Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe

Buchseite und Rezensionen zu 'Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe' von Doris Knecht
3.85
3.9 von 5 (13 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe"

Sie ist die Tochter, die stets unsichtbar war neben ihren braven, blonden Schwestern. Sie ist die alleinerziehende Mutter, die sich stets nach mehr Freiheit und Unterstützung sehnte. Sie ist die Überempfindliche, die stets mehr spürte als andere. Sie ist jemand, der Veränderungen hasst. Doch irgendetwas muss geschehen. Denn ihre Kinder sind im Begriff auszuziehen, und sie muss sich verkleinern, ihr altes Leben ausmisten, herausfinden, was davon sie behalten, wer sie in Zukunft sein will. Wie ist es, wenn das Leben noch einmal neu anfängt? Doris Knechts neuer Roman ist die zutiefst menschliche und intime Selbstbefragung einer Frau, die an einem Wendepunkt steht. Sie versucht, die Wahrheit über sich selbst herauszufinden. Und zugleich weiß sie, dass ihr das niemals gelingen wird.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:240
Verlag: Hanser Berlin
EAN:9783446278035

Rezensionen zu "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe"

  1. Das Leben ausmisten

    Wie geht es weiter, wenn die Kinder aus dem Haus sind? Sie, Anfang 50 und Autorin, steht nun vor der Situation, die bisherige Wohnung räumen zu müssen, und mistet dabei auch ihr Leben aus.

    „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“ ist ein Roman von Doris Knecht.

    Meine Meinung:
    Der Roman umfasst zahlreiche, sehr kurze Kapitel. Erzählt wird im Präsens in der Ich-Perspektive aus der Sicht der namenlosen Protagonistin, chronologisch, jedoch mit diversen Rückblenden.

    In sprachlicher Hinsicht hat mich der Roman überzeugt. Der Schreibstil ist unaufgeregt, aber atmosphärisch. Mal ist der Erzählton melancholisch, mal selbstironisch.

    Die Protagonistin wirkt lebensnah. Ihre Ambivalenz und Widersprüchlichkeiten machen sie zu einem interessanten und sehr menschlich erscheinenden Charakter. Obgleich man ihre Gedanken und Gefühle scheinbar ungefiltert erfährt, blieb mir die Protagonistin zum Teil ein bisschen fremd.

    Inhaltlich verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Autofiktion ein wenig. Aufgeworfen wird die Frage, wie subjektiv und unverfälscht die eigenen Erinnerungen sein können. Es geht aber auch ums Altern, Loslassen, Verluste, Veränderungen, Mutterschaft und einiges mehr. Um Tabuthemen, die ich hier nicht vorwegnehmen möchte, wird ebenfalls kein Bogen gemacht.

    Während ich mich in den ersten Kapiteln noch prima unterhalten gefühlt habe, hat mich der Roman zunehmend verloren. Auf den knapp 240 Seiten häuften sich im weiteren Verlauf die Passagen, die ich als langatmig oder zu banal empfunden habe.

    Der paradox anmutende Titel des Romans gefällt mir sehr gut. Das Cover passt zwar nicht schlecht, spricht mich leider jedoch gar nicht an.

    Mein Fazit:
    Mit „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“ hat Doris Knecht einen durchaus lesenswerten Roman geschrieben, der mich allerdings nicht in allen Punkten komplett überzeugt hat.

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  1. Auf dem Weg zu sich selbst

    Die österreichische Schriftstellerin Doris Knecht schreibt in ihrem neuen Roman "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" über ihre Selbstfindung an einem entscheidenden Wendepunkt ihres Lebens: dem Auszug ihrer Zwillinge. Grundsätzlich ist das eine interessante Thematik, die viele Frauen in der Mitte ihres Lebens betrifft. Ich selbst gehöre dieser Zielgruppe nicht an. Dennoch kann ich gut nachvollziehen, dass der Auszug der eigenen Kinder für Eltern und insbesondere alleinerziehende Mütter, die lange Zeit zum Wohl der Kinder komplett zurückgesteckt haben, ein gravierender Einschnitt sein muss. Für manche mag kurzfristig sogar der Sinn des Lebens in Frage stellen, denn wenn man sich zeitlebens für die Kinder aufgeopfert hat und quasi gar kein "eigenes" Leben hatte, wie mag es sich dann anfüllen, von jetzt auf gleich alleine da zu stehen? Ganz ohne die Kinder, den bisherigen Lebensmittelpunkt? Ich stelle mir ein riesiges Loch vor, in das man hinab zu stürzen droht in eine völlige Leere. Nur eine blitzschnelle Neurorientierung verspricht hier wohl eine Rettung. Doch was, wenn man alles vergessen hat? Wenn man auch nicht mehr unterscheiden kann zwischen "richtiger" und "verfälschter" Erinnerung? Dann fehlt ein Anhaltspunkt, wohin die Reise gehen könnte. Soweit finde ich das Thema sehr interessant. Ich wünschte, ich hätte der Lektüre mehr abgewinnen könnnen, doch leider erschien mir Vieles so belanglos. Erinnerungen reiht die Autorin aneinander. Vieles schildert sie sehr ausufernd, andere Aspekte bleiben uns komplett verborgen. Mir ist nicht klar geworden, was die Botschaft des Romanes ist. Vielleicht die Tatsache, dass mit dem Auszug der Kinder das Leben nicht endet und es, scheine es anfangs auch noch so trostlos und schwierig, die Chance eines Neubeginns gibt?

