Ein fauler Gott

Rezensionen zu "Ein fauler Gott"

  1. Auf Zentralverwaltung umschalten

    Inhalt

    "Gott ist eine Art Herr Behrends des Himmels, der die Seelen an ihren Armen packt, bis der Schmerz in ihnen pocht, und sie zum Arbeiten in die äußersten Ecken des Himmels verbannt, wo sie nackt und mit verdreckten Gesichtern aufräumen müssen und putzen und Gottes Sachen durch die Gegend schleppen. Gott selbst ist faul in seiner Allmacht, und es bereitet ihm Freude, den Brüdern die Brüder zu stehlen und den Müttern ihre Kinder. Er ist unersättlich. Es gibt im Himmel mehr Tote als Lebende auf der Erde. Während Gott wie Herr Behrends, sein Sportlehrer, die Seelen machen ließ, weinte Mami und hatte zum Sprechen keine Luft mehr. Ben weinte auch. Er konnte nicht mehr aufhören." (S.8)

    So ungerecht stellt sich der 11-jährige Benjamin Schrader den Himmel vor, nachdem sein 8-jähriger Bruder unerwartet gestorben ist. Nach einem epileptischen Anfall im Freibad in Hamburg, Sommer 1972, während eines Wettschwimmens, stirbt er 10 Tage darauf im Krankenhaus, ohne dass die Ursache des Todes geklärt werden kann.

    "Jonas ist acht Jahre und vier Monate alt. Er fährt mit Ben, der Nachbarin Frau Berg und ihrer Tochter ins Schwimmbad. Ruth bleibt zu Hause und gönnt sich einen freien Tag im Garten. Das Letzte, was sie von Jonas sieht, ist seine offene Sandale." (S.50)

    Seine Mutter Ruth macht sich Vorwürfe, der Vater der Kinder - Hans- hat die Familie vor einem Jahr verlassen und inzwischen eine neue Lebensgefährtin. Auch er kann den Tod Jonas nicht begreifen, lebt aber in Frankfurt.

    Der Roman erzählt überwiegend aus der personalen, kindlichen Sicht Bens. Über seine Trauer, seinen Kummer, seine Sorgen, die er sich um seine Mutter macht, die mit der Heizdecke an den Füßen so oft weinen muss und kaum noch Anteil am Leben hat.

    "Ben überlässt sich der Zentralen Verwaltung. Sie fährt ihn summend zu seinem Platz." (S.21)

    Schritt für Schritt gelingt ihm mit seiner Zuversicht der Weg in den Alltag zurück, er findet einen neuen Freund, macht erste sexuelle Erfahrungen, muss sich seinen Platz im Beziehungsgefüge der Klasse erkämpfen und gleichzeitig bemüht er sich um seine Mutter. Seine häufigste Aussage, wenn Freunde ihn fragen, ob er noch bleiben wolle:

    "Ich muss nach Hause, meine Mutter wartet auf mich." (S.81)

    Ruth verkraftet den Tod ihres Sohnes nicht - einige Passagen des Romans sind aus ihrer Sicht erzählt, und zeugen von ihrer Unfähigkeit den Verlust ihres Kindes zu akzeptieren. Sie geht alle Orte noch einmal ab, die mit seinem plötzlichen Tod zusammenhängen: das Schwimmbad, das Krankenhaus, einen Arzt, doch niemand kann ihr helfen. Sie beneidet Ben, der sich Jonas, wenn er ihn vermisst, immer lebendig vorstellt, während sie wieder an die Situation im Krankenhaus zurückdenken muss. An ihren Schuldgefühlen geht sie fast zugrunde, sie nimmt kaum noch Anteil am Leben.

    "Ruth endet lange vor ihrer Haut. Ihr Körper hat sich zurückgezogen und teilt sich nur noch durch seinen kargen Anspruch mit, ernährt zu werden, gesäubert und gelegentlich bewegt. Ihre Haut ist kalt, sie hängt vom Fleisch wie ein nutzloser Lumpen." (S.213)

    Auch Ben, obwohl er besser mit der Situation zurecht kommt, leidet und trauert um Jonas. Mit seiner Mutter kann er nur selten über seinen Bruder reden, aber Herr Gräber, ein Nachbar, hört ihm zu. In seinem Vorgarten steht ein altes Auto ohne Räder, in dem Herr Gräber Ben das Auto fahren beibringt, ihm gegenüber öffnet er sich.

