Inmitten von Bergen steht seit einem halben Jahrhundert das erste Sanatorium für Lungenkrankheiten. Mieczysław Wojnicz, Ingenieurstudent aus Lemberg, hofft, dass eine neuartige Behandlung und die kristallklare Luft des Kurorts seine Krankheit aufhalten, wenn nicht gar heilen werden. Die Diagnose allerdings gibt nur wenig Anlass zur Hoffnung: Schwindsucht. Mieczysław steigt in einem Gästehaus für Männer ab. Kranke aus ganz Europa versammeln sich dort, und wie auf Thomas Manns Zauberberg diskutieren und philosophieren sie unermüdlich miteinander – mit Vorliebe bei einem Gläschen Likör mit dem klingenden Namen »Schwärmerei«. Drängende Fragen treiben die Herren um: Wird es Krieg geben in Europa? Welche Staatsform ist die beste? Aber auch vermeintlich weniger drängende: Ob Dämonen existieren zum Beispiel oder ob man einem Text anmerkt, wer ihn verfasst hat – eine Frau oder ein Mann? Und mit der »Frauenfrage« befasst sich diese Herrenriege besonders gern. Auch bietet die kleine Welt von Görbersdorf reichlich Gesprächsstoff: Am Tag nach Mieczyslaws Ankunft hat die Frau des Pensionswirts Selbstmord begangen. Überhaupt komme es häufig zu mysteriösen Todesfällen in den Bergen ringsum, heißt es. Was Mieczyslaw nicht weiß: Dunkle Mächte haben es auch auf ihn abgesehen.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:384
Verlag: Kampa Verlag
EAN:9783311100447

Rezensionen zu "Empusion"

  1. Ein junger Mann findet seinen Weg – literarisches Meisterwerk

    In jeglicher Hinsicht literarisches Meisterwerk mit Anspielungen an Th. Manns 'Zauberberg', aber doch ganz eigenständig u. leichter zu lesen

    Gleich vorweg – weil dieser Roman in Rezensionen und Besprechungen eng mit dem 'Zauberberg' von Thomas Mann verknüpft wird: man braucht diesen nicht zu kennen und muss ihn auch nicht vorher oder nachher lesen. Olga Tokarczuks Buch ist eigenständig, auch wenn es etliche Parallelen und Ähnlichkeiten gibt.

    Eine filmreife Szene: ein Dampfzug kommt an, Niederschlesien 1913, der Rauch verzieht sich, jemand steigt aus und wir sehen zuerst nur den Schuh, dann noch einen, eine Gestalt, die immer deutlicher wird: Person – Mensch – ein junger Mann: Mieczysław Wojnicz, Student der Canalbautechnik aus Lemberg, angereist, um sein Lungenleiden im Luftkurort Görbersdorf auszukurieren. Er wird in einem Gästehaus für Herren logieren (solche altmodischen Wörter sind etliche eingestreut) und Anwendungen in der Kurklinik über sich ergehen lassen müssen.

    Die Erzählerinnen: ein rätselhaftes WIR, 'weibliche Wesenheiten', die die Menschen beobachten, die geheimnisvoll sind und bleiben und unter denen sich gerne jeder etwas anderes vorstellen darf: Gedanken, Geister, Naturwesen oder was auch immer.

