Einsame Schwestern

Buchseite und Rezensionen zu 'Einsame Schwestern' von Ekaterine Togonidze
4.75
4.8 von 5 (8 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Einsame Schwestern"

Die siamesischen Zwillinge Lina und Diana sterben unter mysteri­ösen Umständen. Erst danach erfährt ihr Vater Rostom von deren Existenz, und dann, Seite für Seite, über das Leben seiner Töchter und deren unterschiedliche Persönlichkeiten in ihren ergreifenden Tagebucheinträgen.

Die beiden gegensätzlichen Stimmen zeichnen ihre außergewöhnlichen Er­­fahrungen als zwei getrennte Personen auf, die sich einen Körper teilen müssen. Bis ins Teenager-Alter werden die verletzlichen Zwillinge von der Außenwelt verborgen und von der Großmutter umsorgt, die darum kämpft, die beiden in einem verarmten post­sowjetischen Georgien zu beschützen – einer Gesellschaft mit wenig Mitgefühl für Behinderte. Nachdem die Großmutter stirbt, sind Lina und Diana wehrlos und fallen jeder Art von Misshandlung zum Opfer. Sie werden sexuell und psychisch missbraucht, sie werden gezwungen, als Freaks im Zirkus zu arbeiten.

Von der Taille abwärts verbunden, bleibt den Schwestern als einziger Rück­zugsort die Welt ihrer Tagebücher: Lina, unbeschwert und glücklich, ist fähig, sich zu verlieben, schreibt Gedichte, hat eine optimistische und romantische Seele und erfreut sich an den kleinen Dingen des Lebens. Diana, angespannt und bodenständig, kann ihre Situation nicht akzeptieren.

Nur von der Großmutter unterrichtet und versteckt vor der Außenwelt, erweitern die beiden ihren Wortschatz durch Fernsehsendungen und dem Blättern in Illustrierten. Die daraus entstehende einfache Sprache in ihren Tagebucheinträgen unterstreicht das Bild der Isolation der Zwillinge und macht diesen einzigartigen Roman authentisch.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:180
EAN:9783902711748

Rezensionen zu "Einsame Schwestern"

