Doppelleben

Buchseite und Rezensionen zu 'Doppelleben' von Carola Stern
4.35
4.4 von 5 (11 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Doppelleben"

Ein wichtiges und mutiges Buch. 'Wer bin ich?' - diese Frage steht am Anfang und Ende dieser ungewöhnlichen Autobiografie. Die Publizistin Carola Stern erzählt die Geschichte ihres Lebens, von Verstrickungen und Konflikten, Angst und Glück, Gelungenem und Misslungenem - aufrichtig, lebendig, ohne zu beschönigen und ohne abzurechnen. Nach Kriegsende heuert die einstige Jungmädelführerin Erika Assmus in einem Raketeninstitut der Russen im Harz als Bibliothekarin an. Sie träumt vom kleinen beschaulichen Glück und lässt sich zur Lehrerin ausbilden. Doch dann taucht ein 'Mr. Becker' vom amerikanischen Geheimdienst auf, und ihr Leben nimmt einen ganz anderen Verlauf: 'Eka' tritt in die SED ein, damit ihre kranke Mutter medizinisch versorgt wird. 1950 wird sie auf die Parteihochschule geschickt. Sie lernt die kommunistischen Phrasen und Parolen, aber nicht den Glauben an die Partei. Eines Tages wird sie denunziert. Eka flieht nach Westberlin, wird Assistentin am Institut für Politische Wissenschaft und beginnt unter dem Pseudonym Carola Stern zu schreiben. Doch mit dem Leben in der freien Welt kommt sie nicht zurecht. Aus einer tiefen Lebenskrise taucht sie mit der Erkenntnis auf, dass sie lernen muss, mit der Angst zu leben. Ihr 'drittes Leben ' beginnt... BESTSELLER

Autor:
Format:Taschenbuch
Seiten:320
Verlag: rororo
EAN:9783499613647

Rezensionen zu "Doppelleben"

  1. Eine mutige Hommage

    Autor
    Alain Claude Sulzer 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass.
    1983 erschien sein Debütroman „Das Erwachsenengerüst“. Mit dem Roman „Ein perfekter Kellner“ gelang ihm 2004 sein literarischer Durchbruch.
    Seine Werke wurden unter anderem mit dem Prix Médicis étranger und dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet.

    Inhalt

    Das Publikum liebt unwahre Bücher:
    Dieser Roman ist ein wahrer Roman.

    Edmond und Jules de Goncourt

    Der Prix Goncourt, der alljährlich seit 1903 im November von der Académie Goncourt für den besten französischsprachigen Roman vergeben wird, gilt als ältester und bedeutendster Literaturpreis Frankreichs.
    Benannt wurde der Preis nach den Schriftsteller-Brüdern Edmond (1822 -1896) und Jules (1830 -1870) de Goncourt.

    Die Brüder Goncourt leben zwillingsgleich und eigenbrötlerisch zusammen. Sie teilen das Haus, die Gedanken, die Arbeit und die Geliebte. Ihr Umgang sind Künstler im Palais der Cousine des Kaisers, in Ausstellungen und bei Restauranttreffen. Sie verkehren mit Flaubert und Zola. Sie beobachten alles genau, lästern gerne danach über die, die sie gerade getroffen haben und schreiben alles akribisch in ein Tagebuch, das sie gemeinsam führen. Ihren Blick entgeht nichts.
    Doch Jules ist krank. Er ist an Syphilis erkrankt, aber weder er noch sein Bruder sprechen diese Krankheit offen an.

    „An den Namen der Prostituierten, die ihn im zarten Alter von zwanzig Jahren angesteckt hatte, erinnerte Jules sich natürlich nicht.“ (S. 39)

    Zu ihrem Haushalt gehört Rosalie Malingre, genannt Rose, die 1837 im Alter von siebzehn Jahren in Madame Goncourts Dienste tritt.
    Rose führt den Haushalt, umsorgt und bewacht die beiden Brüder, „knurrend […] wie ein alter Kettenhund“
    (S. 92). Ihre mangelhaften Kochkünste nehmen sie geduldig hin.

