Ein Haus mit vielen Fenstern

Rezensionen zu "Ein Haus mit vielen Fenstern"

  1. Bilder und Geschichten einer aussterbenden Generation

    „Was vom Leben übrig bleibt, sind Bilder und Geschichten.“ (Max Liebermann)

    Kaum einen treffenderen Satz hätte man diesem wundervollen Buch voranstellen können! Charlotte Müller ist Kunsttherapeutin. Vor Jahren schon war sie als Betreuerin in Seniorenheimen tätig. Viele Bewohner fassten Vertrauen zu ihr und erzählten ihr zutiefst berührende Geschichten aus ihrem Leben. Diese hat die Autorin hier aufgeschrieben und mit liebevollen Bildern ergänzt. So beginnt jede Geschichte mit dem skizzierten Zimmer des Erzählenden, anschließend werden verwahrte, persönliche Gegenstände sowie ein Erinnerungsbild von zu Hause gezeigt – als Tür zur Vergangenheit quasi. Viele dieser gezeigten Gegenstände finden sich in vielen Haushalten betagter Menschen, manche sind aber auch sehr individuell und haben engen Bezug zur Geschichte.

    Die erzählenden Bewohner wurden meist um die Jahrhundertwende geboren, wodurch der Krieg ihr Leben prägte. Zentral dabei sind die frühen Verluste von geliebten Angehörigen und deren Folgen. Jugenderinnerungen spiegeln existenzielle Not mit wenig Möglichkeiten. Mancher schaut auch zufrieden auf sein Leben zurück und erinnert sich an schöne Reisen und Erlebnisse, die mit Fotos und Postkarten belegt werden. Mancher hadert auch mit der Einsamkeit und dem Warten auf den Tod, weil alle anderen aus dem persönlichen Umfeld bereits gestorben sind. Auch Krankheit wird thematisiert: „Ich kenne die Welt nicht mehr. Ich finde nicht mehr ein noch aus. Ich bin mir selber schon in Vergessenheit geraten.“

    Die Geschichten belegen die Werte der damaligen Zeit und insbesondere die Rolle der Frauen in der Gesellschaft. Nur wenige konnte eine richtige Ausbildung machen. Manche war ihrem Mann in vielen Belangen ausgeliefert. Wenn der Gatte nicht trank, war er schon ein „guter Mann“, die Ansprüche waren weit niedriger als heute. Frau Neumann musste sogar ihrem Bruder, der Pfarrer war, Zeit ihres Lebens den Haushalt führen. Damit haderte sie nicht, sondern mit der Tatsache, dass sie das Meer niemals sehen konnte. Welch bescheidene Wünsche in der damaligen Zeit unerfüllbar blieben!

    Neben den längeren Geschichten hat Charlotte Müller auch kleine Fragmente eingefügt. Dabei handelt es sich um skizzierte Dialoge in Sprechblasen oder relativ kurze Statements einzelner Senioren, die starke Aussagekraft besitzen. Die Stimmungen variieren und zeigen die Gegenwart, in der sich zwar die Zimmer ähneln, die darin wohnenden Menschen jedoch nicht. Die Autorin gibt ihnen Raum und entzieht sie mit ihren Lebenserinnerungen dem Vergessen. Die Sprache der Bewohner hat sie dabei nahezu unverändert gelassen, was sehr authentisch wirkt.

    Für mich ist dieses das erste Buch vom Kunstanstifter-Verlag, der sich „das Zusammenwirken von Text, Bild und hochwertiger Ausstattung“ zum Ziel gesetzt hat. All dies wird in diesem Buch auf beeindruckende Weise erfüllt. Fast quadratisch im Format ist bereits das Cover als Fenster gestaltet worden. Der Einband hat Leinenoptik und ein Lesebändchen. Das Papier ist hochwertig und griffig. Die zahlreichen, farblich harmonisch gestalteten, Bilder laden zum Verweilen ein, so dass die geruhsame Lektüre ein Genuss ist.

    Ich denke, man kann dieses Buch auch gut im Gesprächsrunden mit alten Menschen einsetzen. Da es sich bei den Erzählenden primär um deren Elterngeneration handelt, müsste genug Distanz zum eigenen Alter vorhanden sein. Trotzdem liefern Text und Bilder viele Anregungen für weiterführende Gespräche.

    Auf alle Fälle hat mich das mit viel Liebe zum Detail gestaltete Buch sehr begeistert und neugierig auf das weitere Verlagsprogramm gemacht. Man kann es sich immer wieder anschauen. Riesige Empfehlung!

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