    Tatsächlich überwiegen anfangs Passagen, die die Herausforderung der anstehenden Veränderungen betreffen, während es später eher um eine "neue" Lässigkeit des Lebens geht, die auch ihren Reiz zu haben scheint- trotz Lamentierens der Kinder. Für mich macht es am meisten Sinn, den Roman als Geschichte der eigenen Selbstfindung, einer Neuerfindung des Selbst zu lesen. Mit Knecht mitfühlen konnte ich leider dennoch nur begrenzt. Mir stößt an manchen autobiographisch angehauchten Geschichten immer wieder auf, dass ich das Gefühl habe, quasi als Auffangbehältnis für die Sorgen und das Leid der AutorInnen benutzt zu werden. Für einen Roman ist mir das allein zu wenig - selbst bei interessanter Grundthematik. Da Knecht aber durchaus schreiben kann, würde ich es zu gegebenem Zeitpunkt nochmals mit einem anderen Werk von ihr probieren.

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  1. 4
    05. Sep 2023 

    Wenn die Kinder ausziehen...

    Die namenlose Ich-Erzählerin gewährt hier in vielen kleinen Episoden einen Einblick in ihre derzeitige Lebenssituation. Die Kinder, Zwillinge, wollen nach der Matura ausziehen, sie selbst wird dann als alleinstehende Frau die große Wohnung mitten in Wien nicht mehr halten können.

    "Die Kinder werden bald nicht mehr da sein, also nicht in der Wohnung. Sie sind bald fertig mit der Schule, sie sind erwachsen, sie werden ausziehen. (...) Die Wohnung ohne die Kinder ist zu groß für mich und viel zu teuer. Ich muss entweder jemanden finden, der mit einzieht, oder ich werde umziehen müssen. Ich hasse Veränderungen, aber irgendwas muss geschehen."

    Groß sind die Bedenken, womöglich in das Empty-Nest-Syndrom zu verfallen, sich nicht entscheiden zu können, wie es weiter geht, die Perspektive zu verlieren. Die Ich-Erzählerin beginnt auszumisten - ihre Sachen, ihre Erinnerungen, ihr Leben. Die Wohungssuche gestaltet sich schwierig, und doch geht es der alleinerziehenden Mutter in diesem Roman nicht wirklich schlecht. Sie hat ein kleines Haus auf dem Land, in dem sie schon seit Jahren viele Wochenenden verbringt, und sie besitzt in Wien zudem eine Einraum-Wohnung, in die sie sich früher zum Schreiben zurückgezogen hat und die nun seit Jahren vermietet ist - wie Doris Knecht selbst ist auch die Ich-Erzählerin des Romans eine Autorin. Überhaupt scheint es im Leben der beiden viele auffällige Parallelen zu geben, insofern kann man den Roman wohl auch als Autofiktion bezeichnen.

    Es bleibt wohl nicht aus, dass man an solch einem Scheideweg auch Bilanz zieht. Wo stehe ich im Leben, wie kam ich dahin, wie soll es weitergehen? Was hier womöglich etwas schwermütig klingt, wird jedoch meist recht locker erzählt, Lebenserinnerungen und die aktuelle Situation werden dabei gleichermaßen beleuchtet. So kristallisieren sich Lebensthemen heraus, wie z.B. der dringende Wunsch, sich vom Frauenbild ihrer Elterngeneration abzugrenzen. Auch wenn Erinnerungen zuweilen trügerisch sind und zu den Dingen gehören, die man durchaus verlieren kann, helfen die Rückblenden der Ich-Erzählerin herauszufinden, was sie wirklich will.

    Für mein Empfinden gerieten manche Passagen doch sehr selbstmitleidbehaftet, was mich in der Summe zwischendurch durchaus störte. Glücklicherweise lockerte die Autorin das Ganze dann oft durch einen leisen Humor wieder auf. Manches wurde nur angedeutet und angerissen, wodurch nicht alle offenbar bedeutsamen Aspekte in der Tiefe behandelt wurden, die sie wohl verdient hätten. Dennoch gelingt es der Ich-Erzählerin letztlich, sich mit den Veränderungen nicht nur zu arrangieren, sondern mit ihrem Leben auch Frieden zu schließen.

    Und das ist etwas, das sich doch wohl jede:r auch für sich selbst erhofft...

    Ein Roman, den ich nicht ungern gelesen habe, der aber auf meiner persönlichen Liste der vergessenen Dinge womöglich auch einen Platz findet. Kein Roman also, der sich bei mir nachhaltig ins Gedächtnis gräbt... Dennoch bin ich jetzt neugierig geworden auf weitere Romane von Doris Knecht, denn der locker-saloppe Schreibstil sagt mir durchaus zu...

    © Parden

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  1. Was geschieht, wenn die Kinder ausziehen?

    Doris Knecht scheint sich in diesem Roman etwas von der Seele zu schreiben, denn ihre Protagonistin scheint viel mit ihr gemeinsam zu haben.
    Wir erleben eine Frau in der Mitte ihres Lebens, die vor einer großen und einschneidenden Veränderung steht. Die beiden Kinder sind erwachsen, werden in Kürze ausziehen, die Ehe ist schon lange geschieden. Sie wird nun alleine leben müssen, und obendrein die Wohnung aufgeben müssen, die so viele Erinnerungen birgt. Noch dazu war sie, trotz der Größe recht günstig, und Wohnraum kostet mittlerweile enorm viel. Nun muss sie überlegen was ihr wichtig ist, was soll mit? Was kann mit, denn für alles wird sich so oder so kein Platz finden.
    Bei diesen ganzen Überlegungen erinnert sie sich an viele verloren gegangenen Dinge, reist dabei auch in die Vergangenheit, und überdenkt vieles erneut.
    Das hat mir sehr gut gefallen an diesem Buch, man kann mit diesen Sorgen und Ängsten sehr gut mitgehen, nachvollziehen, dass man so denkt und fühlt.
    Was mich allerdings oft ein wenig irritiert hat ist die Tatsache, dass sie sich ansonsten oft an banalen Dingen festhält, und nicht in die Tiefe geht. Da hätte ich mir manchmal mehr Einblick gewünscht. Außerdem sind viele ihrer Sorgen, wie die Geldnot, nicht ganz glaubhaft, wenn man dann liest, dass sie ein Häuschen im Grünen und eine Werkstatt hat, die sie zum Schreiben angemietet hat, und später untervermietet hat.