  1. 4
    25. Jun 2018 

    Zwei Seelen, die sich Raum, Körper, Leben teilen

    Ekaterina Togonidze stellt den Leser mit diesem Roman vor eine ganz besondere Herausforderung, nämlich sich in ein Personal hineinzudenken, das ein einfach undenkbares Schicksal hat und Leben führt. Es handelt sich um ein siamesisches Zwillingspaar, das zwei Frauen – Lina und Diane – mit sehr unterschiedlichen Gefühlswelten auf den unvorstellbar engen Lebensraum eines einzigen Körpers zusammenbindet. Dass es für dieses literarische Wesen ein reales Modell gibt, war für mich sehr unvorstellbar. Aber in einer Leserunde bei Whatchareadin hatten wir die Möglichkeit, uns auch mit der Autorin auszutauschen, die uns auf die Spur der amerikanischen Hensel-Zwillinge führte. Bewegte Bilder über dieses Zwillingspaar, das sich einen Körper teilt und in den auseinanderstrebenden Köpfen ein jeweils eigenes Leben führt oder zumindest denkt, machten für mich das Lesen und das Verständnis des Romans wesentlich einfacher. Ehrlich gesagt: Ich fürchte ich wäre ansonsten daran gescheitert, mir zu dem Roman irgendwie fassbare Bilder im Kopf zu machen und wäre deshalb an der Lektüre irgendwie auch gescheitert.
    Aber ich konnte mir ja (mit dieser Hilfestellung) solche Bilder machen und habe den Roman so als großes Lese-Abenteuer und ungemein mutiges Schreib-Abenteuer der Autorin lesen können.
    Die Zwillinge werden in Georgien unehelich geboren und werden von ihrer Mutter und vor allem der Großmutter aufgezogen. Die Mutter zerbricht wohl an diesem Schicksal und scheidet aus dem Leben. Die Großmutter zieht die beiden in absoluter Abgeschlossenheit von der Umwelt auf. Sie verlassen nie die Wohnung. Ein einziger Vertrauter der Großmutter stellt den Kontakt zur Außenwelt für sie her und organisiert das Überleben durch Einkäufe und Besorgungen für sie. Der Fernseher ist ihre Quelle der Kenntnis über die Welt. Die Großmutter vermittelt ihnen (wohl nicht ganz zu Unrecht), dass ein Kontakt mit der Außenwelt für sie beide eine große Gefahr darstellen würde. So bleiben sie wohl oder übel in dieser Abgeschiedenheit, bis die Großmutter immer kränker und gebrechlicher wird und ihr bevorstehender Tod das fragile Gleichgewicht ihres Lebens in Frage zu stellen droht. Als die Großmutter stirbt, versuchen die beiden, dies auszublenden, verscharren die Leiche im Garten und hoffen, dass irgendwie das Leben für sie so weitergeht.
    An dieser Stelle ein Hinweis auf die Erzählweise des Romans. Die meisten Teile des Romans bilden Tagebucheinträge der beiden Schwestern, die unabhängig voneinander ihre Gefühle schriftlich festhalten, was mir bei der intensiven körperlichen Nähe der beiden eine schwierige Vorstellung bleibt.
    Nach dem Tod der Großmutter scheint die schwierige Entscheidung bevorzustehen, ob sie sich in die Öffentlichkeit begeben werden oder nicht. Doch diese Entscheidung wird ihnen durch eine Naturkatastrophe aus den Händen genommen: eine Überschwemmung flutet die Wohnung und reißt die beiden mit sich in die Welt hinaus.
    Ihre erste Lebensstation außerhalb der familiären Wohnung ist dann ein Krankenhaus, in dem sie sich von den Folgen der Überschwemmung erholen und gesunden müssen. Das Krankenhauspersonal reagiert darüber hinaus relativ gelassen und neutral auf die besondere Erscheinung dieses Patientenpaares. Und doch fühlt der Leser sehr deutlich, dass sich im Hintergrund ihr Schicksal in eine Richtung entwickelt, die keine gute sein wird.
    Tatsächlich nimmt sie nach der Entlassung aus dem Krankenhaus ein Zirkus auf, der sich auch noch im 21. Jahrhundert sein Publikum durch das Zurschaustellen von „menschlichen Monstrositäten“ zu sichern sucht. Hier lernen sie, sich zur Schau zu stellen und dem Publikum dabei etwas zu bieten und hier machen sie auch die ersten Erfahrungen mit neuen Bekannten und anderen Menschen, was auch sehr bald Liebe bzw. Verliebtsein mit ins Spiel bringt. Gefühle explodieren, die aber immer nur durch eine der zwei Seelen in dem gemeinsamen Körper auch gefühlt werden. Unterschiedliche Gefühlswelten und Unverständnis gegenüber den Gefühlswelten der jeweils anderen findet hier auf dem engen Raum der Körpergemeinschaft genauso statt wie bei allen anderen Beziehungen zwischen zwei Menschen. Das jedenfalls spiegeln uns die Tagebucheinträge der Schwestern, die die Autorin für ihren Roman konzipiert hat.
    Das Ende des Romans und auch des Lebens der Schwestern wird schließlich herbeigeführt durch einen Gewaltakt im Zirkus.
    FAZIT:
    Ich bewundere diesen Roman, den ich als wirklich mutiges Experiment verstehe. Die Autorin führt uns in eine einzigartige Sonderform menschlichen Personals hinein und versucht, uns diesem Personal nahe zu bringen und mit ihm fühlen zu lassen. Ich muss aber auch sagen, dass ich bei der Lektüre und auch danach, als ich dem Nachklingen der Lektüre bei mir nachgespürt habe, oft die Befürchtung hatte, dass Ekaterine Togonidze sich dabei etwas verhoben hat. Ist das nicht ein zu Viel des Guten? Kann man dieses psychologisch-literarische Experiment wirklich schaffen? Wie schon zu Anfang gesagt: Ohne die realen Bilder hätte es bei mir vermutlich nicht funktioniert. Aber vielleicht sind andere Leser einfühlsamer und kreativer in ihrer Vorstellungswelt? Also ist es doch ein gutes Experiment, den Leser so stark zu fordern? Ich kann mir diese Frage auch nach einigen Tagen immer noch nicht richtig beantworten.
    Und so bleibe ich mit meinen Zweifeln zurück und wünsche dem Roman einfach möglichst viele Leser, die dieses Experiment mitmachen und sich darauf einlassen. Deshalb gebe ich dem Buch eine Empfehlung mit 4 Sternen.

  1. Ein Leben, das berührt

    Bereits das Cover dieses im Septime-Verlag erschienenen Buches ist besonders: Ein sehr ästhetisch anmutendes Foto zweier junger Frauen, der Kopf auf selber Höhe, die Körper aber in vertikal unterschiedliche Richtungen weisend. Die Augen verborgen, der Körper bedeckt, der Hintergrund dunkel. Unter dem Schutzumschlag ein schneeweißes Buch mit schwarzem Lesebändchen, das einem Trauerflor gleicht. Eine Aufmachung, die sehr gut zur erzählten Geschichte passen will.

    Bereits ganz zu Anfang wird nämlich klar, dass die beiden Protagonistinnen tot sind. Ein gewisser Rostom wird von den Behörden informiert, dass seine Kinder verstorben sind und er noch ausstehende Gebühren zu zahlen habe. Jener streitet die Vaterschaft jedoch wiederholt ab. Die Geschichte Rostoms ist eine der drei Perspektiven dieses außergewöhnlichen Romans: Immer wieder wird über ihn, sein ärmliches Leben als Hochschullehrer und seine Beziehung zur Mutter der Zwillinge berichtet. Nach und nach ergibt sich daraus ein zusammenhängendes Bild über einen Mann, der Verantwortung scheut und wenig Sympathien gewinnt.

    Die beiden weiteren Perspektiven liefern die Tagebucheinträge der Schwestern Lina und Diana. Sie schildern darin normale Alltagsgeschehnisse, aber auch sehr viele Dinge aus ihrem besonderen Gefühlsleben. Die beiden sind 16 Jahre alt und ab der Hüfte aufwärts zusammengewachsen, sie sind Siamesische Zwillinge. Diana schreibt ihr Tagebuch, um zu leben, um einen Beweis zu hinterlassen, dass sie gelebt hat (vgl. S. 9). Obwohl diese Schreiberei Lina anfangs suspekt ist, beginnt sie bald selbst damit, ein Tagebuch zu führen. Gerade von ihr bekommt man ein sehr detailliertes Bild, wie es sich für sie anfühlt, keine Privatsphäre zu haben und in einem Körper mit der Schwester gefangen zu sein.