    „Sie war so diskret wie ein Tisch oder ein Schrank, sie gehörte so unverrückbar zu ihnen und ihrer Wohnung wie ein Möbelstück oder eine Tür, die man täglich unzählige Male öffnete und schloss, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, warum man es tat und ob es nötig war, es zu tun.“ (S. 91)

    Ihr Leben außerhalb des Hausstandes bleibt den Brüdern verborgen. Rose führt ein Doppelleben anderer Art als die Brüder. Sie gerät an falsche Männer, ist verliebt, ohne dass ihre Liebe erwidert wird. Sie wird schwanger, ihr Kind stirbt später. Sie trinkt. Aus Angst, den Geliebten zu verlieren, betrügt sie die Brüder. Erst nach ihrem Tod wird ihr dramatisches Doppelleben offenkundig.

    Sprache und Stil
    Der Roman „Doppelleben“ besteht aus zwei Erzählsträngen. Die Geschichte der zwillingsgleich lebenden Brüder Jules und Edmond de Goncourt. Nach dem Tod ihre Mutter erben sie ein großes Vermögen, das ihnen ein unabhängiges Leben ermöglicht. Sie führen ein Bohèmeleben und widmen sich ganz der Schriftstellerei. Ab 1851 führen sie gemeinsam ein Tagebuch. Sie sind scharfe Beobachter und alles, was von ihnen wahrgenommen wird, schreiben sie akribisch auf. Kein Skandal und keine Intimität der Pariser Bohème bleibt außen vor. Es ist nicht verwunderlich, dass dieses Tagebuch erst lange nach ihrem Tod veröffentlicht werden darf. Für Alain Claude Sulzer stehen mit diesem Tagebuch unendlich viele nachweisbare Aussagen für seinen Roman zur Verfügung.

    Fast alles, was ich an Szenen und Gedanken in diesen Roman hineingearbeitet habe, ist belegbar. Originalzitate findet man dennoch nur aufgelöst im Ganzen. Ich habe sie mir angeeignet und umgeformt.
    Quelle: Zitat Alain Claude Sulzer in https://www.galiani.de/sulzer-doppelleben, 06.10.2022

    Die parallele Erzählung handelt von Rose, ihrer Haushälterin, die heimliche Protagonistin in diesem Roman. Rose kennen beide Brüder, als sie noch Kinder waren. Sie wird von ihnen kaum wahrgenommen. Erst nach ihrem Tod erfahren sie von einer ehemaligen Geliebten die Wahrheit über ihre Hausangestellte. Sie hat beide Brüder bestohlen und betrogen, um ihren Geliebten zu unterstützen, aus Angst, ihn zu verlieren. Sie ist ihm völlig hoffnungslos ergeben. Zunächst sind sie fassungslos, dann schlägt ihre Fassungslosigkeit in Mitleid um.

    „Sie hatten von alledem nichts gesehen, nichts bemerkt, nicht ihre Schwangerschaft, nicht ihre Freude, nicht ihre Trauer, nicht ihr Leid. Schon gar nicht ihre nymphomanischen Neigungen, von denen sie später erfuhren.“ (S. 213)

    1865 erschien der Roman „Germaine Lacerteux“, in dem sie die Geschichte ihres Dienstmädchen erzählen und vielleicht auch ihre Unachtsamkeit ihr gegenüber verarbeiten.

    „Germaine Lacerteux“ dient dem Autor als zweite historisch nachweisbare Lektüre für seinen Roman „Doppelleben“.

    Der Roman „Doppelleben“ besticht durch eine ruhige, der Zeit entsprechend angemessenen Sprache. Der zeitpolitische Kontext und das gesellschaftliche Umfeld werden mit den beiden Erzählungen, die Brüder Jules und Edmond Goncourt und die dramatische Existenz der Magd Rose zu einem authentischen Roman zusammengefügt.

    Tief taucht der Autor in das Zentrum von Paris zur Zeit Napoleons III. ein. Hautnah erlebt der/die Leser*in die Hauptstadt der Künste, wenn auch nur ausschnittsweise. Der Fokus liegt auf das Leben von Rose und ihren Tod und Jules letzte Lebensjahre vor seinem Tod.

