Ein ehrenhafter Abgang

Buchseite und Rezensionen zu 'Ein ehrenhafter Abgang' von Éric Vuillard
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4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Ein ehrenhafter Abgang"

Vietnam war Schauplatz zweier Kriege, die zu den längsten und opferreichsten der Geschichte zählen. Éric Vuillard, der die Leser immer wieder mit seinen brillanten Rhapsodien über blitzlichtartig beleuchtete Episoden der Weltgeschichte fesselt, gelingt es auch in dieser neuerlichen Inszenierung, Geschichte unmittelbar fassbar zu machen. Mit wütender Präzision schildert er, wie zwei der größten Mächte der Welt in einer kolossalen Umkehrung der Geschichte gegen ein kleines Volk in ungeheuer verlustreichen Kriegen verlieren. Er erzählt von dem siegreichen Kampf des Unterlegenen und dem Aufstand eines von Kolonialmächten ausgebeuteten und geschundenen Volks. Er lässt das gewaltige Geflecht aus wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen sichtbar werden und erweckt eine ganze Galerie schillernder Figuren zum Leben: Kautschukpflanzer, französische Generäle, ihre Ehefrauen, Politiker, Bankiers. Ein ehrenhafter Abgang ist eine zutiefst beunruhigende menschliche Komödie, die ständig aufs Neue aufgeführt zu werden scheint.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:139
EAN:9783751809085

Rezensionen zu "Ein ehrenhafter Abgang"

  1. 4
    15. Mär 2023 

    Ein düsteres Kapitel der Kolonialgeschichte

    Das Buch beginnt mit einem Paukenschlag: eine Delegation der französischen Gewerbeaufsicht bereist im Jahre 1928 die Kautschuk-Plantagen der Firma Michelin. Es hatte einen Arbeiteraufstand gegeben, es gab gehäufte Selbstmorde und Fluchtversuche der „befreiten“ Vietnamesen, und die Gewerbeaufsicht will sich ein Bild verschaffen.

    Das Bild, das sich ihnen bietet, ist an Menschenverachtung kaum zu überbieten: trostlose monotone Arbeitsbedingungen, drakonische Strafmaßnahmen und Folter, halbverhungerte Elendsgestalten. Die Delegation ist entsetzt und verfasst einen entsprechenden Bericht, „die Behörden sprechen ein paar Empfehlungen aus. Ihnen folgt weder Reform noch Verurteilung. In jenem Jahr erzielte die Firma Michelin einen Rekordgewinn von dreiundneunzig Millionen Francs“.
    Damit benennt Vuillard gleich zu Beginn die Nutznießer der französischen Kolonialherrschaft in Indochina: die Industrie und auch die Banken.

    Es geht in dem Buch um das Ende der französischen Kolonialherrschaft in Indochina, den heutigen Ländern Vietnam, Kambodscha und Laos. Vuillard zeigt auf, wie das Ende begann und wie die Tragödie von Dien Bien Phu das Ende besiegelte. Im Mittelpunkt stehen aber weniger die konkreten militärischen Ereignisse, sondern eher die Hintergründe, und die sind mehr als anrüchig. Der Autor hat genau recherchiert und führt die Schuldigen am Desaster vor: die Industrie und die Banken, die das Land ausbeuteten. Während in Frankreich noch das nationale Pathos hochkochte, war ihnen schon früh die Hoffnungslosigkeit der Lage klar. Sie räumten der französischen Armee – die zum überwiegenden Teil aus Vietnamesen und Kolonialsoldaten bestand – keine Chance gegenüber den Vietminh ein, trotz ihrer strategischen Überlegenheit, die die Vietminh durch hohen Personeneinsatz und hohe Motivation kompensierten. Daher brachten Wirtschaft und Banken ihre Investitionen frühzeitig in Sicherheit und fuhren zugleich hohe Gewinne ein, indem sie die Truppen weiterhin belieferten.

    Vuillard beschreibt sehr launig eine Parlamentsdebatte, in der die Möglichkeit eines Verhandlungsfriedens voller Pathos und Empörung zurückgewiesen wird, um dann schließlich doch zur Erkenntnis zu kommen, dass man einen „ehrenhaften Abgang“ aus dem Indochina-Krieg versuchen müsse. Ein „ehrenhafter Abgang“, der mit -zigtausenden von Toten, Gefangenen und Verwundeten einherging.

    Frankreich wurde unterstützt von den USA (Hintergrund: Koreakrieg, Blockbildung, Antikommunismus), und so schließt das Buch mit dem „ehrenhaften Abgang“ der Amerikaner aus Saigon: ein Desaster ohnegleichen.

    Das Buch stellt uns also ein dunkles Kapitel der französischen Geschichte vor.

    Vuillard schafft lebhafte Situationen, wenn er den Personen ihre Gedanken und Äußerungen zuschreibt, die sie so vermutlich nicht gemacht haben, aber gemacht haben könnten. Insofern ist sein Buch keine Dokumentation, sondern Belletristik.

    Aber mir hat nicht alles gefallen. Trotz des packenden Themas und der spannenden Darbietung: muss das sein, dass der Autor mit blumigen Metaphern seinem Leser das Verständnis erschwert? Da regnet es Blütenblätter vom Himmel – wieso sagt er nicht, dass hier über 2000 französische Fallschirmjäger in Dien Bien Phu landen?
    Dann wieder sind seine Ausdrücke alles andere als blumig, sondern einfach nur unangebracht und ordinär: „heiratete und machte ihr drei Bälger“. Ähnliche Textstellen finden sich immer wieder.

    Vielleicht sollte man nicht zu streng sein. In Vuillards Sprache zeigt sich sein großes Engagement, seine Verachtung und seine große Wut auf die Machenschaften von Industrie und Banken bzw. auf den heutigen Kapitalismus.

    Fazit: ein düsteres Kapitel der französischen Kolonialgeschichte. Informativ, aufrüttelnd und lesenswert!

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