    Beide Schwestern unterscheiden sich grundsätzlich in ihrem Charakter: Diana ist lebenspraktisch, realistisch, während Lina die verträumtere und poetischere Schwester ist. Darüber hinaus haben sie auch in Bezug auf Bücher, Speisen und andere Vorlieben unterschiedliche Geschmäcker, was dem Leser durch die Tagebucheinträge sehr schnell klar wird. Es scheint unvorstellbar, dass sich zwei so unterschiedliche Menschen einen Körper teilen müssen. Obgleich sie sich sehr lieben und sich gegenseitig helfen und unterstützen, bleiben natürlich auch Konflikte nicht aus.

    Die Mädchen leben gemeinsam mit ihrer Großmutter völlig abgeschieden in deren Haus. Es gibt noch Zaza, einen Mann, der ab und zu kommt, um für die kleine Familie Besorgungen zu machen – weitere Menschen haben die Schwestern noch nie gesehen. Sie wurden von der Großmutter unterrichtet, alles, was sie vom Leben außerhalb des Hauses wissen, haben sie von ihr oder aus dem Fernsehen erfahren.

    Im Verlauf der Geschichte erkrankt die Großmutter schwer und verliert sukzessive ihre Kraft. Wie die Mädchen das schildern, geht dem Leser an die Substanz, weil absolut klar ist, dass die Teenager von der alten Dame abhängig sind und die Bedrohung immer greifbarere Formen annimmt.

    Doch das Buch endet nicht mit dem Tod der Großmutter. Die Autorin bedient sich eines Kunstgriffes, der die Mädchen ins echte Leben spült. Ab dieser Stelle nimmt der Roman fast abenteuerliche Züge an, weil die mitunter grausamen Erlebnisse des Zwillingspaares für uns als Westeuropäer völlig irreal und fast mittelalterlich erscheinen. In Georgien gibt es in Bezug auf die Behandlung gehandicapter Menschen offensichtlich wenige Regeln oder Strukturen und damit deutlichen Nachholbedarf. Es wäre zu wünschen, dass dieser Roman einen Beitrag zur Verbesserung der Zustände dort leistet.

    „Einsame Schwestern“ ist ein Buch, das von Beginn an unter die Haut geht, das man nicht in einem Zug durchlesen kann. Man braucht Verschnaufpausen. Die Autorin hat es verstanden, ihren fiktionalen Text so glaubwürdig zu gestalten, das er unglaublich lebensecht erscheint. Nach eigener Aussage hat sie sich das Britische siamesische Zwillingspaar Brittany und Abby Hensel als Vorlage für ihren Roman genommen, die Handlung aber eben in ihre eigene Heimat Georgien versetzt und natürlich mit mehr Spannungselementen ausgestattet. Dadurch allein, dass Diana und Lina nach dem Tod der Großmutter keinen Fürsprecher oder Beschützer mehr haben, sind sie der rauhen Wirklichkeit und dem Voyeurismus der Menschen ausgesetzt. Am Ende wiegt die erlittene Grausamkeit so schwer, das sie zu dem tragischen Ende führt…

    Ich bewundere die schlüssige Komposition dieses Romans, der in einfachen Worten, die gefüllt sind mit Bildern und Poesie, eine Geschichte erzählt, die einen sofort gefangen nimmt und berührt. Dieser Roman macht auf ein Schicksal aufmerksam, über das sich normalerweise ausgeschwiegen wird, und der dadurch hoffentlich zu einer Sensibilisierung der Menschen führt, von der andere gehandicapte Menschen zukünftig profitieren können.

    Wer sich nicht scheut, sich mit einem ernsten Thema auseinander zu setzen, für den kann ich eine volle Lese-Empfehlung für dieses außergewöhnliche Buch aussprechen.

  1. Untrennbar verbunden und doch einsam

    Wie fühlt es sich an, wenn man mit seiner Zwillingsschwester einen Körper teilen muss? Zunächst ein verstörender Gedanke. In ihrem Debütroman: "Einsame Schwestern" der Georgerin Ekatarine Togondize wird das Leben eines siamesischen Zwillingspaars beschrieben. Als Vorbild für die Art der körperlichen Behinderung diente der Autorin wohl ein amerikanisches Geschwisterpaar, das in den USA durch soziale Medien und TV bekannt ist. Im Gegensatz zu diesen amerikanischen Schwestern, die wohl ein glückliches und erfülltes Leben führen, haben die beiden Schwestern Diana und Lina im Roman "Einsame Schwestern" ein überwiegend unglückliches Leben, das schon in ihrem 17. Lebensjahr tragisch endet.