    Das Cover, ein Gemälde „Le cercle“ von Jean Béraud, vollendet perfekt den Roman.
    Standort: Musee d'Orsay, Paris, France

    Die letzte Umschlagseite enthält ein Bild des Autors als Doppelporträt, das symbolisch für die beiden Brüder und für seinen tiefen Einstieg in ihr Leben steht.

    Fazit

    Nachwort Alain Claude Sulzer

    „So, wie sich die Brüder Goncourt die Freiheit herausnahmen, das Leben ihrer Magd Rose Malingré in einem Roman nachzubilden, in dem diese den Namen Germaine Lacerteux erhielt, so habe ich mir erlaubt, einige Episoden aus dem Leben der beiden Unzertrennlichen zu einer Erzählung zu verdichten, in der nur wenig erfunden ist.“ (S. 290)

    Alain Claude Sulzer baut um sein Gerüst der Tagebücher und dem Roman „Germaine Lacerteux“ zwei Teile, die Brüder Gouncort und ihrer Magd Rose, auf. Die Hintergründe sind belegbar, Zitate formt er um. Damit verdichtet er beide Handlungsstränge zu einer Geschichte, ohne eine Biografie zu schreiben. Der Blick des Romans ist auf Rose, die Magd gerichtet, die vor den Augen der Brüder Goncourt ein dramatisches Doppelleben führt. Die Brüder sind stolz auf ihre akribische Beobachtungsgabe, doch in ihrer unmittelbaren Umgebung sehen sie nichts. Sie sind gefangen in ihrer eigenen Welt, ihrem Narzissmus und Leid.

    Jules Siechtum seit seinem zwanzigsten Lebensjahr schreitet unaufhörlich fort und beide, Rose und Jules, können den Tod nicht aufhalten.

    Mit Rose und Jules thematisiert Sulzer die Klassengesellschaft der damaligen Zeit. Der Autor fängt das Verhältnis zwischen den gehobenen und niedrigen Ständen ausgesprochen gut ein. Eine Hausangestellte gehört zur Notwendigkeit eines funktionierenden Haushalts. Ein Übel, das man in Kauf nimmt, ein Objekt, das man kaum wahrnimmt.

    Erst nachdem die Tragödie von Rose offenkundig wird, beschließen die Brüder, nach langen Nachforschungen bei Gläubigern, Bekannten und dem einschlägigen Umfeld Rose ein Buch über sie zu schreiben. Sie beschreiben eine Frau von niedrigem Stand in allen Facetten und setzen ihr damit ein Denkmal.

    Der Roman „Doppelleben“ ist eine mutige Hommage an die Brüder Goncourt und Rosalie Malingre.

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  1. Der blinde Fleck

    Die Brüder Concourt sind wohl jedem ein Begriff, gibt es doch den nach ihnen benannten Literaturpreis Prix Concourt, der jährlich im Herbst vergeben wird. Sie verkörpern ein Autorenduo, das sich aus einer wohlhabenden Familie stammend, nach dem Tod der Mutter komplett den künstlerischen Interessen widmet, allem voran der Schriftstellerei. Zudem gelten sie als Wegbereiter des Naturalismus, dessen wesentliche Erkenntnis darin besteht, dass der Mensch vor allem durch sein Erbgut, die Zeit, in der er lebt, sowie das soziale Umfeld geprägt ist. All dies haben die Brüder minutiös beobachtet und in ihren umfassenden Tagebüchern festgehalten. 

