Ein Wochenende

Rezensionen zu "Ein Wochenende"

  1. Was im Leben wirklich zählt

    Jude, Wendy und Adele sind seit Jahrzehnten enge Freundinnen. Jetzt sind sie über 70 Jahre alt und gehen sehr unterschiedlich mit den Malaisen des Alters um. Sie treffen sich am Weihnachtswochenende in Bittoes, an der australischen Küste, um das Ferienhaus ihrer vor 11 Monaten verstorbenen Vierten im Bunde, Sylvie, auf- und auszuräumen, damit es final verkauft werden kann.

    Sehr schnell wird klar, dass Sylvie für alle ein verbindendes Element darstellte:
    „Das war etwas, über das niemand redete: Wie kleinlich der Tod einen werden lassen konnte. Und dass man sich mit Freunden neu arrangieren und um die Lücke herumschleichen musste, die der oder die Tote hinterlassen hatte, alle plötzlich ratlos, wie sie miteinander umgehen sollten.“ (S. 15)

    Jude ist die Macherin. Sie war als Restaurantmanagerin sehr erfolgreich, sie plant und organisiert, schießt zuweilen aber auch über das Ziel hinaus, so dass sich die anderen überfahren und bevormundet fühlen. Seit Jahrzehnten ist sie die Geliebte eines verheirateten Mannes, der ihr großen (auch finanziellen) Halt gibt, obwohl er seiner Familie eindeutig den Vorrang einräumt.

    Wendy ist eine chaotische Schriftstellerin und hat vor vielen Jahren ihren Mann Lance verloren, zu ihrer erwachsenen Tochter Claire hat sie nur eine unterkühlte Beziehung. Wendy bringt den uralten Hund Finn mit, der verwirrt, stinkend und inkontinent ein warnendes Beispiel dafür abgibt, was das Alter mit einem Lebewesen anrichten kann. Finn war ein Geschenk der verschiedenen Sylvie, und Wendy kann ihn nicht loslassen, während Jude und Adele das Tier nicht ausstehen können.
    Adele war einst eine berühmte Schauspielerin, ihr Ruhm ist jedoch verblichen, worunter sie sehr leidet. Zudem wurde sie von ihrer Lebensgefährtin verlassen und ist pleite. Adele ist stolz auf ihre Gelenkigkeit, ihren (fast) makellosen Körper und ihre straffen Brüste. Ihr Körperkult wird von den Freundinnen belächelt und lässt auch den geneigten Leser des Öfteren bitter schmunzeln.

    Interessant ist, dass die Freundinnen untereinander zahlreiche kleine und große Geheimnisse hüten. Sie sind nicht offen miteinander. Das bekommt der Leser sehr schnell mit, weil die Perspektiven laufend wechseln, abschnittweise dürfen wir quasi in die Gedankenwelt der drei Frauen eintauchen, was sehr fesselnd ist, fragt man sich doch ständig, warum die sich scheinbar so nahestehenden Frauen eine so große Distanz zueinander wahren. Liegt das wirklich nur daran, dass Sylvie nicht mehr bei ihnen ist?

    Es menschelt heftig an diesem Wochenende am Meer. Die Unterschiedlichkeit der Figuren tritt immer stärker zu Tage. Es gibt Rückschauen auf das gelebte Leben, was sich sehr natürlich anfühlt mit über 70 Jahren. Charlotte Wood lässt den Leser immer tiefer eintauchen in ihre Charaktere, bei denen unterschiedlichste Gefühle zutage treten und zwar nicht nur positive. Gegen Ende kommt es zum stürmischen Finale mit Überraschungen und neuen Einsichten.

    Der Roman hat mich begeistert, sowohl vom Stil als auch vom Inhalt her. Die Autorin hat das Beziehungsgeflecht der Protagonistinnen sehr sauber und literarisch ansprechend herausgearbeitet. Die Schwachstellen, Träume und Schicksale jeder Figur werden dargelegt, ohne in einen brennenden Fokus gestellt zu werden. Das gibt der Geschichte eine Selbstverständlichkeit, etwas Unprätentioses und Glaubwürdiges. Es geht um den Umgang mit dem unvermeidlichen Alter, um Familien-, Freundschafts- und Liebesbeziehungen, um Wahrheit, Lüge und Verschweigen, um den Blick auf das gelebte Leben und Fragen, die sich im Herbst des Lebens stellen können, wenn man nicht in seiner Balance ist: Habe ich alles richtig gemacht? Kann ich noch Korrekturen vornehmen? Ist noch Zeit für einen Neuanfang?

    Zahlreiche Textstellen habe ich markiert, vieles besitzt eine Symbolik und Doppelbödigkeit, die ich sehr genossen habe. Man entwickelt eine große Nähe zu den Protagonistinnen, ohne sich mit ihnen gemein zu machen. Charlotte Wood hat den Blick für das Wesentliche, das sie wunderbar in Worte fassen kann. Ebenso bewundert habe ich die bildhaften Szenen, die das Meer, das Wetter und die Landschaft vor dem inneren Auge entstehen lassen.
    Ein tolles Buch – unbedingt lesen!

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