    Der Roman spielt in Georgien, also dem Heimatland der Autorin. Die siamesischen Zwillinge wachsen dort völlig isoliert von der Gesellschaft bei ihrer Großmutter auf. Die Mutter der Schwestern ist bei ihrer Geburt gestorben und ihr Vater hatte schon zu Beginn der Schwangerschaft die Beziehung zur Mutter beendet.
    Die Zwillingsschwestern werden von der Großmutter unterrichtet. Ab und zu taucht ein entfernter Verwandter auf, der für die kleine Familie Besorgungen macht. Außer ihrer Großmutter und diesem Verwandten sind die Geschwister noch keinem anderen Menschen begegnet. Von der Außenwelt erfahren sie lediglich durch Fernsehen und Zeitschriften.
    Beide Schwestern lieben es, Tagebuch zu schreiben. Dabei versuchen sie es jeweils so einzurichten, dass die Schwester diese Tagebucheintragungen nicht zu lesen bekommt. Dies gibt ihnen das Gefühl einer Privatsphäre und einer eigenen Identität.
    Als die Großmutter schwer krank wird und stirbt, sind die Zwillinge plötzlich auf sich allein gestellt, zumal sich der Verwandte der beiden seit dem Tod der Großmutter nicht mehr meldet. Wenige Monate später werden die siamesischen Zwillinge in einem Zirkus tot aufgefunden. Im Zuge der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, erfährt der leibliche Vater von der Existenz der Mädchen, findet ihre Tagebücher und lernt von Eintragung zu Eintragung seine Kinder und dessen Schicksal kennen.

    Der Roman besteht hauptsächlich aus den chronologisch geordneten Tagebucheintragungen von Diana und Lina, unterbrochen von Erinnerungen des leiblichen Vaters Rostom an die Affäre mit der Mutter der Kinder. Rostom sperrt sich lange dagegen, die siamesischen Zwillinge als seine eigenen Kinder anzusehen.

    Die Tagebucheintragungen der beiden Schwestern sind sehr berührend. Sie wirken authentisch. In einer einfachen und poetischen Sprache berichten die Mädchen von ihren Ängsten und Hoffnungen. Dabei wird klar, dass sie sehr unterschiedliche Persönlichkeiten haben: Diana wirkt vernünftig und realistisch, während Lina die Gefühlvollere aber auch Naivere ist.
    Dadurch, dass sich der Roman hauptsächlich auf das Seelenleben der beiden Teenager konzentriert, gerät deren körperliche Besonderheit in der Wahrnehmung in den Hintergrund. Für mich persönlich wurde die Behinderung weniger verstörend. Beide Mädchen suchen - eigentlich wie alle Teenager - einen Platz für sich im Leben. Aber sie müssen erleben, dass sie nicht als Menschen, sondern als Freaks, als Kuriosum behandelt werden - und verzweifeln daran. Es ist erschütternd wenn Lina in ihrem Tagebuch fragt: "Zähl ich als Mensch oder gehör ich nicht dazu?"

    Es bleibt die Frage, warum die Großmutter ihre Enkelkinder versteckt hat. Warum den Zwillingen keine Hilfe von der Gesellschaft zuteil geworden ist - wie das wohl bei den bekannten amerikanischen Zwillingen der Fall war. Vielleicht liegt die Antwort an dem Ort, an dem die Handlung spielt: Georgien. Dort scheinen wohl noch große Vorbehalte gegenüber jeder Art von Behinderung zu bestehen. So ist der Roman sicher auch als Plädoyer für mehr Toleranz und Respekt vor Menschen mit Behinderungen zu lesen.

    Einsame Schwestern ist ein Roman der unter die Haut geht. Ein Roman wie er sein sollte: er hinterlässt Spuren beim Leser und verändert ihn damit ein Stück weit im positiven Sinne.

  1. 5
    07. Jun 2018 

    Auch ich bin ... ein Mensch!

    Lina und Diana sind Zwillinge. Doch auch wenn Zwillinge keine allzu seltene Laune der Natur sind - die beiden Mädchen sind etwas Besonderes. Sie teilen sich von der Taille abwärts einen Körper - sie sind siamesische Zwillinge. Hinzu kommt, dass sie nicht etwa wie Abby und Brittany Hensel in den USA das Glück haben, eine starke Familie im Rücken zu wissen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles zu tun, wonach ihnen der Kopf steht - Fahrrad fahren, Führerschein machen, sich im Bikini am Strand aalen - sondern in Georgien aufwachsen. In einer Gesellschaft also, in der Behinderte nicht zum Straßenbild gehören, sondern versteckt werden.

    Von dem Leben der beiden Mädchen erfährt der Leser aus Tagebucheintragungen. Diese kommen nach ihrem mysteriösen Tod ans Tageslicht und landen bei ihrem Vater Rostom, der erst von der Gerichtsmedizin erfährt, dass er Töchter hatte. Abwechselnd wird hier erzählt aus dem Leben von Lina und Diana und von Rostom, ihrem Vater, der nicht wahrhaben will, dass er mit diesen Kindern etwas zu tun hat.

    "Mein Stammbaum weist keinerlei Defekte auf! (...) Hätte ich solche Kinder gezeugt, hätte ich mich gleich umgebracht!" (S. 84 f.)

    Die Tagebucheintragungen von Diana und Lina sind eher leise und dennoch intensiv. Zum Teil typische Gedanken und Stimmungsschwankungen Jugendlicher, zum Teil Notizen, die einen guten Einblick bieten in die Situation, für immer an jemand anderen gebunden und niemals allein zu sein. Die beiden Mädchen leben bis zu ihrem 16. Lebensjahr abseits der Stadt bei ihrer Großmutter, die Mutter starb bei ihrer Geburt. Die bescheidene Rente der Großmutter lässt die Zwillinge in Armut leben, Fleisch gibt es selten, Süßigkeiten sind ein Luxus. Und doch wachsen die beiden recht behütet auf, die Großmutter bringt ihnen Lesen und Schreiben bei, und als sie die Möglichkeit entdecken, jede für sich ein Tagebuch zu führen, haben sie endlich eine Nische entdeckt, ihre so unterschiedlichen Persönlichkeiten zu Wort kommen zu lassen.