    Sulzers Roman mit dem Titel "Doppelleben" ist diesem symbiotischem Leben der Brüder Concourt gewidmet. Wir erfahren en Detail, wie sie trotz Altersunterschied gemeinsam lebten, gemeinsam ihre künstlichen Interessen verfolgten, sich in gehobenen Kreisen bewegten, und wie sie all dies gemeinsam verschriftlichten. Sie galten als Schriftsteller mit einer besonders gut ausgeprägten Beobachtungsgabe; nichts entging ihnen. Das glaubte man zumindest. Doch neben diesem ersten titelgebenden Aspekt des Doppellebens gibt es noch einen weiteren: Im weiteren Sinne geht es um das Doppelleben zwischen den gehobenen und privilegierten Kreisen mit ihren opulenten Festmählern und großen Vergnügungen  einerseits und dem durch Elend und Leid geprägtem Leben der Unterschicht andererseits. Im engeren Sinne wird dies am Beispiel des Dienstmädchens Rose aufgezeigt. Diese scheint ein Doppelleben ganz anderer Art zu führen: In ihrer Figur wird viel an Elend und Leid zusammengeführt (Gewalterfahrung, Kriminialität, Alkoholismus, Prostitution), aber diese Seite von ihr bleibt - man glaubt es kaum - den Brüdern zur Gänze verborgen. Sie erleben sie lediglich als treues und pflichtbewusstes Dienstmädchen, welches sie trotz widriger Kochkünste zu schätzen gelernt haben. Erst spät, nach Roses Ableben erfahren sie von dieser anderen Seite "ihrer" Rose und sind sehr bestürzt darüber, dass ihnen all dies verborgen blieb. Sie grämen Rose aber nicht und widmen ihr einen Roman mit dem Titel "Germinie Lacerteux". 

    Obwohl ich gewöhnlich kein Fan historischer Romane bin, konnte mich Sulzer für seinen Roman begeistern. Mir hat diese Widersprüchlichkeit im Leben der Brüder gut gefallen, die ihnen letztlich ihren blinden Fleck vor Augen führte. Rose hat mich als Figur sehr berührt, auch wenn sie sehr naiv ist und in ihrer "Liebesblödigkeit" (Genazino) jede Dummheit begeht, die man sich nur vorstellen kann. So gerät sie auf eine schiefe Bahn, beginnt im Namen der Liebe zu stehlen, zu trinken und sich zu prostituieren. Die Brüder und deren symbiotisches Verhältnis fand ich meisterhaft beschrieben. Die detailgetreuen Beschreibungen der Erkrankung Edmonts und seines darauf folgenden Siechtums bis hin zum Tod fand ich grandiös geschildert - sprachlich sehr gut angepasst an die damalige Zeit. Ich habe durch den Roman mein Wissen um die Brüder Concourt und die Zeit, in der sie lebten, anreichern können. Ob und inwiefern Sulzers Darstellungen zu hundert Prozent historisch belastbar sind oder nicht, und welche Quellen Sulzer nun genau bemühht hat, um seine Version des Lebens von Roses zu zeigen - das sind Fragen, die für mich sekundär sind. Mein Eindruck ist, dass Sulzer das Dienstmädchen so belässt, wie die Brüder es letztlich skizziert haben: nämlich mitunter auch rätselhaft. Der Autor versucht nicht, seine schöpferischen Freiräume zu nutzen, um ein irgendwie plausibles und rundes Bild von Rose zu zeichnen. Ich rechne es ihm auch hoch an, dass er ihre Geschichte nicht in eine Emanzipationsgeschichte ummünzt, in der sich Rose durch ihr Agieren aus gesellschaftlichen Zwängen befreit hat. Rose bleibt so, wie die Brüder sie aus eigenem Erleben und durch Erzählungen gestützt erlebt haben. Dadurch gewint Rose und der ganze Roman für mich an Anthenzität. 

    Am Ende bin ich sehr begeistert von Sulzers Erzählkunst und froh, dass ich mich trotz meiner Abneigung gegenüber historischen Romanen auf die Geschichte eingelassen habe. Große Leseempfehlung!

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  1. Das doppelte Röschen

    Literaturfreunden sind die Namen der Brüder Edmond (1822-1896) und Jules (1830-1870) de Goncourt vielleicht ein Begriff, schließlich wird alljährlich der beste französische Roman nach ihnen benannt. Ein frühzeitiges Erbe erlaubte den Brüdern ein Leben ohne Erwerbsarbeit, sie erlangten schon zu Lebzeiten Ansehen als Schriftsteller und Romanciers und verkehrten in der gehobenen Pariser Gesellschaft. Zola, Flaubert, die Kusine des Kaisers sowie andere berühmte Zeitgenossen gehörten zu ihrem festen Bekanntenkreis. Die Brüder lebten ein symbiotisches Leben, sie teilten alles miteinander: Haus und Hausstand ihrer verstorbenen Mutter, Freunde, Gedanken und zeitweise sogar Bettgenossinnen. „Es gab keine Unstimmigkeiten zwischen ihnen, die gab es nie. Es war, als hätten sie ein Herz, eine Seele, einen Verstand, eine Hand, selbst der Augenblick des sexuellen Verlangens übermannte nicht selten beide zur gleichen Zeit, als wären sie ein einziges Wesen.“ (S. 29)
    Ihre Erlebnisse hielten sie akribisch in den gemeinsam geführten Tagebüchern fest, die Sulzer als wichtigste Quelle für diesen Roman dienten.

