Eines Tages wird es leer sein

Buchseite und Rezensionen zu 'Eines Tages wird es leer sein' von Hugo Lindenberg
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Inhaltsangabe zu "Eines Tages wird es leer sein"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:168
EAN:9783960543114

Rezensionen zu "Eines Tages wird es leer sein"

  1. Tief beeindruckendes Debüt

    REZENSION – Es ist wahrlich nicht der erste Roman über die in der nächsten und übernächsten Generation noch nachwirkenden, durch Holocaust oder Flucht und Vertreibung erlittenen Traumata jüdischer Familien. Doch der nur 168 Seiten kurze Debütroman „Eines Tages wird es leer sein“ des französischen Journalisten Hugo Lindenberg (45), im März auf Deutsch in der Edition Nautilus veröffentlicht, verschafft sich durch die Figur seines erst zehnjährigen Erzählers, durch die der Einsamkeit dieses Jungen angepasste Sprache – in der deutschen Ausgabe ein Verdienst der Übersetzerin Lena Müller – sowie durch die einerseits empathische, andererseits auch beklemmende Atmosphäre der Geschichte eines Sommererlebnisses am Strand der Normandie eine gewisse Alleinstellung in diesem Genre. Völlig zu Recht wurde „Eines Tages wird es leer sein“ in Frankreich von Radiohörern mit dem Prix Livre Inter, von einer Jury als “schönster Roman des Frühlings“ mit dem Prix Françoise Sagan sowie mit zwei weiteren Literaturpreisen ausgezeichnet.
    Lindenberg lässt einen zehnjährigen Jungen vom Strandurlaub mit Großmutter und Tante in den späten 1980er Jahren erzählen. Am Strandleben nimmt er nur als Beobachter teil. Er spielt allein, wie er es als elternloses Kind gewohnt ist, ausgegrenzt von seiner Umwelt. Aus dieser intuitiv selbst gewählten Isolation holt ihn nach ein paar Tagen der gleichaltrige Baptiste – ein „richtiger Junge“ mit einer „richtigen Familie“. Der Erzähler ist von dessen Unbekümmertheit und Unbeschwertheit fasziniert. Er nimmt darin etwas Besonderes wahr, das ihm selbst fehlt. Umgekehrt empfindet auch Baptist seine neue Urlaubsbekanntschaft bald als Besonderheit: „Ich habe noch einen Freund, der ist Jude. … Ihr habt's gut, ich bin gar nichts.“
    Baptist nimmt den Erzähler mit zu sich nach Hause, wo er von dessen Mutter liebevoll aufgenommen wird. Der Junge, ohne Erinnerung an eigene Eltern – vom Vater ist nichts zu erfahren, der Selbstmord der Mutter wird vor ihm verschwiegen –, entwickelt zu ihr eine enge Beziehung. Ihm wird wohl jetzt erst bewusst, welches Familienglück ihm alle Jahre fehlte: „Kinder, die bei den ersten Sonnenstrahlen sonntags das elterliche Bett entern und sich unter die Fittiche der Familie flüchten. 'Fittiche', dieses seltsame Wort, das … wahrscheinlich von Liebe, Zärtlichkeit und fröhlichen Küssen erzählen soll. … Bei uns gibt es keine Fittiche und kein Kind. Es gibt nur Überlebende, die zwischen Geistern umherirren“ - die Geister der im Holocaust ermordeten Angehörigen.
    Der Junge schämt sich vor Baptiste für seine Großmutter, die, vor Jahrzehnten aus dem polnischen Łódź vertrieben, immer noch mit hartem Stetl-Akzent spricht und damit gegenüber Baptiste zugleich auch seine eigene Andersartigkeit offenbart. Sie scheint sich mit intensiver Hausarbeit von Erinnerungen und ihrem Trauma ablenken zu wollen. Der Junge schämt sich auch für seine Tante, die mit ihrem Leben nicht klarzukommen scheint und alle Tage als Kettenraucherin allein in ihrem Zimmer bleibt. Von derart traumatischer Atmosphäre ist der zehnjährige Erzähler, der immer noch nachts ins Bett macht, geprägt. Ihm fehlt nicht nur eine „richtige Familie“, sondern er hat nie eine unbeschwerte Kindheit erleben dürfen. Ihm fehlt das „richtige Leben“ eines Zehnjährigen, eine aus kindlicher Unschuld entwickelte eigene Persönlichkeit und das natürlich gewachsene Selbstbewusstsein einer eigenen Identität. Hat Hugo Lindenberg wohl deshalb seinem jungen Protagonisten keinen Vornamen gegeben?
    Es ist diese Stimmung, diese eigenartig beklemmende Atmosphäre der Geschichte, aber andererseits auch die Bewunderung für den kindlichen Erzähler, der, auf sich allein gestellt, mit allen Widrigkeiten umzugehen vermag, was den Roman in gewisser Weise spannend und so lesenswert macht. Mag sein, dass Hugo Lindenberg seine Geschichte vor allem deshalb so besonders authentisch aus Sicht eines Zehnjährigen erzählen konnte, weil er vielleicht selbst als 1978 geborener Enkel polnisch-jüdischer Immigranten Ende der 1980er Jahre als Kind ähnliche Empfindungen hatte und vergleichbare Erfahrungen machen musste …..

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