    Als die Großmutter stirbt, ist niemand mehr da, der Lina und Diana beschützt - wehrlos werden sie zum Opfer. Erst als Untersuchungsobjekt der Ärzte, später als Freaks im Zirkus. Nie werden sie als das gesehen, was sie sind: zwei jugendliche Mädchen in einem gemeinsamen Körper. Diana ist dabei pragmatischer und eher sachlich veranlagt, Lina dagegen verträumt und romantisch. Stets werden die beiden als eins gesehen, als Monstrosität betrachtet und behandelt - und Misshandlungen ausgesetzt.

    Die Lektüre ist trotz der eher einfachen Sprache in den Tageucheinträgen eine schwere und bedrückende. Der Kniff mit den Tagebüchern ist dabei von Ekaterine Togonidze geschickt gewählt worden, wird so doch der Schwerpunkt nicht auf die Behinderung selbst gelegt, sondern darauf, was das für die beiden Mädchen bedeutet, für ihr Leben, ihre Gefühle, ihre Gedanken. So wird der Leser nicht ungewollt ebenso zum Zuschauer einer Freakshow, wie die Besucher des Zirkus, in dem die Mädchen gezwungen sind aufzutreten.

    Die Lektüre macht betroffen - nicht allein aufgrund der Eindringlichkeit, die gerade auf den letzten Seiten der Tagebücher entsteht. Sie macht betroffen angesichts der Vielfalt des Menschseins - und der Ignoranz dieser Tatsache. Menschen mit Behinderungen - totgeschwiegen, weggesperrt, angestarrt, misshandelt, missbraucht, entseelt.

    "So viel habe ich gewollt und nichts bekommen, nichts ist mir gelungen... Ich wollte allen ins Gesicht sagen: Auch ich bin eine von euch. Auch ich bin ... ein Mensch." (S. 176)

    Leben ist Vielfalt. Und dieser Roman senisibilisiert - für Toleranz, für Akzeptanz, für ein Ja zu allen Facetten des Menschseins. Ein beeindruckendes Debüt, das lange nachhallt...

    © Parden

  1. Zwei Herzen, zwei Seelen, ein Körper

    Die 16-jährige Lina und ihre gleichaltrige Schwester Diana führen ein einsames Leben. Die siamesischen Zwillinge sind von der Taille abwärts miteinander verbunden. Von der Außenwelt abgeschirmt, wohnen die beiden mit ihrer Großmutter in einem kleinen Haus unter ärmlichen Umständen im post¬sowjetischen Georgien. Ihre Mutter Elene ist tot, ihr Vater Rostom Mortschiladze, der als Professor an einer Fachhochschule unterrichtet, hat sie schon in der Schwangerschaft verlassen. In einer Gesellschaft, die für Behinderte wenig Mitgefühl hat, ist Elenes Cousin Zaza der einzige Kontakt zur Welt draußen. In ihren Tagebüchern finden die Jugendlichen einen Rückzugsort und die Möglichkeit, ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten Ausdruck zu verleihen. Doch dann stirbt die Großmutter und die Zwillinge sind plötzlich ganz auf sich alleine gestellt…

    „Einsame Schwestern“ von Ekaterine Togonidze ist ein aufrüttelnder, eindringlicher Roman über das Leben mit einem besonderen Schicksal.

    Meine Meinung:
    Der Roman besteht aus zwei Teilen, die wiederum in etliche Abschnitte untergliedert sind. Neben den Passagen, die aus der Sicht von Rostom erzählt werden, wechseln sich die Tagebucheinträge von Lina und Diana ab. Dabei ist es der Autorin gut gelungen, einen authentischen Sprachstil für die Eintragungen der beiden Teenager zu finden. Auch die in Linas Passagen eingestreuten Gedichte sowie die wunderbaren Metaphern und Symbole, die an mehreren Stellen im Text zu entdecken sind, machen den Roman in sprachlicher Hinsicht besonders.

    Mit Diana und Lina geht es um zwei Hauptprotagonistinnen, die es besonders schwer im Leben haben. Durch ihr Tagebuch wird ihre Gefühls- und Gedankenwelt sehr anschaulich und nachvollziehbar. Dabei stellt der Leser schnell fest, wie unterschiedlich die beiden Charaktere sind: Während Lina eher unbeschwert, verträumt und etwas naiv ist, ist Diana die vernünftigere und bodenständigere von beiden. Beim Lesen kommt man den Zwillingen sehr nahe, sodass ich schon nach wenigen Seiten viel Mitgefühl für die beiden entwickelt habe. Ihr Denken und Handeln ist zum Teil ihrer speziellen Situation geschuldet, zum Teil aber auch recht typisch für ihr Alter. Auch die übrigen Personen wirken realitätsnah.