    Der Titel des Romans passt wunderbar. Skizziert wird nämlich nicht nur das zwillingsähnliche, eng verbundene Leben der beiden Brüder, sondern auch das Leben ihres Dienstmädchens Rose, das seit Jahren in Diensten der Familie steht und dem gegenüber sie eine große Verbundenheit empfinden: „Sie war so diskret wie ein Tisch oder Schrank, sie gehörte so unverrückbar zu ihnen und ihrer Wohnung wie ein Möbelstück oder eine Tür, die man unzählige Male öffnete und schloss, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, warum man es tat und ob es nötig war, es zu tun.“ (S. 91) Rose gehört einfach dazu. Umso erschütterter sind die Brüder, als sie nach deren Ableben erfahren müssen, dass Rose ein regelrechtes Doppelleben geführt hat. Diese Enthüllung inspiriert sie zu ihrem Roman „Germinie Lacerteux“, in dem einem Dienstmädchen idealtypisch alles Böse passiert, was so passieren kann und der A.C. Sulzer als weitere Quelle für „Doppelleben“ diente.

    Sulzer hat nun diese beiden Doppelleben gekonnt in diesem Roman verknüpft. Dabei darf man keinesfalls eine Biografie der beiden Brüder erwarten. Sulzer konzentriert sich auf die letzten Lebensmonate von Jules, die er aber mit zahlreichen Rückblicken ausstattet, in denen wir viel über das Leben der Brüder erfahren, aber auch das Dienstmädchen Rose näher kennenlernen. Die Perspektiven wechseln. Jules hat sich bereits 1849 mit Syphilis infiziert, einer grausamen Krankheit, die erst mit Erfindung von Penicillin heilbar wurde. Für den Leser ergeben die unterschiedlichen Perspektiven das ein oder andere Aha-Erlebnis. Die Brüder Goncourt, die sich so viel auf ihre Beobachtungsgabe einbilden, wissen nämlich kaum etwas über Rose, die ihr wahres Ich offenbar gut zu verbergen weiß. Zu sehr sind sie stets mit sich und ihrer eigenen Welt beschäftigt, zu der natürlich auch Jules´ Krankheit gehört, deren Verlauf bis ins Detail sehr realistisch beschrieben wird.

    Für mich ein Highlight ist die der erzählten Zeit angepasste Sprache, die in ihrer Altertümlichkeit wunderbar zu den verschrobenen, intellektuellen Brüdern passt. Entstanden ist ein glaubwürdiges Sittengemälde, das viel über die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten mit ihren Moralvorstellungen im Paris des Zweiten Kaiserreiches aussagt: Die Stellung der dienenden Frauen ist miserabel, das Frauenbild im Allgemeinen gleichfalls unterirdisch. Es gibt Herren und Knechte, deren Berührungspunkte sich in engen Grenzen halten. Insofern darf einen die Unkenntnis der Brüder über das wahre Leben ihres Dienstmädchens nicht verwundern, führen sie doch den Lebensstil des gehobenen Bildungsbürgertums, das keinen Zugang zu den Sorgen des einfachen Volkes hat. Zahlreiche Anekdoten aus dem Leben der Goncourts lesen sich unterhaltsam, täuschen aber nicht darüber hinweg, dass die Brüder häufig große Distanz zu anderen Menschen halten. Ihre Gedanken und Wertungen zeigen durchaus Standesdünkel und Überheblichkeit.