    Das Gesamtkonzept hat mir aber dennoch gefallen, es ist ein kurzweiliger Roman, der nicht lange nachklingt, aber ich glaube, er sollte auch gar kein tiefgründiges Werk werden. Er soll aufzeigen wie es für Mütter ist, wenn sie an dem Punkt angelangt sind, wo sie ihre erwachsenen Kinder loslassen müssen. Der Weg der Selbstfindung ohne den zu umsorgenden Anhang. Da ist der Autorin definitiv gelungen!

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  1. Wie wahr sind Erinnerungen?

    Die Erzählerin in diesem Roman ist nicht mehr ganz jung. Ihre Zwillinge Mila und Max haben gerade die Matura bestanden und damit nähert sich der Zeitpunkt, da sie die elterliche Wohnung verlassen werden. Damit aber stehen auch für die Erzählerin selbst Veränderungen an, denn sie wird die Miete für die Wohnung nicht mehr tragen können. Doch eine kleinere Wohnung bedeutet auch, dass sie sich von vielen Dingen trennen muss. Aber sie mag keine Veränderungen und doch ihr bleibt keine Wahl – und so können wir sie bei ihren Erinnerungen und Entscheidungsprozessen begleiten.

    Erinnerungen sind immer subjektiv. Der Erzählerin, die keinen Namen hat, ist dies bewusst. Sie versucht sicher Wahrheit zu nähern und ahnt doch, dass sie diese Wahrheit über sich nicht finden wird. Dabei kreisen ihre Gedanken oft um Nebensächlichkeiten, während wir über sie und ihre Familie nicht besonders viel erfahren. Außerdem springen ihre Gedanken zwischen den Zeiten hin und her.

    Oft hatte die Erzählerin einen jammernden Ton. Sicherlich war ihre Kindheit in dieser Familienkonstellation nicht leicht, aber ich hatte den Eindruck, als hätte sie auch nie um Beachtung gekämpft. Sie hat ihre Familie sehr früh verlassen, um Freiheit zu erlangen. Auch wenn nicht alles ganz gerade verlaufen ist, so hat sie doch ein geregeltes gutes Leben. Sie braucht Nähe, ist aber auch sehr gerne mit sich allein. Vielleicht ist das der Grund, dass sie ihren Kindern gegenüber doch recht kühl ist, wie ich finde. Wirklich warm geworden bin ich mit dieser Frau nicht.

    Was mir allerdings gut gefallen hat, ist der wunderbare und humorvolle Schreibstil der Autorin Doris Knecht, der sich gut und leicht liest.

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  1. Ballast abwerfen für einen Neubeginn

    Eine Frau in den 50er macht Inventur.
    Anlass ist, wie in so vielen Familien, der Auszug der Kinder in ihre eigenen Wohnungen. Dieser Auszug wird, das wird der Ich-Erzählerin klar, auch dazu führen, dass sie die teure Familienwohnung aufgeben und in eine kleinere Wohnung ziehen wird. Insofern erlebt die Ich-Erzählerin diese Ereignisse als tiefe Zäsur in ihrem Leben, und sie nutzt diese Zäsur, Bilanz zu ziehen und eine Inventur ihres Lebens zu machen.

    Anhand von Fotos, Briefen, Erinnerungen ihrer Eltern und Geschwister und eigener Erinnerungen konstruiert sie ihre Vergangenheit. Dabei erkennt sie, wie sehr jede Erinnerung subjektiv gefärbt ist und sie daher nur sehr eingeschränkt dazu taugt, eine belastbare, d. h. eine nachprüfbare Vorstellung der Wirklichkeit zu konstruieren. Der Historiker würde sagen: sie erkennt die Subjektivität der Geschichtsschreibung für ihr privates Leben.
    Und folgerichtig betreibt sie Quellenkritik, d. h. sie überdenkt auch ihre eigenen Erinnerungen an ihre Kindheit, an ihre Position innerhalb der Geschwisterreihe sowie an ihr Verhältnis zu den Eltern und revidiert manche Urteile. Sehr passend hat die Autorin daher ein Vorwort von Virginia Woolf gewählt:

    „Ich ist nur ein brauchbares Wort für jemanden, den es nicht wirklich gibt.“

    Ihre Inventur streift viele Seiten ihres privaten Lebens. Sie wird durch den Auszug der Kinder erinnert an ihren eigenen Aufbruch, und auch das Aussortieren vieler Gegenstände ruft Erinnerungen in ihr wach. Sie reflektiert die Frauenbilder ihrer und der der Mutter-Generation, erinnert sich an die Bürde an Verantwortung einer alleinerziehenden Mutter und bedenkt mit etwas Wehmut die Jahre mit den beiden Kindern. Dazu kommen Erinnerungen an Liebessachen, WG-Erfahrungen, Wohnungswechsel, Freunde/Freundinnen, Möbelkäufe und vieles mehr.

