Ein Lied für die Vermissten: Roman

Rezensionen zu "Ein Lied für die Vermissten: Roman"

  1. Der Geschichtenerzähler

    Pierre Jarawan erzählt in diesem Buch die Geschichte des jungen Amin, der nach 12 Jahren im Exil in Deutschland mit seiner Großmutter in das kriegsgebeutelte Beirut zurückkehrt. Amin findet in Jafar einen Freund, mit dem er durch die zerstörte Stadt stromert. Sie erfinden fantastische Geschichten um irgendwelchen Flohmarktplunder und verkaufen die wertlosen Dinge an Gutgläubige, um sich damit Geld für das Kino oder Süßigkeiten zu verdienen. Aber es gibt auch eine dunkle Seite an Jafar, denn wie alle Kinder, die während des Krieges in der Stadt lebten, ist er schwer traumatisiert. Auch die Großmutter kämpft noch mit der Trauer um ihre verstorbene Tochter, Amins Mutter, und öffnet sich nur selten ihrem Enkelsohn. Die Momente, in denen sie aus ihrem früheren Leben erzählt sind rar und kostbar für Amin, der oft auf sich allein gestellt ist.
    Das Buch wird in Rückblicken des erwachsenen Amin erzählt. Er beruft sich dabei auf die Kunst der arabischen Geschichtenerzähler, die in früheren Zeiten von Dorf zu Dorf zogen. So sind seine Gedanken oft sehr ausufernd. Er springt zwischen den Zeiten hin und her und verliert sich so manches Mal in unwichtigen Details. Das machte das Ganze für mich ziemlich unübersichtlich und wirr. Da ich mich in der Geschichte des Libanon nicht auskenne, war auch eine zeitliche Einordnung oft schwierig. Sprachlich fand ich das Buch auf einem guten Level, aber dadurch dass viele der Protagonisten ihre Geheimnisse hatten, blieben sie für mich distanziert. Auch die Figur des Amin war mir insgesamt zu passiv. Es wurden viele Themen angesprochen: die vielen Menschen, die während der Kriegsjahre spurlos verschwanden, die traumatisierten Kinder, die Rolle der Frau, aber leider wurde das Meiste davon nicht auserzählt. So blieb vieles ungeklärt oder im Vagen.
    Wer die ausufernde Erzählweise arabischer Geschichtenerzähler mag, wird sich hier sicherlich angesprochen fühlen. Mir war das Buch zu wirr.

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  1. 5
    15. Mär 2021 

    Vom Schweigen über die Vergangenheit

    In “Ein Lied für die Vermissten“ kehren wir mit Amin nach Beirut zurück, das er als Baby 12 Jahre zuvor mit seiner Großmutter in Richtung Deutschland als Bürgerkriegsflüchtlinge verlassen hat. Viel ist in diesen 12 Jahren in dieser Stadt passiert. Sie liegt in Schutt und Asche und nicht nur die Gebäude haben schwere Verwundungen davongetragen. Die strikte Teilung der Stadt in Ost und West ist aufgehoben, und doch ist noch viel, viel Teilendes in den Menschen und ihren Köpfen verankert und zeigt sich in ihrem Denken und Handeln. Nur in ihren Worten, da zeigt sich sehr wenig davon. Ein tiefes Schweigen liegt über der Vergangenheit und das schließt auch die Jahre vor dem Bürgerkrieg mit ein, in denen das zuvor blühende Land in diese schreckliche Situation hineintaumelte.
    Amin versteht von dem allen viel zu wenig, steht immer wieder in dieser zerstörten Stadt und hat eine Unzahl von Fragen und niemanden, der sie ihm beantworten wollte. Weder in der Schule noch in seinem Freundeskreis, noch von seiner Großmutter erhält er Antworten auf all seine Ungewissheiten. Geschichtsaufarbeitung findet weder durch den Staat noch in den Köpfen der Menschen statt.

    Eine ganze Generation Nachgeborener suchte Antworten. Doch noch immer gab es kein Geschichtsbuch, das eine neutrale Version der Bürgerkriegszeit bereithielt, schlicht, weil es keine offizielle Version gab, die man an Schulen hätte lehren können. War es das, was Herr Labaki gemeint hatte, als ich vor seinem Pult stand und er mir sagte, vom Sprechen über den Bürgerkrieg seien wir noch Jahrhunderte entfernt?