    Die Thematik der siamesischen Zwillinge spricht mich sehr an. Mit einem Schwesternpaar in den USA gibt es ein reales Vorbild für die Geschichte. Bemerkenswert ist es, dass die georgische Autorin die erste Schriftstellerin war, die in ihrem Heimatland körperliche Behinderung als Thema literarisch verarbeitet hat. Es hat mich tief erschüttert, wie Diana und Lina missbraucht werden, was man ihnen alles zumutet und wie die beiden von der Gesellschaft geächtet werden. Kaum jemand nimmt sie als eigenständig denkende Individuen wahr. Zudem gelingt es der Autorin gut, die inneren Konflikte der beiden Heranwachsenden deutlich zu machen und gleichzeitig einfühlsam darzustellen, wie sie mit dem Fehlen von Freiheit und Privatsphäre umgehen müssen. Die Geschichte regt somit in mehrfacher Hinsicht zum Nachdenken an und lässt den Leser so schnell nicht wieder los.

    Natürlich kann das Cover ein solches Schwesternpaar nicht so einfach zeigen, weshalb ich die optische Umsetzung des Themas durch den Verlag als sehr gelungen betrachte. Auch der Titel ist passend gewählt.

    Mein Fazit:
    „Einsame Schwestern“ von Ekaterine Togonidze ist eine aufwühlende, beeindruckende Lektüre, die betroffen macht und noch eine Weile bei mir nachklingen wird. Ich kann diesen bewegenden Roman uneingeschränkt weiterempfehlen.

  1. Ein Schicksal, das betroffen macht

    Die jugendlichen siamesischen Zwillinge Lina und Diana, die von der Taille an verbunden sind (zwei Beine und zwei Arme, aber auch zwei Herzen und Köpfe) leben im postsowjetischen Georgien - von ihrer Großmutter versteckt.

    Ihre Mutter Elene starb bei ihrer Geburt und der Vater - Rostom hat seine Geliebte während der Schwangerschaft verlassen, da eine Heirat nicht "standesgemäß" gewesen wäre. Aus seiner Er-Perspektive erfahren wir zunächst, dass er vom Krankenhaus eine Rechnung erhält.

    "Für die von uns für Ihre Kinder in Auftrag gegebene Leichenbewahrung" (8)

    Man erfährt auch, dass ein Zirkusdirektor wegen Ausbeutung gesucht wird, was darauf hinweist, wo die beiden gestorben sind.

    Die Geschichte, die zum Tod der Zwillinge führt, wird in Tagebucheinträgen der beiden erzählt.
    Abwechselnd legen Lina und Diana ihre unterschiedlichen Gedanken und Gefühle dar.

    Diana
    "Wenn ich schreibe, fühle ich mich lebendiger als sonst, mein Leben wird auf einmal viel bedeutender." (9)
    "Zum Glück habe ich mein Tagebuch! Das ist der Ort, der nur mir gehört! Der Ort, an dem ich ich selbst bin..."(11)

    In diesen Einträgen kommt die grundlegende Tragik und Problematik der beiden sehr unterschiedlichen Mädchen zum Ausdruck: Sie sind nie allein, nur während des Schreibens, ansonsten sind sie immer auf die Kooperation der anderen angewiesen. Sie haben sich gern, lieben sich, als Teenager bräuchten sie jedoch Raum für sich selbst. Lina steckt deshalb ihren Kopf in eine Waschschüssel mit kaltem Wasser.

    "Ich brauche nur den Kopf ins Wasser zu stecken und schon bin ich woanders, in einer ruhigen, friedlichen Welt." (20)
    "Wasser ist für mich das Gleiche wie der Spiegel für Alice im Wunderland. Ich betrete so eine andere Welt." (24)

    Lina ist die Träumerin, die Mode-Designerin werden will, emotional, sensibel ist und wunderschöne Gedichte schreibt.

    Diane ist die Realistin, die Situationen durchschaut und eher rational an die Gefahren herangeht, die den Mädchen droht, als die Großmutter erkrankt und stirbt. Ein Hochwasser "spült" die beiden Mädchen an die Öffentlichkeit, wo sie zunächst im Krankenhaus untersucht werden, das sie schließlich an einen Zirkus verschachert.

    Währenddessen setzt sich Rostom mit seiner Vaterschaft auseinander, indem er sie zunächst verdrängt. Doch dann holen ihn die Erinnerungen ein, die gemeinsame Zeit mit Elene, der er einst eine Yin und Yang-Kette geschenkt hatte - ein Symbol für die Zwillinge.

    Genau wie der Apfel-Pfirsichbaum, der im Garten des Hauses steht:

    "Ich träumte vom Garten, unserem Garten,
    den prächtigen Farben der Hecken,
    wo Pfirsich und Apfel mitsammen verwachsen,
    als einzelner Baum sich zum Himmel strecken." (114) [Teil eines Gedichtes von Lina]

    Im Zirkus treten die beiden auf, nur als "Freaks" erfahren sie Anerkennung, dabei wäre Lina gerne ein Mensch wie alle anderen, möchte dazugehören, während Diana erkennt:

    "Wir haben nie zu denen gehört und werden es auch nie." (178)

    Bewertung
    Ich fand diesen Roman sehr aufwühlend und verstörend. Das Bild der beiden Mädchen ist immer noch in meinem Kopf und der Versuch zu verstehen, wie man so leben kann. Die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wurde - selbst die Großmutter ist nicht in der Lage ihnen Zärtlichkeit zu geben - ist menschenverachtend und macht betroffen. Sie gelten als Freaks, die ihren Platz nur im Zirkus finden können. Um auf den Umgang mit Behinderten in Georgien hinzuweisen, hat die Autorin ein extremes Beispiel gewählt, weckt dadurch jedoch Aufmerksamkeit und den Zwang, sich mit der Thematik auseinander zu setzen. Ihre Fähigkeit sich in die beiden hineinzuversetzen, ist erstaunlich, die Tagebucheinträge wirken sehr authentisch.
    Sprachlich ist der Roman sehr poetisch, besonders in den Gedichten und Einträge Linas. Sie findet für das Abscheuliche erträgliche Worte, die trotzdem nahe gehen.
    Ein Roman, der noch sehr lange nachhallt und wirklich empfehlenswert ist.