    Diese Erinnerungen werden in vielen kurzen Kapiteln und Kapitelchen präsentiert, die sich, vordergründig betrachtet, zusammenhanglos bzw. oft nur assoziativ aneinanderreihen. Der innere Zusammenhang ist aber durchaus gegeben. Wie ein roter Faden zieht sich das Thema des Neubeginns durch das Buch. Die Räumung der Wohnung, verbunden mit der Inventur ihres Lebens empfindet die Erzählerin als Abwerfen von Ballast, als Befreiungsschlag, als eine Chance für einen Neubeginn.

    Und noch eine zweite rote Linie gibt es, ein zweites Kontinuum: das ist der Hund, dem das erste Kapitel und dann auch das letzte Kapitel gewidmet ist. Und auch der Hund ist am Ende glücklich und zufrieden, auch er hat sich von Ballast befreit: er übersteht nämlich nun die Fahrten ins Haus auf dem Land ohne Erbrechen.

    In diesen Themen können sich sicher viele Leser, v. a. Leserinnen wiederfinden, wenn nicht zu viel zu unscharf geblieben wäre, nur oberflächlich abgehandelt worden wäre oder umgekehrt Banalitäten wie der Länge eines Tischs zu viel Raum gegeben worden wäre. Einen Grund für diese Unausgewogenheiten sehe ich in der Konstruktion des Buches: die Ich-Erzählerin und die Autorin gehen nämlich eine sehr enge Allianz ein, und dieses Irrlichtern führt zu inhaltlichen Unverbindlichkeiten.

    Beeindruckend fand ich auf alle Fälle Doris Knechts Sprachtalent: fließend, treffsicher, witzig, originell, immer elegant, und immer ein leichtes Augenzwinkern wegen der menschlichen Schwächen ihrer Mitmenschen.

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  1. 4
    07. Aug 2023 

    Bilanz und Ausblick

    „ Ich habe beschlossen, über mein Leben zu schreiben, mein Aufwachsen und mein Fortgehen, und schon ist es ein Krampf.“
    Das ist der Plan, der namenlosen Ich- Erzählerin, doch so ganz einfach scheint es nicht zu sein.
    Anlass für dieses schriftliche Resümee ist der bevorstehende Auszug der beiden erwachsenen Kinder. Die Zwillinge Max und Mila wollen nach der Matura aus der mütterlichen Wohnung ausziehen und das bedeutet für die alleinerziehende Mutter ( der Vater „ verschwand“ schon früher „ aus dem Bild“), dass sie sich die bisherige große Wohnung nicht mehr leisten kann. Sie muss sich verkleinern, d.h. sie muss aussortieren, sich von alten Gegenständen trennen. Dabei kommen Erinnerungen an Vergangenes hoch, wobei man der Erzählerin nicht immer trauen kann. Sie selbst ist sich ihrer Unzuverlässigkeit bewusst. „ Die Frau, über die ich schreibe, gibt es nicht. Sie ist ein Konstrukt, zusammengesetzt aus Erinnerungen, viele davon fehlerhaft, aus Selbstüberhöhung und Selbsthass, aus Erzählungen von anderen, aus Bildern in Fotoalben.“
    Aber nicht nur die aussortierten Relikte sind Anstoß für einen Rückblick, sondern auch Vorkommnisse aus der aktuellen Gegenwart. Der Auszug der Kinder lässt die Ich - Erzählerin an ihr eigenes Aufbrechen aus dem Elternhaus denken, an erste Wohnungen, WG-Erfahrungen, an Mitbewohner, an Affären und Liebschaften usw.
    Dabei ist sie mal sehr geschwätzig, dann wieder lässt sie manches im Ungefähren.
    Eine neue Bleibe zu finden ist nicht so leicht, v.a. wenn man bestimmte Erwartungen an Lage und Ausstattung hat. Allerdings ist die Situation der Ich- Erzählern, trotz Jammern, nicht so prekär wie bei manchen Alleinerziehenden. Es findet sich für ihr Problem eine befriedigende Lösung.
    So eine Zäsur ist aber auch Anlass, eine Bestandsaufnahme zu machen und Bilanz zu ziehen. Wo stehe ich? Wie bin ich dahin gekommen? Wie wird es weitergehen ?
    Für Doris Knecht ist dies eine Möglichkeit, Frauenbilder zu hinterfragen. Schon als Jugendliche weiß die Ich- Erzählerin , dass das in ihrem Dorf vorgelebte Modell für Frauen nicht das Richtige für sie ist. Deshalb zieht es sie gleich nach der Schule in die weit entfernte Großstadt. Sie vergleicht ihr Leben mit dem ihrer Mutter und stellt fest, dass zwar wenig ( zwanzig ) Jahre zwischen ihr und ihrer Mutter liegen, aber die Gemeinsamkeiten sind geringer als mit ihren Kindern, von denen sie mehr ( fünfunddreißig ) Jahre trennt.
    Doch haben die neuen Freiheiten nicht auch Probleme geschaffen?
    Die Autorin beleuchtet das Thema Mutterschaft von vielen Seiten, Schwangerschaft, Geburt, zeigt auch auf, was es bedeutet, alleinerziehend zu sein. Es liegt nicht nur die ganze Arbeit auf ihr, sondern auch die „ ungeheure Last der Verantwortung“. Jede Entscheidung muss allein getroffen werden, mit den Konsequenzen muss sie leben.
    Sie will jedoch als Single- Frau nicht als Mängelwesen betrachtet werden. Und sie wehrt sich gegen die Vorstellung, dass eine Mutter nichts mehr wert ist, wenn die Kinder aus dem Haus ist. Sicher schwingt Wehmut mit, wenn man zurückdenkt, wie es war, als die Kinder noch klein waren. Doch diese Zeiten sind eh unwiederbringlich vorbei. „ An jedem Tag, an dem sie älter werden, verliert man die, die man am Tag davor hatte. Manchmal vermisse ich sie.“
    Der Auszug der Zwillinge ist für die Ich- Erzählerin kein Grund zu Depressionen, sondern die Chance auf einen Neubeginn. Sie freut sich und sieht die positiven Aspekte des Alleinseins. Nicht umsonst hat Doris Knecht ein Zitat aus Virginia Woolfs Essay „ Ein Zimmer für sich allein“ dem Buch vorangestellt.
    Das Buch ist eingeteilt in sehr viele, oft sehr kurze Kapitel ; dabei springt die Autorin zwischen den Zeiten. Assoziativ werden Episoden mit Reflexionen verknüpft. Auch wenn sich dabei manche Belanglosigkeiten dazwischen schieben, sind es doch immer wieder Überlegungen, die den Leser innehalten lassen und selbst zum Nachdenken anregen. So z.B. wenn die Ich- Erzählerin auf den Unterschied zwischen Solitude und dem deutschen „ Einsamkeit“ eingeht. Oder wenn von veränderten Rollenbildern die Rede ist.
    So sperrig wie der paradoxe Titel daherkommen mag, so leicht liest sich der gesamte Text. Doris Knecht kann mit Sprache umgehen. Sie schreibt ehrlich und selbstironisch, mit Witz und Gefühl.
    Auch wenn die namenlose Ich- Erzählerin viele Parallelen zur Autorin Doris Knecht aufweist, so ist doch viel Fiktion in den Text eingeflossen. Der Leser mag sich deshalb öfter fragen, ob das Geschriebene der Realität entspricht oder ob hier maßlos übertrieben wird. Doris Knecht spielt auch ganz bewusst mit der Erzählperspektive. So z.B. wenn sich die eine Tochter dagegen verwahrt, zu einer literarischen Figur zu werden. Da wird dann einfach aus Luzi Max.
    Nicht alles, was die Ich- Erzählerin sagt und tut, konnte ich nachempfinden. Manches war befremdlich, bei anderen Dingen fühlte ich mich bewusst auf Distanz gehalten.
    Trotzdem ist „ Die vollständige Liste…“ eine unterhaltsame Geschichte über eine Frau in der Lebensmitte, ein Plädoyer fürs Loslassen und von den Chancen, die eine Veränderung eröffnen. Das Buch spricht wohl vor allem Frauen an in einer vergleichbaren Position. Sie werden sich in vielem wiederfinden können.