    "Magst du von Jonas erzählten?", fragt Herr Gäbler nach einer Weile. "Nein", sagt Ben. "Aber du könntest es probieren?" Ben gerät in einen dunklen Tunnel, der immer schmaler wird, bis er am Ende so eng wie ein Strohhalm ist. Um herauszukommen, sagt Ben leise: "Ja" (S.70)

    Herr Gräber nimmt Ben in seinem Kummer wahr und da auch er Winnetou gelesen hat, stellt er sich vor, der Himmel sei wie die ewigen Jagdgründe, die

    "wie eine Lücke in der Zeit [sind]. Dort wird Jonas für immer so bleiben, wie du ihn erinnerst. Und du erinnerst ihn jedes Mal, wenn du traurig wirst." (S.224)

    Für Ben kristallisiert sich heraus, dass er seine Mutter wieder zum Leben überreden muss. Ob ihm das gelingen wird?

    Bewertung
    Ein sehr berührender Roman, der aus kindlicher Sicht die Trauer um einen geliebten Menschen in bilderreicher Sprache zum Ausdruck bringt. Die ungewöhnlichen Metaphern und Beschreibungen haben mich neben dem sensiblen Umgang mit der schwierigen Thematik fasziniert. Wie Ben sich selbst als Maschine vorstellt, seinen Kopf als Ort mit Regalen, wie seine Zentralverwaltung die Kontrolle übernimmt, damit er weiter leben kann, spiegelt seine Hilflosigkeit mit der Situation umzugehen, wider.
    Als er zum ersten Mal seit Jonas Tod wieder im Schwimmbad ist, kann er zunächst nicht ins Wasser gehen.
    "Dem Brennen der Sonne ausgesetzt, schrumpft Ben etwas. Es ist fast nicht zu bemerken und eigentlich ein Geheimnis. Nur möchte Ben gerade kein Geheimnis haben. An den Stellen, an denen er schrumpft, faltet sich seine Haut. Durch die Falten dringt die Hitze in ihn ein und beißt sich ins Innere. Die Sachen in Bens Regalen trocknen aus. Die Regale selbst werden staubig. Ein Wind weht über sie hinweg und kämmt Rillen in den Staub. Ben braucht lange, um in einem der hinteren Regale ein Seil zu finden. Er zieht es hervor verknotet es an einem geheimen Haken und reißt an ihm, bis es sich strafft." (S.187)

    Die Sprache macht diesen Roman, der neben der Trauerarbeit auch den Weg des Jungen zum Jugendlichen mit all den Ritualen, Hindernissen und der Entdeckung der eigenen Sexualität ehrlich beschreibt, zu etwas ganz Besonderem.

    Eine klare Leseempfehlung!

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    08. Apr 2017 

    Vom Leben und vom Trauern...

    Die Erzählung beginnt im Jahr 1972, als der kleine Bruder des 11jährigen Ben unerwartet stirbt. Nach Fassungslosigkeit und Erstarrung hält Trauer Einzug in die kleine Familie, die nunmehr nur noch aus Ben und seiner Mutter besteht. Bens Vater wohnt nicht mehr bei ihnen, sondern hat vor einger Zeit beschlossen, sein Leben an der Seite einer anderen Frau und in einer anderen Stadt zu führen.

    "Die ewigen Jagdgründe musst du dir wie eine Lücke in der Zeit vorstellen. Dort wird Jonas ewig so bleiben, wie du ihn erinnerst."