  1. Zwei Seelen teilen sich ein Leben

    Zwei Seelen teilen sich ein Leben

    Ekaterine Togonidze - Einsame Schwestern

    Ekaterine Togonidze hat in Georgien mit diesem Roman als erste Schriftstellerin das Thema " Körperliche Behinderung" aufgegriffen. 2012 erhielt sie bereits eine besondere Auszeichnung, den renommierten Saba-Preis!

    Diana und Lina leben zurückgezogen bei ihrer Großmutter, ihre Mutter verstarb bei der Geburt. Vom Vater wissen Diana und Lina nur das wenige was die Großmutter ihnen offenbart.
    Die beiden jungen Mädchen teilen sich einen Körper, sind von der Taille abwärts verbunden.
    Die Großmutter hat selbst kaum genug zum Leben, dementsprechend karg ist das Leben der drei. Durch ihren Beruf als Lehrerin ist sie allerdings in der Lage die Kinder zu unterrichten. Die beiden begeistern sich für Bücher und schreiben jede für sich Tagebuch. Das Tagebuch gibt den beiden die Gelegenheit etwas nur für sich allein zu tun, etwas was man nicht mit der Schwester teilen muss.
    Diana ist sehr realistisch, sie ist diejenige die eher praktisch denkt. So kann sie teilweise auch nicht nachvollziehen warum Lina an einigen Dingen besonders großen Spaß hat. Lina taucht zum Beispiel sehr gern ihren Kopf unter Wasser. Die Erfahrungen die sie unter Wasser macht entziehen sich Dianas Vorstellungsvermögen.
    Zaza, ein Verwandter der Familie, kommt ab und an um Besorgungen zu machen, er ist der einzige Mensch den die Zwillinge außer der Großmutter kennen.
    Als die Großmutter schwer erkrankt meistern die Mädchen diese Aufgabe. Es kommt wie es kommen muss, die zwei sind irgendwann ganz auf sich gestellt.
    Das Schicksal meint es nicht gut mit ihnen......

    Dieser Roman wird abwechselnd aus den Tagebucheinträgen von Diana und Lina erzählt. Deren Vater Rostom Mortischiladze erfährt erst nach dem Tod seiner Kinder von deren Existenz. Es gab damals nach seiner Trennung von Elene, der Mutter von Diana und Lina, zwar viele Gerüchte, aber er wollte damals nichts mehr mit diesem Lebensabschnitt zu tun haben.
    Die Einträge der Zwillinge, die er ausgehändigt bekommt, stürzen ihn in ein gewaltiges Gefühlschaos.

    Die Autorin spiegelt in ihrem Roman die Empfindungen zweier Seelen wieder, die viel durchgemacht haben. Auf der einen Seite gibt es innige Verbundenheit, aber der Wunsch nach Eigenständigkeit ist ebenso präsent, manchmal erdrückt der eine den anderen mit seiner bloßen Anwesenheit.
    Die Großmutter versteckte die Zwillinge seit ihrer Geburt. War es Angst vor Missbilligung, wollte sie die Kinder vor dieser Enttäuschung schützen? Wusste, ahnte sie was ihnen schlimmes passieren könnte? Oder war es einfach Scham?
    Ein gutes Leben wäre für die beiden sicherlich möglich gewesen, mit ein wenig Hilfe von außen. Ist dieses fiktive Schicksal abwegig? Ich weiß es nicht, aber dieser Roman hat mich sehr bewegt.

    Einsame Schwestern ist ein Roman der zum nachdenken anregt, er fesselt durch seine Sprache aber auch durch seine Andersartigkeit. Von mir gibt es eine klare Leseempfehlung!

  1. 5
    10. Mär 2018 

    Ein Roman, der sprachlos und betroffen macht

    Siamesische Zwillinge - eine Laune der Natur, die einen schaudern lässt. Auf eine Millionen Lebendgeburten kommt in etwa ein siamesisches Zwillingspaar. Siamesische Zwillinge sind selten, noch seltener sind Romane, die sich mit diesem Thema befassen. Mir war bis jetzt nur ein Roman bekannt, in dem ein siamesisches Zwillingspärchen eine Rolle spielt ("Hiobs Bruder" von Rebecca Gablé). Die Georgierin Ektaerine Togonidze greift also in ihrem Roman "Einsame Schwestern" ein ungewöhnliches Thema auf, das sie mit sehr viel Feingefühl vermittelt. Dem Klappentext des Buches nach, ist sie die erste Schriftstellerin, die das Thema "Körperliche Behinderung" in Georgien literarisch verarbeitete und zur Diskussion brachte. Hut ab, vor soviel Mut und Engagement.
    Die Geschichte spielt in der heutigen Zeit. Die "Einsame(n) Schwestern" um die es hier geht, sind Lina und Diana, die von der Taille an abwärts miteinander verbunden sind. Ihre Mutter ist bei ihrer Geburt gestorben. Sie leben daher bei ihrer Großmutter, in ärmlichen Verhältnissen. Die alte Frau schirmt die Mädchen vor der Außenwelt ab. Lina und Diana kennen daher nur die kleine Wohnung, einen Cousin ihrer Mutter, der hin und wieder vorbeikommt, um für die Frauen Besorgungen zu machen, und das, was das Fernsehprogramm zu bieten hat. Die Großmutter hat die Mädchen unterrichtet, damit sie mit einem Mindestmaß an Bildung versorgt werden. Als die Mädchen noch klein waren, war es einfacher, sie zu Hause zu halten. Mittlerweile sind Lina und Diana Jugendliche, an der Schwelle zum Erwachsenensein. Wie andere Mädchen in diesem Alter, haben sie mit den Dingen zu kämpfen, die die Pubertät mit sich bringt.