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  1. Neuorientierung im Leben anhand von Erinnerungen

    Da habe ich mit der Rezension ein bisschen zu lange gewartet und stelle fest: das Buch hat keinen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen, höchstens die Frage: Sollte ich auch mal einfach dieses und jenes aus meinem Leben aufschreiben, ungeordnet, so wie es mir einfällt, alle diese Banalitäten, die aber ein Leben ausmachen?

    Wir lernen die Ich-Erzählerin kennen, eine alleinerziehende Mutter von Zwillingen, eine Frau mittleren Altes, die sich in einer Umbruchphase befindet, denn die fast erwachsenen Kinder werden in absehbarer Zeit ausziehen und die Mutter in einer viel zu großen und zu teuren Wohnung zurücklassen.

    Damit befinden sich alle einer 'Zwischenwelt', Max und Mila zwischen Kindheit und Erwachsenwerden, die Mutter zwischen erwachsen und alt. Es geht allen Menschen so, dass irgendwann eine Neuorientierung ansteht und man sich von diesem und jenem trennen muss, nicht nur von Dingen, von Wohnungen, sondern auch von Erinnerungen. Diese lässt die Ich-Erzählerin zeitlich ungeordnet Revue passieren, wobei ihr bewusst ist, dass manches verschwommen oder falsch erinnert wird, vieles verfälscht erinnert wird, aber immerhin: Sie erhofft sich davon Erkenntnisse, wie sie ihr weiteres Leben gestalten soll. Das geht parallel mit realem Sortieren und 'Ausmisten' einher; man muss sich nicht nur von Erinnerungen, sondern auch von Dingen trennen und neue Perspektiven erkennen.

    Was mich ein wenig gestört hat: die Widersprüchlichkeit der Ich-Erzählerin. Natürlich muss ich eine Person nicht mögen, aber ich habe doch recht häufig den Kopf schütteln müssen: sie beklagt sich über ihre Kindheit (ältere Schwester von zwei Zwillingspaaren), kommt aber zu der Einsicht, dass ihr Leben im Elternhaus doch positiv zu bewerten ist; sie klagt über Finanzielles, hat aber eine kleine Wohnung und ein Häuschen auf dem Lande. Luxusprobleme. Und da gäbe es noch einiges mehr, über das man den Kopf schütteln könnte... Am Ende hat sie alles organisiert, hat sich eingerichtet und das Leben plätschert weiter vor sich hin, mit Kinderbesuchen und Hund.

    Ihre Erinnerungen und Neuorientierungsversuche sind im Großen und Ganzen leicht und locker zu lesen, aber manche Banalitäten (z.B. die Erörterung der Größe des Tisches, S. 162) hätten nicht in dieser Ausführlichkeit beschrieben werden müssen.