    Alain Claude Sulzer ist es gelungen, die beiden völlig gegensätzlichen sozialen Lebensentwürfe in seinem Roman herauszuarbeiten und miteinander in Beziehung zu setzen. Ich habe „Doppelleben“ über weite Teile sehr genossen. Sulzer ist ein Sprachvirtuose ersten Ranges, seine Sprachbilder sind originell, präzise und unglaublich stark in ihrer Aussage. Mit wenigen Worten kann er Emotionen auf den Punkt bringen. Mich hätte allerdings zusätzlich die genaue Quellenlage interessiert. Was entspringt den Tagebüchern, was dem Roman der Brüder, was gehört zu Sulzers Fiktion? Darauf gibt es keine Antwort.

    Es verwundert nicht, dass der frühe leidvolle Tod von Jules de Goncourt im Alter von nur 40 Jahren unerträglich für den überlebenden Bruder ist, der dessen Aufs und Abs sorgsam im Tagebuch dokumentiert. Sulzer hat sich dafür entschieden, diesem Leidens-, Abschieds- und Trauerprozess relativ großen Raum zu geben, der die aufwallenden Gefühle höchst authentisch beschreibt. Einen derart berührenden, realistischen Sterbeprozess liest man selten. Für den einen ist das große Literatur, für mich hätten es ein paar Seiten weniger sein dürfen. Das ändert aber wenig an meiner Leseempfehlung für diesen außergewöhnlichen Roman, der die Brüder Goncourt auch dem deutschsprachigen Publikum näher ins Bewusstsein bringen sollte.

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  1. Eine doppelte Tragödie

    Die Brüder Edmond (1822 – 1896) und Jules (1830 – 1870) Goncourt kannte ich bisher nur dem Namen nach für ihre zahlreichen gemeinsamen Tagebücher, als Mitbegründer des Naturalismus und als Initiatoren des wichtigsten französischen Buchpreises, des Prix Goncourt, der seit 1903 von der Académie Goncourt vergeben wird. Der biografische Roman Doppelleben des Schweizer Autors Alain Claude Sulzer vermittelte mir nun Einblick in ihr Leben und Schaffen, auch wenn es sich ausdrücklich nicht um eine Biografie handelt. Er spielt hauptsächlich während des letzten Lebensjahrzehnts von Jules, angereichert um zahlreiche Rückblenden und einen kurzen Abschnitt über Edmonds 26 Jahre währendes Leben nach dem Tod des jüngeren Bruders. Inhaltliche Schwerpunkte sind die Entstehungsgeschichte ihres gemeinsamen Romans "Germinie Lacerteux" und der langsamen Syphilistod von Jules.

    Brüderliche Symbiose
    Das wunderschöne Cover mit einem Ausschnitt aus dem Gemälde „Le Cercle“ von Jean Béraud zeigt einen Salon, wie ihn die Brüder Goncourt hätten bewohnen können, bourgeois, gemütlich und vor allem ruhig, ein entscheidendes Kriterium für diese stets vom Lärm ihrer Umgebung gequälten, überaus empfindsamen Schöngeister. Für ihre Behaglichkeit sorgte, da sie beide nie verheiratet waren, sich stets selbst genügten und sogar die Geliebte teilten, Personal. Langjährige Haushälterin war Rosalie Malingre, genannt Rose, die mit 17 Jahren 1837 vom Land nach Paris kam. Nach dem Tod ihrer Mutter, der ihnen ein reichliches Erbe und lebenslanges Auskommen bescherte, blieb Rose als Haushälterin bei ihnen und sie ertrugen ihre mangelhaften Kochkünste, ließen sich von ihr umsorgen und bewachen, „knurrend … wie ein alter Kettenhund“ (S. 92), behandelten sie allerdings eher wie einen Gegenstand denn als Lebenswesen:

    "Sie war so diskret wie ein Tisch oder ein Schrank, sie gehörte so unverrückbar zu ihnen und ihrer Wohnung wie ein Möbelstück oder eine Tür, die man täglich unzählige Male öffnete und schloss, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, warum man es tat und ob es nötig war, es zu tun." (S. 91)

