Ein Geheimnis

Buchseite und Rezensionen zu 'Ein Geheimnis' von Philippe Grimbert
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5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Ein Geheimnis"

Philippe ist fünfzehn, als er ein über Jahre gehütetes Familiengeheimnis enthüllt. Die Grimberts sind Juden und haben das Leben im besetzten Paris keineswegs so unbeschadet überstanden, wie er geglaubt hatte. Der als Einzelkind aufgewachsene Philippe wird an eine von allen verdrängte Vergangenheit seiner Familie herangeführt, in der es den großen Bruder seiner Phantasie tatsächlich gegeben hat.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:180
EAN:9783518467916

Rezensionen zu "Ein Geheimnis"

  1. Ein bewegender Lebensbericht

    Inhalt
    "Als Einzelkind hatte ich lange Zeit einen Bruder. Meine Ferienbekanntschaften, meine Spielgefährten mußten mir aufs Wort glauben, wenn ich ihnen dieses Märchen auftischte. Ich hatte einen Bruder. Schöner als ich, stärker als ich. Einen älteren Bruder, erfolgreich und unsichtbar. " (S.9)

    Philippe, 1948 in Paris geboren, ist ein schwächliches Kind, zur Enttäuschung seiner athletischen Eltern Maxime und Tania, beide Leistungssportler.

    "Meine innig geliebten Eltern: Jeder Muskel an ihnen glänzte wie die Statuen, die mich in den Gängen des Louvre betörten." (S.18)

    Gemeinsam betreiben sie einen Großhandel mit Trikotagen und Strickwaren.
    Nebenan lebt die 60-jährige Louise, die eine Gesundheitspraxis betreibt, den Jungen behandelt und ihm eine Freundin wird.
    Nachdem er seine Mutter auf den Dachboden ihres Apartments begleitet hat, findet er dort einen kleinen Stoffhund, was Tania offensichtlich Unbehagen bereitet.

    "In der darauffolgenden Nacht preßte ich zum ersten Mal meine nasse Wange an die Brust eines Bruders. So war er in mein Leben getreten, und ich würde ihn nie mehr allein lasen." (S.11)

    Der fiktive Bruder ist im Gegensatz zu Philippe stark, selbstbewusst und mutig und der Stolz seiner Eltern, die eine mustergültige Ehe zu führen scheinen. Doch ihre Geschichte basiert auf einer Lüge, die mit dem Nachnamen beginnt.

    "Ihren Erzählungen nach hatte ich schon immer diesen in unserem Land sehr gebräuchlichen Namen. Meine Abstammung verurteilte mich nicht mehr zum sicheren Tod, ich war nicht mehr jener dürre Zweig an der Spitze eines Stammbaums, den es zu kappen galt." (S.13)

    Aus dem Namen Grinberg wird "Grimbert", Philippe, offensichtlich jüdischer Abstammung, ist auch getauft.

    "So setzte sich das Vernichtungswerk im verborgenen fort, das die Schlächter einige Jahre vor meiner Geburt betrieben hatten: Es begrub alles unter sich, was geheimgehalten und verschwiegen wurde, verstümmelte die Familiennamen, erzeugte Lügen, die Scham blieb. Obwohl die Verfolger besiegt waren, triumphierten sie noch immer." (S.14)

    Der Roman ist aus der Ich-Perspektive Philipps verfasst, ein erzählendes Ich, das eine Distanz zum Erlebten aufgebaut hat. Mit Hilfe von Louise erstellt er diesen Lebensbericht, der die Lüge seiner Familie aufdeckt.

    Erzählt wurde ihm, dass sich Maxime, Sohn rumänischer Einwanderer unsterblich in die Turmspringerin Tania verliebte, die allein von ihrer Mutter, eine Schneiderin groß gezogen worden war. Während der Besetzung Frankreichs flüchteten sie in die freie Zone, erlebten den Krieg

    "auf einem Landsitz am Ufer der Creuse bei einem pensionierten Oberst der dort mit seiner Tochter lebte, einer ledigen älteren Dame, die Lehrerin war. Fern des Kriegslärm ist der Marktflecken eine Insel der Ruhe." (S.44)

    Dort warten sie den Krieg ab und leben scheinbar ohne Entbehrungen in Frieden, während Louise sich um ihr Geschäft in Paris kümmert. Zwar erzählt ihm Louise von der Verfolgung der Juden, jedoch ohne zu erwähnen, dass sie selbst verfolgt wurde.