    Fazit
    Ein nettes Buch für zwischendurch.

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  1. Eine alleinerziehende Mutter im Umbruch

    Wenn die erwachsenen Kinder ausziehen, beendet das auch für Eltern einen Lebensabschnitt, den Alleinerziehende gewiss noch einschneidender empfinden werden als Paare. Die Ich-Erzählerin lässt uns diesbezüglich teilhaben an ihrem Leben, an Gedanken, Erinnerungen und Gefühlen, in denen sich viele gleichaltrige Leserinnen wiederfinden können. Für die Protagonistin erschwerend kommt hinzu, dass sie sich mit dem Auszug der Kinder ihre seit Jahren bewohnte Wohnung nicht mehr wird leisten können. Es stehen also tiefgreifende persönliche Veränderungen an.
    „Die Frau, über die ich schreibe, gibt es nicht. Sie ist ein Konstrukt, zusammengesetzt aus Erinnerungen, viele davon fehlerhaft, aus Selbsterhöhung und Selbsthass, aus Erzählungen von anderen, aus Bildern und Fotoalben.“ (S. 88)

    Die Ich-Erzählerin ist also eine Mischung aus der Autorin selbst (die Parallelen sind offensichtlich) und einer fiktionalen Figur. Dieses Konstrukt bleibt für mich leider auf Distanz. Ich kann die namenlose Protagonistin schwer greifen. Sie stellt sich zwar selbst eindeutig in den Mittelpunkt, jedoch werden bedeutsame Erinnerungen (z.B. Abtreibung, „die Sache“, Trennungen) nur sehr oberflächlich behandelt. Immer, wenn es persönlich wird, muss man sich mit Andeutungen zufrieden geben, selten geht es ans Eingemachte – wahrscheinlich zum Schutz der Privatsphäre sowie der nächsten Angehörigen. Aus den Leerstellen ergibt sich aber auch Freiraum für eigene Reflektionen.

    Die einzelnen Kapitel sind kurz. Doris Knecht ist eine brillante Erzählerin, deren Geschichten über Esprit verfügen. Gewiss kommt ihr ihre Erfahrung als Kolumnenschreiberin für verschiedene Zeitungen zu Gute. Während sich die Ich-Erzählerin in der Gegenwart mit Wohnungssuchen, Renovierungen und Umzug beschäftigen muss, gleiten ihre Gedanken immer wieder in die Vergangenheit ab, in die Zeit der eigenen Kindheit, in der sie sich in der Familie als Außenseiterin fühlte, dann zum eigenen Auszug, als sie das Bedürfnis hatte, möglichst weit weg vom Elternhaus zu kommen, bis hin zu Liebesbeziehungen, Freundschaften und Brüchen im Leben. Dabei gibt sie sich durchaus selbstkritisch: „Meine Mutter hat wahrscheinlich recht: Immer sehe ich die Dinge zu negativ. Oder besser: Ich sehe nur die negativen Dinge, wenn sie an meinem Erinnerungsstrand angespült werden aus einem Meer der Harmonie.“ (S. 84)

    Das Ausräumen und Ordnen ihres Hausrats spült also Rückblicke ins Bewusstsein. In dem Zusammenhang erstellt sie auch die titelgebende Liste. Knechts Ton ist dabei meist leicht und locker mit nur geringer Larmoyanz. Die meisten Episoden lesen sich unterhaltsam. Immer wieder werden humorvolle, (selbst-)ironische oder nostalgische Szenen eingebaut, von denen man sich als Leserin angesprochen fühlt. Es werden alltägliche Begebenheiten literarisch gekonnt aufbereitet. Knecht versteht es, vielen der Erlebnisse eine gewisse Allgemeingültigkeit zu verleihen, indem sie Lebenserfahrung und -weisheit in eindrucksvolle, versonnene Formulierungen kleidet.
    Beispiele:
    „Aber so ist das mit den eigenen Kindern: An jedem Tag, an dem sie älter werden, verliert man die, die man am Tag davor hatte. Manchmal vermisse ich sie.“ (S. 43)
    „Die Erinnerungen an Moritz (…) befindet sich in einem der Erinnerungsräume, die ich schon lange nicht mehr betreten habe. Ein Abstellraum voller Zeug, das man nicht mehr besitzen möchte, aber nicht loswird.“ (S. 109)

    Insgesamt halte ich „Die vollständige Liste aller Dinge …“ für einen empfehlenswerten Roman, der eine große Vielfalt an Gedanken aufgreift, die Eltern in der Lebensmitte (und darüber hinaus) beschäftigen dürften. Wahrscheinlich werden jedem Leser andere Episoden im Gedächtnis bleiben. Auch ich empfand deren Attraktivität unterschiedlich aufgrund der oben genannten Distanz zur Hauptfigur. Durchweg angetan bin ich allerdings vom stilistischen Können der Autorin. Sprachlich empfinde ich ihren Text als ausgefeilt und sehr versiert, so dass ich mich weiterhin neugierig mit ihrem Werk beschäftigen werde.