    "Übermorgen sollen wir tanzen. Lina schwebt über den Wolken. Ich glaube, auch das Tanzen interessiert sie nicht mehr. Was ist nur los mit ihr? Wie bekomme ich sie zurück? Sie glaubt doch nicht im Ernst, dass sich jemand in eine wie uns verlieben kann?" (S. 135)

    Lina und Diana sind charakterlich grundverschieden. Diana ist die Taffe und Rationaldenkende, so dass sie fast schon kaltherzig wirkt; Lina ist die Träumerin und Naive. Diana ist der Kopfmensch, Lina ist der Herzmensch. Spätestens hier wird deutlich, dass siamesische Zwilling trotz der körperlichen Einheit aus unterschiedlichen Persönlichkeiten bestehen können, die leider aufgrund einer Laune der Natur in der Regel bis an ihr Lebensende aneinander gekettet sind. Diese Unterschiedlichkeit wird auch durch den Sprachstil und Aufbau dieses Romanes verdeutlicht. Lina und Diana führen jede für sich Tagebuch. Anhand der Tagebucheinträge wird der Leser über die Geschehnisse der Wochen vor dem tragischen Tod der Mädchen informiert. Denn gleich zu Beginn des Buches ist klar, dass die Beiden sterben werden. Nicht in der kleinen Wohnung der Großmutter, sondern in einem Zirkus, wo sie zum Schluss als Schau- und Lustobjekt für (sensations)lüsterne Georgier landen werden.

    Neben dem Handlungsstrang um die beiden Mädchen gibt es noch einen zweiten Handlungsstrang um den Vater der siamesischen Zwillinge: Rostom, der erst mit Linas und Dianas Tod von der Existenz seiner Töchter erfährt. Die Tagebucheinträge der Mädchen wechseln sich ab mit Rostoms Erinnerungen an Elene, seiner damaligen Geliebten und Mutter der Zwillinge, sowie den Wochen nach dem Tod seiner Töchter, in denen er versucht, den Schock über ihre Existenz zu verarbeiten.
    Man wird kein Mitgefühl mit Rostom haben, präsentiert er sich doch als selbstsüchtiger Egoist, der während der kurzen Zeit, die er mit seiner Geliebten verbracht hat, unter der Fuchtel seiner Mutter stand. Aus Feigheit hat er sich nie offiziell zu Elene bekannt und ihre Liebe zu ihm gnadenlos ausgenutzt.

    "Ich schreibe, um zu leben. Das habe ich schon gesagt, oder? Bloß warum ich leben soll, das weiß ich nicht. Weil es sein muss. Einfach so. Ich lebe, bedeutet für mich, wir leben. Vielleicht ist dieses "Wir" das Problem? Wie ein Blutegel hat es sich an meiner Zunge festgesaugt und ich werde es nicht los. Es lässt mich nicht in der Einzahl reden, nicht mit mir allein sein, es lässt mich nicht leben .... " (S. 9 f.)

    Dieses Buch macht betroffen. Die sehr persönlichen Tagebucheinträge der Mädchen machen deutlich, wie sehr sie es gehasst haben, mit der Schwester auf ewig verbunden zu sein und kein "normales" Leben führen zu können. Unvorstellbar, niemals im Leben eine Rückzugsmöglichkeit zu haben und niemals allein sein zu können. Doch genau das hatte das Leben für die siamesischen Zwillinge vorgesehen.

    Ekaterine Togonidze gelingt es, die Persönlichkeiten der beiden Mädchen in den Vordergrund zu stellen. Würde man das Handicap der beiden nicht kennen, hätte man zwei pubertierende Schwestern vor Augen, die sich gern in die Haare kriegen. Die Gefahr bei einem Roman über dieses Thema ist, dass man sich als Leser in der Rolle des Voyeurs wiederfindet. Doch indem die Autorin sich auf die unterschiedlichen Persönlichkeiten der beiden Schwestern konzentriert, wird die Behinderung zur Nebensache. Vielmehr tritt die Gefühlsebene in den Vordergrund: das Unglücklichsein der Mädchen, die Angst vor der Außenwelt, die Träume von einem "normalen" Leben, das Ausgeliefertsein im Zirkus. Die Gefühlsebene überträgt sich auf den Leser, so dass man nicht anders kann, als mit Betroffenheit zu reagieren.

    Ein großartiges Buch, über ein ungewöhnliches Thema, das mich teilweise sprachlos und betroffen gemacht hat und mich sicher noch lange beschäftigen wird. Leseempfehlung!

    © Renie