    Als Philippe 15 Jahre alt ist, wird er im Geschichtsunterricht mit den Gräueln der Nationalsozialisten und den Konzentrationslagern konfrontiert. Er verprügelt einen stärkeren Mitschüler, der sich über die gezeigten Bilder lustig macht. Nachdem er Louise davon erzählt hat, verändert sich ihr Verhalten und die Geschichte seiner Eltern, die ebenfalls Juden sind, erhält Risse.

    Lange hat Louise das Geheimnis von Philipps Eltern gewahrt, doch jetzt entrollt sie Schritt für Schritt die Wahrheit. Darüber, dass es tatsächlich einen Bruder gegeben hat, Simon, der Sohn von Maxime und Hannah - der ersten Frau seines Vaters. Tania ist demnach zunächst Maximes Schwägerin, da sie mit Hannahs Bruder Robert verheiratet ist. Doch schon während seiner eigenen Hochzeit verfällt Maxime Tanias Schönheit, so dass er sich während seiner Hochzeitsnacht zwingen muss, nicht an sie zu denken.
    Simon wird geboren, während die braune Gefahr näher rückt. Mit der Besetzung Paris und der Deportation der ersten Juden steht außer Frage, dass die Familie in die freie Zone muss, während Robert im Krieg kämpft. Fast allen gelingt die Flucht zu jenem Landsitz an der Creuse und Philippe erfährt, zu welcher Tat sich Hannah hat hinreißen lassen und mit welcher Schuld seine Eltern seit jener Zeit leben müssen.
    Sehr berührend sind das Ende Tanias und Maxime, das zeigt, wie sehr sich die beiden trotz der Schuld geliebt haben, und die Erleichterung Maximes, als Philippe ihn nach vielen Jahren von der Lüge befreit..

    Bewertung
    Philippe Grimbert deckt schonungslos die Lügen seiner Familiengeschichte auf, erzählt mit wenigen, aber bewegenden Worten von der Verzweiflungstat einer jungen Mutter, die sich betrogen fühlt und sich und ihr Kind der Gewalt eines unmenschlichen Regimes überlässt.
    Diese Szene ist die seltsamste des Romans.
    Warum entscheidet sich Hannah auf der Flucht, sich und den Jungen zu opfern, damit Tania und Maxime ein Paar werden können? Ein Liebesakt? Eine Verzweiflungstat? Wie kann sie das gegenüber ihrem Kind rechtfertigen? Und wie können die anderen Flüchtenden - Louise und Esther - mit dieser Schuld weiterleben. Wie können Maxime und Tania mit dieser Schuld weiterleben, auch wenn sie glaubten, Hannas Verhaftung sei ein Versehen gewesen?

    Viele Fragen, die menschlich bewegen, aber nicht vergessen lassen, dass die Situation erst aufgrund der Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten entstanden ist.
    Philippe Grimbert rechnet gnadenlos mit den Nazi-Regimes ab, auch mit der Kollaboration. Er verurteilt den damaligen Ministerpräsidenten Pierre Étienne Laval, der sich

    "-um die Familien nicht zu trennen, wie er später zu seiner Verteidigung vorgab - dafür stark gemacht [hat], daß jüdische Kinder unter sechszehn Jahren zusammen mit ihren Eltern deportiert wurden." (S.170)

    Welch ein Zynismus, muss er doch gewusst haben, dass die Kinder ihrem sicheren Tod entgegen gehen. Laval wurde zwar verurteilt und hingerichtet, sein Schwiegersohn hat jedoch versucht, ihn zu rehabilitieren, ebenso wie die Werke des antisemitischen Publizisten Brasillach in Frankreich "wiederentdeckt" werden.
    Der Blick auf die Wahlen vergangenen Sonntag in Frankreich zeigt, dass Biographien, Lebensberichte und Romane aus der Zeit des Nationalsozialismus keineswegs von gestern sind, sondern es wichtig bleibt, gegen das Vergessen anzuschreiben und die Lügen, die rechte Populisten verbreiten, zu widerlegen.

    Der Autor Philippe Grimbert, der Psychoanalyse studiert hat, da
    "Louise, die so gut zuhören konnte, die mir die Türen geöffnet hatte, [es] mir ermöglichte, die Schatten zu vertreiben, sie verschaffte mir Zugang zu meiner Geschichte" (S.160) -

    trägt mit seiner lesenswerten Familiengeschichte dazu bei, gegen das Vergessen anzukämpfen!

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