    Im Zauberberg gibt es tiefschürfende Gespräche zwischen einigen Kurgästen; die Themen werden aber nur angerissen, nicht weitergedacht und dem Leser mag es wie Wojnicz gehen: nicht alles ist verständlich - Phrasen, Worthülsen - aber auch Sätze, wo man zustimmend nicken kann. Das trifft allerdings ganz und gar nicht auf DAS Thema zu, auf das die Herren immer wieder zurückkommen: Frauen. Die zahlreichen misogynen (frauenfeindlichen) Äußerungen fand ich zuerst so dumm und abscheulich, dass ich sie am liebsten gar nicht gelesen hätte. Aber: man sollte den Hintergrund kennen. Was Tokarczuk diesen überheblichen Macho-Männern in den Mund legt (nicht zitiert, sondern paraphrasiert), sind alles Meinungen, die tatsächlich geäußert wurden und zwar von bekannten Männern. Es sind so illustre Namen dabei wie Darwin und Cato der Ältere, aber auch Sartre, Kerouac, Wedekind u.v.m.
    Und worum geht es nun in diesem Roman? Am liebsten würde ich jetzt mit einem modernen Begriff herausplatzen, aber das darf ich nicht. Vorsichtig ausgedrückt: darum, dass der junge Wojnicz sich selber findet – meiner Meinung nach das Hauptthema. Das mag abgedroschen klingen, aber ich will es nicht näher erläutern, weil ich denen, die den Roman zum ersten Mal lesen, eine kleine Überraschung nicht verderben – also nicht spoilern – will. Zum Ende kommt sogar etwas Spannung in diesem ansonsten handlungsarmen Buch auf, aber auch hier darf genauso wenig verraten werden wie über das Ende. Wer allerdings von Anfang an langsam und aufmerksam liest, wird viele Sätze finden, die zu denken geben und Vermutungen aufkommen lassen, die in Richtung Hauptthema gehen. Meine Vermutung ist, dass Tokarczuk nichts dem Zufall überlassen hat und alles bedeutungsvoll durchkonstruiert hat – eigentlich eher ein Merkmal von Erzählungen.

    Über der ganzen Geschichte liegt von Anfang an etwas Unheimliches, Unheilvolles, Rätselhaftes, Mörderisches. In Häppchen erfahren wir viel über Kindheit und Jugend von Wojnicz, geschickt in die Geschichte eingewebt, ebenso wie Diskussionen in der abendlichen Herrenrunde mit viel Likör (Symposion) über die unterschiedlichsten Themen wie 'Nationen', 'Krieg', 'Kunst', 'das Wesen der Frauen' und immer wieder sexuelle Anspielungen.

    Mir hat das Buch rundherum gut gefallen, weil es alles enthält, was ich so mag:

    - zitierfähige Sätze zum Genießen und Herausschreiben,
    '… dieser gewaltige Raum, den jeder Mensch in sich trägt und der gefüllt ist mit all dem unsichtbaren Gepäck, das jeder ein Leben lang mit sich schleppt ohne zu wissen, warum. Das eigene Ich.' (Kampa 52)

    - bild- und sinnenhafte Beschreibungen, z.B. von der ekligen Blutsuppe (Schwarzsauer), ein Gericht, das es tatsächlich gibt – die typischen Gerüche der einzelnen Herren oder ihr charakteristisches Husten, die 'Hustensymphonie' des Nachts. Man meint, alles zu schmecken, zu riechen, zu hören.

    Nicht zuletzt hat mir gefallen, dass es körnig verschwommene Schwarz-Weiß-Fotos vom Ort gibt, der heute polnisch ist und SokoŁowsko heißt. Und auch das Sanatorium in neogotischer Backstein-Architektur gibt es. Heute ist es ein wenig verfallen, wird aber wohl gerade restauriert, wie man hier sehen kann:
    https://polenjournal.de/kultur-lifestyle/2501-das-vergessene-schlesische...

    Und wie ist es mit dem Cover? Auf den ersten Blick fand ich es scheußlich: das Rosa, die Adern, aber nach dem Lesen wird man auch hier feststellen: wohlüberlegt gestaltet, gut ausgewählt, das Bild vom 'Glove' der surrealistischen Künstlerin Meret Oppenheim.
    https://www.moma.org/collection/works/61765
    Der Titel: Empusion ist eine Zusammensetzung aus antiken Begriffen: Symposion = Trinkgelage, Empuse: eine weibliche Schreckgestalt.

    Fazit

    Dieses Buch hat mir eine große Lesefreude bereitet und ist für mich schon jetzt ein Jahreshighlight. Es ist große Literatur und doch oberflächlich leichter zu lesen als der 'Zauberberg' von Thomas Mann, mit dem es wegen einiger Parallelen und Ähnlichkeiten in Verbindung gebracht wird und weil Olga Tokarczuk wohl bewusst Bezug darauf genommen hat.

    Wer Interesse an guter, anspruchsvoller Literatur hat, dem kann ich es sehr empfehlen.

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