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  1. Umzugspläne

    Die Kinder ziehen aus, und die Ich-Erzählerin muss sich auf ein Leben allein einstellen. Wer passt auf den Hund auf? Wann wird sie ihre Sprösslinge wiedersehen? Wo soll sie wohnen?
    Das Buch beginnt humorvoll, ohne dabei vulgär zu wirken, mit einem kotzenden Hund. Nach dieser Episode und der Schilderung ihrer Lebensumstände, früher und heute, erstellt die Protagonistin tatsächlich die besagte titelgebende „Liste von Dingen, die ich verloren habe“. Ich klebe fleißig Zettelchen ins Buch und erfreue mich der Eloquenz und des Einfallsreichtums der Autorin.
    Wir lernen die Kinder kennen, erwachsen und noch in einer Wohnung mit ihrer Mutter lebend. Und dann geht es los mit Beschreibungen von Wohnungen, dem Abwägen von Vor- und Nachteilen, der Einordnung von Preis und Lage. „Wohnungen, Häuser, Arbeitsplätze, Städte, Männer, es ist überall dasselbe. Man könnte sich zu früh und falsch entschieden haben und damit das Bessere, das Passendere, das echte Glück verpasst haben.“ Die Zettelchen werden weniger; ich muss mich aufraffen, überhaupt zum Buch zu greifen.
    Es war mein erstes Buch von Doris Knecht, und es bekam schon meine Vorschusslorbeeren überreicht, so überzeugt war ich, dies sei der passende Roman für mich. Der Schreibstil, flüssig und angenehm zu lesen, gefiel mir gut. Was mir fehlte, war eine Entwicklung der Handlung, die immer wieder um das Thema Wohnung kreist. Insofern wurden meine hohen Erwartungen enttäuscht, nicht aber mein Vertrauen, dass es zwischen einem anderen Buch der Autorin und mir doch noch funken könnte.

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  1. Endlich hat man seine Ruhe!

    Kurzmeinung: Jammern oder Jubeln, wenn die Kinder ausziehen?

    Es ist so weit, die Kinder gehen aus dem Haus. Kurz vor und während des Auszugs der Kinder hält die Protagonistin, die ihre große Wohnung aufgeben will und mit ihren Siebensachen in etwas Kleiners zieht, Rückschau. Liebevoll und unaufgeregt erzählt Doris Knecht von einem neuen Lebensabschnitt, der immer auch Loslassen des vergangenen (Er)Lebens beeinhaltet.
    Sie, äh, wer? - ringt innerlich damit, dass von ihr erwartet wird, traurig und verzweifelt zu sein, weil sie „quasi allein“ zurückbleibt und niemand dazu ermutigt, sich auf den neuen Lebensabschnitt zu freuen.

    Der Kommentar:
    Dieser Roman ist einer, mit dessen Figur man sich leicht identifizieren kann, mehr oder weniger erleben alle Eltern den Auszug ihrer Sprößlinge mit gemischten Gefühlen. Diese hohe Identifizerbarkeit spricht unbedingt für den Roman, der mit leisem Humor geschrieben ist.
    Andererseits ist die gewählte Erzählperspektive nicht wirklich hilfreich. Wer spricht hier? Die Autorin oder die Protagonistin, die keinen Namen hat, so dass die Nähe zur Autorin mehr als spürbar ist? Die Verschmelzung von Autobiografischem und Erfundenem tut dem Roman nicht wirklich gut, denn er ist einerseits so hübsch bodenständig und plötzlich schlägt er aus ins Unwahrscheinliche, Unglaubwürdige zuweilen fast bis in Klamaukhaftes. Man merkt die Absicht der Autorin, Aufmerksamkeit zu gerieren, - und man ist verstimmt. Also ich. Auch andere Ungereimtheiten und Unstimmigkeiten kommen gelegentlich vor, insgesamt fallen sie aber kaum ins Gewicht. Wenngleich ich oft denke, Luxusprobleme, Luxusprobleme ...! Nun denn.

    Fazit: Abgesehen von der gewählten Erzähl-Perspektive, die ich in diesem Falle als unglücklich empfinde, ist der Roman mit einem hohen Identifzierungspotential und seiner mit leiser Ironie vorgetragenen Strategie zur Lebensabschnittsbewältigungs durchaus ein paar Lesestunden wert.

    Kategorie: Gute Unterhaltung.
    Verlag: Hanser, 2023

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  1. 5
    25. Jul 2023 

    Selbstironische Neuverortung

    „Ich mag Veränderungen nicht. Ich will, dass alles so bleibt, wie es ist, solange es einigermaßen geht.“

    Nun geht es eben nicht mehr. Die große Familienwohnung ist, nach Jahren des finanziellen Spagats, für eine Alleinverdienerin endgültig zu teuer geworden. Zum Glück sind Sohn Max und Tochter Mila so gut wie flügge, so dass einer Auflösung der Familienwohnung und der Neuorientierung rein faktisch nichts im Wege steht.

    Die Erzählerin muss sich neu verorten – als Mutter und endlich auch wieder als Individuum. Das ist mittlerweile ungewohnt für sie und mit widerstreitenden Empfindungen verbunden. Als erstes, stellt die Erzählerin fest, muss sie sich endgültig von den gesellschaftlichen Erwartungen befreien, die Mütter offenbar in jeder Lebensphase anhaften. Die Aussicht auf ein leeres Nest zum Beispiel hat untröstliche Trauer auszulösen. Aber die empfindet sie nicht. „Ich würde gern an einen Ort heimkommen, der so ist, wie ich ihn verlassen habe, aufgeräumt und still. Ich glaube, ich würde gerne allein leben.“ Aber dann: „Jetzt setzt Mila zum Sprung an, und es triggert mich nun doch eine Angst, von der ich behaupte, dass es sie nicht gibt.“ Schon der wunderbar paradoxe Buchtitel spiegelt die widersprüchliche Gefühlslage der Erzählerin. Und natürlich das allgegenwärtige Thema der Erinnerung.

