Eine allgemeine Theorie des Vergessens: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Eine allgemeine Theorie des Vergessens: Roman' von José Eduardo Agualusa
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4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Eine allgemeine Theorie des Vergessens: Roman"

Es ist eine fantastische und doch ganz und gar wahre Geschichte: Am Vorabend der angolanischen Revolution mauert sich Ludovica, nachdem sie einen Einbrecher in Notwehr erschossen und auf der Dachterrasse begraben hat, für dreißig Jahre in ihrer Wohnung in einem Hochhaus in Luanda ein. Sie lebt von Gemüse, gefangenen Tauben und von einer Hühnerzucht, die sie auf der Dachterrasse wie durch Zauber beginnt, und bekritzelt die Wände in ihrer ausgedehnten Wohnung mit Tagebuchnotaten und Gedichten. Allmählich setzt sich aus Stimmen, Radioschnipseln und flüchtigen Eindrücken zusammen, was im Land geschieht. In den Jahrzehnten, die Ludovica verborgen verbringt, kreuzen sich die Wege von Opfern und Tätern, den Beteiligten an der Revolution, ihren Profiteuren und Feinden. Bis sie alle eines Tages erneut vor der Mauer in dem wieder glanzvollen Apartmenthaus stehen. José Eduardo Agualusa hat mit seinem wunderbaren, dicht und spannend gewobenen Roman, der das Fantastische der Wirklichkeit und eine Art höhere Gerechtigkeit beschwört, unvergessliche Szenen geschaffen, tragisch, komisch, grotesk. Dieser Roman feiert die Kunst des Erzählens selbst.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:197
Verlag: C.H.Beck
EAN:9783406713408

Rezensionen zu "Eine allgemeine Theorie des Vergessens: Roman"

  1. 4
    05. Aug 2017 

    Dreißig Jahre Einsamkeit...

    Ludovica ist eine merkwürdige junge Frau, als die Geschichte beginnt. Sie lebt gemeinsam mit ihrer Schwester und ihrem Schwager in Luanda, in einer großen Wohnung im 11. Stock eines der vornehmsten Häuser der Hauptstadt Angolas. Ludovica lebt nur in diesen vier Wänden, geht niemals raus - und selbst die großzügige Dachterrasse macht ihr Angst, obwohl sich von dort aus ein herrlicher Blick über die Stadt bietet. Ludovicas einziger Freund ist ein weißer Schäferhund, den der Schwager ihr schenkt - und dieser Hund bleibt als einziges bei ihr, als die große Einsamkeit beginnt. Ludovicas Schwester und ihr Mann verschwinden am Vorabend der angolanischen Revolution, und als kurz darauf drei Männer versuchen, in die Wohnung einzudringen, um nach gestohlenen Diamanten zu suchen, erschießt die junge Frau in ihrer Not einen von ihnen. Die Leiche begräbt sie auf der Dachterrasse und beschließt dann, im Gang vor der Wohnungstür eine feste Mauer zu errichten, die sie vor weiteren Gefahren schützen soll.

    Dreißig Jahre dauerte der Bürgerkrieg in Angola - der Entkolonisierungskonflikt mit Portugal, gefolgt von einem Stellvertreterkrieg zwischen dem Ostblock und den Westmächten, anschließend noch ein weiteres Jahrzehnt fortgeführt als innerangolanischer Konflikt um die politische Macht und um den Zugriff zu den wirtschaftlichen Ressourcen des Landes. Dreißig Jahre dauert in diesem Roman auch das Martyrium Ludovicas, denn genau dieses Spanne lang bleibt sie hinter der Mauer und versucht unsichtbar und unhörbar zu bleiben. Die Vorräte gehen zur Neige, Wasser und Strom werden abgestellt, doch Ludo weiß sich auf ihre Art zu helfen. Sie baut Gemüse auf der Dachterrasse an, stellt Tauben Fallen, um sie zu anschließend zu braten, fängt Regenwasser auf und kocht auf offenem Feuer, wobei ihr als Heizmaterial zunächst die Möbel dienen, dann die Holzdielen und später - sehr zu ihrem Leidwesen - die zahlreichen Bücher aus der großzügig bestückten Bibliothek.

    Doch - und dies erstaunte mich erheblich - ging es hier nicht allein um das Schicksal Ludovicas. Der Klappentext ließ dies vermuten, und die Diskussionen in der Leserunde bestätigten, dass nicht nur ich die Erwartung hatte, dass sich das Geschehen ausschließlich um die selbstgewählte dreißigjährige Gefangenschaft Ludivicas drehen würde. Normalerweise habe ich große Probleme damit, wenn ein Roman meine geschürten Erwartungen nicht erfüllt. Doch in diesem Fall gelang es der Erzählung, mich trotzdem zu fesseln. Mit den Handlungssprüngen zwischen einer Vielzahl von Personen, die - egal welcher Organisation sie angehörten - allesamt Gewalt ausübten in der jeweils beruhigenden Annahme, für das Richtige einzustehen, schafft es José Eduardo Agualusa, so ganz nebenher und auf gerade einmal 197 Seiten dieses dunkle Kapitel der Landesgeschichte zu präsentieren.

    "Es gibt Vergangenheiten, die Jahrhunderte überdauern, ohne dass ihnen die Zeit etwas anhaben kann." (S. 145)

    Die Vielzahl an Personen und die häufigen Sprünge verwirrten mich zwar manchesmal - was hatte bloß das eine mit dem anderen zu tun? - aber ich war auch fasziniert von der unglaublichen Erzähldichte. Lakonisch oft der Erzählton, einzelne Szenen in groben Strichen hingeworfen - und doch durchdrungen von einer ganz eigenen Poesie, die mich anrührte. In krassem Gegensatz zu dem Chaos in Angola und seiner Hauptstadt dann die Einsamkeit Ludovicas, die das Vergehen der Zeit in einem Tagebuch festhält und, als es keine Seiten mehr darin gibt, auf den Wänden der Wohnung weiterschreibt.

    "Mir wird bewusst, dass ich meine Wohnung zu einem riesigen Buch gemacht habe. Wenn die Bibliothek verbrannt sein wird, wenn ich gestorben sein werde, wird nur noch meine Stimme da sein. Alle Wände in dieser Wohnung sind mein Mund." (S.82)

    Agualusa schafft schließlich, was ich nicht für möglich gehalten habe. Er schließt den Kreis, führt alle Handlungsstränge zusammen, lässt keine Frage offen - eine wirkliche Kunst. Selbst eine Taube bekommt ihr eigenes Kapitel und schließt damit noch eine Lücke. Und es gelingt dem Autor auch, all die gewalttätigen Vorfälle, die Jahre voller Blut und Krieg, Armut und Gewalt auf eine Art höhere Ebene zu bringen - der Möglichkeit des Vergessens. Denn nur so kann dem Hass Einhalt geboten werden.

    "Ins Paradies kommen Leute, die von anderen vermisst werden. Das Paradies ist unser Platz im Herzen der anderen." (S. 175)

    Eine Allegorie präsentiert der in Angola geborene Autor hier in einem Roman von ungeheurer Erzähldichte - tragisch, komisch, grotesk. Trotz seiner Kürze erfordert das Buch die ungeteilte Aufmerksamkeit des Lesers, da man ansonsten droht, rasch den Faden zu verlieren. Eine Erzählung, die nachhallt und die m.E. zu Recht auf der Shortlist des International Man Booker Prize 2016 sowie des Dublin Literary Award 2017 stand.

    © Parden

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