    Und solange der Kampf um die Deutungshoheit nicht ausgetragen ist, liegt die Vergangenheit dunkel und unerkannt über diesem Land. Der Junge Amin spürt dies, wie es ein Kind spüren kann, und ist auf der ständigen Suche nach Bezugspunkten und -personen, die ihm ein Puzzleteilchen seiner Familienvergangenheit liefern können.
    Mein Fazit:
    Ein überzeugender Roman, der die Hilflosigkeit des Einzelnen angesichts des komplexen historischen Geschehens deutlich macht, aber auch eine ungemein warmherzige Sicht auf ein Land wirft, das wirklich viel zu verlieren hatte (die „Schweiz des Nahen Ostens“, Beirut – das Paris des Nahen Ostens) und immer noch viel verliert. Und diese Sichtweise wird sehr glaubwürdig aus einer Jugendlichenposition aus erzählt. Ich gebe 5 Sterne.

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  1. Die Verschwundenen des Bürgerkriegs

    Mit seiner Großmutter Yara kehrt Amin Elmaalouf 1994 als Jugendlicher zurück in den Libanon - zwölf Jahre, nachdem er nach dem Tod seiner Eltern nach Deutschland gegangen ist. Wieder in Beirut verbringt er viel Zeit mit dem gleichaltrigen Jafar, der ihm ein guter Freund wird. Dann aber passieren mysteriöse Dinge: Menschen verschwinden, das Café der Großmutter muss schließen, er wird verleugnet. Eine Spurensuche beginnt...

    „Ein Lied für die Vermissten“ ist ein Roman von Pierre Jarawan.

    Meine Meinung:
    Der Roman beginnt mit einer Art Vorwort oder Prolog („Yeki Bud. Yeki Nabud“). Daran schließen sich drei Teile an, „Strophen“ genannt, die wiederum aus 30 Kapiteln bestehen. Zum Schluss folgt eine Art Gesprächsprotokoll. Erzählt wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Amin - allerdings nicht chronologisch, sondern mit Zeitsprüngen und zum Teil etwas bruchstückhaft, was beim Leser Konzentration erfordert, die sich jedoch lohnt.

    Besonders begeistert mich der atmosphärische, bildstarke und stellenweise poetische Erzählstil, der den Leser in eine fremde Welt entführt. Immer wieder beweist der Autor, dass er mit Sprache trefflich umgehen kann. Daher hat mich auch keineswegs gestört, dass teilweise ausschweifend erzählt wird und die Handlung manchmal nur langsam voranschreitet.

    Amin ist ein Charakter, zu dem ich nicht auf Anhieb einen Zugang gefunden habe. Allerdings wirkt er authentisch und nicht unsympathisch.

    Gereizt haben mich an der Geschichte das Setting sowie die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe. So geht es um den libanesischen Bürgerkrieg, mit dem ich mich bis dato nicht beschäftigt hatte, und den Arabischen Frühling. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Nachbemerkung des Autors, der ergänzende Infos zu den damaligen Geschehnissen liefert und darin seine fundierte Recherche belegt.

    Auch ansonsten ist der Roman tiefgründig, facettenreich und vielschichtig. Freundschaft, Familie, Krieg, Verlust, Heimat und Identität sind nur einige der weiteren Themen. Dabei regt die Geschichte zum Nachdenken an und berührt.

    Ich habe den Roman vorwiegend als ungekürzte Lesung gehört. Bei dem Hörbuch zeigt sich, dass der Autor mit seiner angenehmen Stimme auch als Sprecher einen tollen Job macht.

    Das Cover, das prima zur Geschichte passt, gefällt mir ausgesprochen gut. Auch der Titel ist eine gelungene Wahl.

    Mein Fazit:
    „Ein Lied für die Vermissten“ von Pierre Jarawan ist eine besondere Lektüre, die es dem Leser zwar nicht immer einfach macht, aber nichtsdestotrotz ein empfehlenswerter Roman ist, der mich in mehrfacher Hinsicht überzeugt hat.

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