    Denn während die Erzählerin einen Wust von Dingen sortiert, die verschenkt, verkauft, weggeworfen werden sollen, erinnert sie sich. Jedes Ding holt Bilder, Erlebnisse, Emotionen nach oben. Also doch behalten? Ohne den Trigger des Gegenstandes ist auch die Erinnerung verloren – trennt sie sich von dem Gegenstand, lässt sie einen Teil ihres Lebens los. Schwere Entscheidung, gar nicht trivial: Das war eine der vielen Passagen im Roman, bei denen ich dachte, ja, wie gut ich das kenne – und Knecht bringt es auf den Punkt. Mir gefielen die nüchterne Ehrlichkeit und die völlige Abwesenheit von Sentimentalität in ihren Betrachtungen.

    Besonders berührt haben mich die Kapitel, in denen die Erzählerin ihre Lebensentscheidungen mit denen ihrer Mutter und Schwestern vergleicht, die sämtlich konventionellere Wege eingeschlagen haben. Ihr Fazit zur eigenen Lebenssituation: „… das liegt eben an meiner idiotischen Emanzipiertheit, an meiner Eigensinnigkeit. Ich bin nicht die einzige Feministin, die genauso in diese Totalüberforderung geraten ist. Wir können alles, wir wollen alles dürfen, dann machen wir halt auch alles, und am Ende sind wir kaputt und haben schlechte Laune.“ Ich mag Knechts Selbstironie und ihren trockenen Humor, der auch diesem Roman wieder seinen unverwechselbaren Sound verleiht.

    Der Roman springt in der Zeit hin und her; die Kapitel haben Titel wie Grüne Hügel, Das Bett, Elternhaus oder Doch nicht. Es geht also sehr assoziativ zu – aber immer wieder rekurriert die Erzählerin auf die eigentliche Geschichte, und in der geht es um die Entscheidung, wer sie künftig sein will. Schritt für Schritt gehen wir dabei an ihrer Seite, bis sie in ihrem neuen Leben angekommen ist. Das geschieht ganz unaufgeregt und bleibt dennoch fesselnd bis zum Schluss.

    Haben wir es hier mit Autofiktion zu tun? Mit Sicherheit ist, wie bei jedem Roman, eine Menge gelebtes Leben eingeflossen. Mit hat dieses leise und kluge Buch sehr gefallen.

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  1. 5 Sterne!

    Klappentext:

    „Sie ist die Tochter, die stets unsichtbar war neben ihren braven, blonden Schwestern. Sie ist die alleinerziehende Mutter, die sich stets nach mehr Freiheit und Unterstützung sehnte. Sie ist die Überempfindliche, die stets mehr spürte als andere. Sie ist jemand, der Veränderungen hasst. Doch irgendetwas muss geschehen. Denn ihre Kinder sind im Begriff auszuziehen, und sie muss sich verkleinern, ihr altes Leben ausmisten, herausfinden, was davon sie behalten, wer sie in Zukunft sein will.

    Wie ist es, wenn das Leben noch einmal neu anfängt? Doris Knechts neuer Roman ist die zutiefst menschliche und intime Selbstbefragung einer Frau, die an einem Wendepunkt steht. Sie versucht, die Wahrheit über sich selbst herauszufinden. Und zugleich weiß sie, dass ihr das niemals gelingen wird.“

    Autorin Doris Knecht ist mit „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“ ein grandioses Werk gelungen. Nicht nur mit ihrem klaren und unverblümten Schreibstil lockt sie die (wohl meist weibliche) Leserschaft, sondern sie spricht Themen an, die wohl jede Mutter irgendwie erlebt hat - die Kinder ziehen aus und dann? Hier geht es nicht um die Familie unserer Protagonistin, sondern es geht schlicht und pur um sie selbst. Wer war sie früher, wer ist sie heute, wer wird sie in Zukunft sein? Ihr Leben war stets über andere Aufgaben wie eben das Mutter-sein definiert aber wo blieb sie? Genau an diesem Punkt steht unsere Protagonistin. Es scheint, als sei sie nun nicht nur an einem Wendepunkt, sie scheint auch losgelassen von allen Pflichten und Verpflichtungen und nun dreht sich ihre Welt mal nur rein um sie. Die Kinder sind aus dem Haus (passende Metapher: die Vogelkinder verlassen das Nest), die Wohnstätte ist ihr zu groß (sie scheint sich regelrecht darin zu verlieren, es wird ihr fremd) und sie muss sich verkleinern. Hier gehört auch eine ordentliche „Inventur“ nicht nur des Hausstandes mit dazu, sondern hier geht es auch um das seelische Ausmisten. Hängen wir unsere Erinnerungen zu sehr an Dinge? Allein der Buchtitel ist hier mehr als passend gewählt! Ja, unsere Protagonistin hat „ihre vollständige Liste“ vergessen, sich selbst bei allen Tätigkeiten im Leben vergessen. Doris Knecht geht hier schon teilweise herrlich philosophisch vor und der Leser hat dabei genügend Raum für eigene Gedankengänge und die kommen hier unweigerlich. Das Buch wird als „intime Selbstbefragung einer Frau“ beschrieben und besser kann man es nicht auf den Punkt bringen. Knecht spricht hier so vieles an, was sich viele Mütter wohl nur ungern eingestehen bzw. nicht gern darüber sprechen.

    Fazit: Ein genialer Roman, der an die weibliche Ehrlichkeit appelliert sich selbst nie aus den Augen zu verlieren. 5 Sterne für dieses besondere Werk!

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