    Einsamkeit. Das ist das Wort, das mir zu diesem Debüt-Roman von Stephan Lohse als erstes in den Kopf kommt. Ben und seine Mutter sind meist allein mit ihrer Trauer. Vor allem Ruth hat niemanden, der für sie da ist - keine Familie, keine Freunde, keine Nachbarn, keine Kollegen. Sie zieht sich in ihrer Trauer in sich selbst zurück, gestattet sich nur auf ihrer voll eingeschalteten Heizdecke zu weinen, will Ben nicht mit ihren Gefühlen konfrontieren. Immer wieder kommt sie an den Punkt, das Leben unerträglich zu finden.

    Ben vermisst Jonas auch, kann jedoch mit seiner Mutter kaum darüber reden - merkt er doch, wie sehr sie leidet. Er fühlt sich im Gegenteil für sie verantwortlich und macht dies in kleinen Gesten immer wieder deutlich. Doch im Gegensatz zu seiner Mutter hat Ben auch ein Leben im außen. Die Schule mit seinen Freunden, die Bibliothek mit ihrer Welt der Bücher - und Herrn Gäbler. Ihm, dem im Grunde vollkommen Fremden aus der Nachbarschaft, kann Ben seine Gedanken und Fragen zum Tod seines Bruders anvertrauen.

    "Ich glaube nicht, dass die Seelen überhaupt etwas sprechen", sagt Herr Gäbler. "Ich vermute eher, dass sie sich telepathisch verständigen. "Wie mit Funkgeräten?" Herr Gäbler nickt. "Wie mit Funkgeräten." Ben überlegt, dass die Seelen, wenn sie über telepathischen Funk verfügten, nicht lachen oder mit dem Kopf nicken müssten (...) Sie machten alles innerlich. Per Himmelsfunk. Vielleicht klingt ihr Himmelsfunk wie Luftmusik. Wie der Ton aus Philip Bührmanns Staubsaugerschlauch."

    Erzählt wird der Roman aus den wechselnden Perspektiven von Ben und seiner Mutter Ruth - und dieser Umstand ist es, der mich hier am meisten gestört hat. Der Klappentext ließ vermuten, dass es hier nur um Ben und seine Art geht, mit der Trauer um seinen Bruder fertig zu werden. Den Perspektivwechsel empfand ich im Gegensatz zu anderen Büchern hier als störend, weil so keiner der Charaktere wirklich zu seinem Recht kam. Vieles wurde nur angerissen, genauso wie einzelne Episoden ohne wirklichen Zusammenhang aneinander gereiht wurden. Neben der Trauer gab es zahlreiche andere Themen, die hier eine Bedeutung erhielten, jedoch keinen wirklichen Raum: Pubertät, Schulzeit, das Flair der 70er Jahre, Musik und Literatur... Einerseits machen diese Themen deutlich, dass das Leben für Ben schon irgendwie weitergeht, andererseits verwässern sie sich durch ihre Vielfalt gegenseitig. Insgesamt wirkt der Roman dadurch über weite Strecken zerfasert.

    Der Autor selbst ist 1964 geboren und damit auch Kind der geschilderten Zeit. Meine Gedanken beim Lesen solcher Bücher sind stets, wie viel Autobiographisches darin stecken mag. Das würde auch erklären, weshalb Lohse so viele Aspekte der Kindheit Bens so ausführlich schildert und manche anscheinend zusammenhanglose Ereignisse einfließen lässt, die das Geschehen nicht so sehr 'voranbringen'.

    "Den eigenen Tod sterben wir, den Tod unserer Kinder müssen wir leben."

    Einzelne Szenen in dem Roman konnten mich berühren, insgesamt jedoch blieb die Erzählung für mich trotz der bedrückenden Thematik eher an der Oberfläche. Vielleicht sah der Autor die Gefahr, dass die Geschichte durch die allgegenwärtige Trauer zu sehr ins Melodramatische abdriften könnte, doch hat er für mich da zu sehr gegengesteuert. Dabei entwickelt sich die Situation durchaus dramatisch, wie gerade das Ende aufzeigt.

    Insgesamt ein Buch zum Thema 'Leben und Trauern', das ich nicht ungerne gelesen habe, dessen Umsetzung ich aber nur bedingt für gelungen halte.

    © Parden

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