    Stoff für einen Roman
    Folglich waren sie, die sich in ihren mehrere Tausend Seiten umfassenden, an die Nachwelt gerichteten Tagebüchern als so überaus genaue Beobachter ihrer Umgebung präsentieren, erstaunt und entsetzt, als sie nach Roses Tod im Jahr 1862 von deren dramatischem Doppelleben erfuhren. Dem schnellen Verzeihen und der Begleichung ihrer Schulden folgte der Entschluss, das Geschehen zum Roman zu verarbeiten: "Germinie Lacerteux" (1865), ist laut Wikipedia „die Geschichte eines Dienstmädchens, das quasi idealtypisch alles Gute und Böse erlebt, das einem Dienstmädchen widerfahren kann“, Roses angereicherte Lebensgeschichte also, die Sulzer wiederum als die wahre wiedergibt.

    Ein Martyrium
    Neben dieser Episode thematisiert Doppelleben Jules‘ 20 Jahre währende Syphiliserkrankung, die ihm, dem kultivierten Mann der Worte, allmählich alles für die Brüder Wichtige raubte: Sprache, Geist, Verstand, Handschrift, Erinnerung, Manieren und gesellschaftlichen Umgang. Alain Claude Sulzer spart hier nicht mit Details und schildert ausführlich Jules Siechtum, aber auch Edmonds Mit-Leiden und sein beständiges Negieren und Verdrängen der Diagnose.

    Ein empfehlenswerter historischer Roman
    Während der zeitpolitische Kontext sehr gut einfließt, hätte ich gerne noch mehr über das gesellschaftliche Umfeld und das Schreiben der Goncourts erfahren. Überzeugend ist der Roman mit der doppelten Tragödie und dem doppeldeutigen Titel trotzdem, auch wegen seiner apart altmodischen Sprache und dem ruhigen Erzählfluss.

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  1. Doppelleben

    Der schweizerische Autor Alain Claude Sulzer bekam 2015 von der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) den Auftrag die Tagebücher der Brüder Edmond und Jules de Goncourt zu lesen. Die Brüder lebten im 19. Jahrhundert in Frankreich, verkehrten in künstlerischen Kreisen und führten ein ausführliches Tagebuch, in dem sie sich teils voller Häme über ihre Schriftstellerkollegen ausließen. Diese Tagebücher und der Roman "Germinie Lacerteux" der Brüder de Goncourt inspirierten Sulzer zu diesem Roman.
    Der Titel "Doppelleben" ist hier durchaus wörtlich gemeint. Zum einen lebten die Brüder in einer fast zwanghaften Symbiose miteinander und teilten sich alles. Sie arbeiteten gemeinsam, wohnten zusammen, gingen zusammen aus, sogar ihre Geliebte teilten sie sich.
    Zum anderen beschreibt der Roman das Leben des Dienstmädchens Rose Malingre, das im Alter von 17 Jahren in den Dienst des Hauses de Goncourt eintrat und der Familie bis zu ihrem Tod treu blieb. Hinter der Fassade der treuen Hausangestellten führte Rose jedoch ein geheimes Doppelleben. Sie wurde missbraucht, verliebte sich unglücklich, bekam ein Kind und das alles unbemerkt von ihren Dienstherren. Erst nach ihrem Tod entdeckten die Goncourts, dass sie von der "anderen" Rose nichts wussten, obwohl sie sie seit Jahrzehnten tagtäglich um sich hatten. Dieses Nichtwissen erschütterte die Brüder derart, dass sie einen Roman über Roses Leben schrieben, das schon oben erwähnte Buch "Germinie Lacerteux".
    Sulzer schreibt in einer etwas altertümlichen, dem Zeitalter der Brüder angepassten Sprache, die aber sehr gut zu der Geschichte passt. Er konzentriert sich dabei hauptsächlich auf die letzten Lebensjahre Jules de Goncourt, der an Syphilis starb. Sulzer beschreibt den Verlauf der Krankheit sehr umfassend; das langsam verschwindende Erinnerungsvermögen, der geistige Zerfall, der Verlust der Wörter und es schmerzt beim Lesen mitzuerleben, wie solch ein Mann des Wortes seiner Fähigkeiten beraubt wird. Auch das Leben von Rose voller Schicksalsschläge und Erniedrigungen ist ergreifend beschrieben. Das war aber auch etwas, was mich am meisten störte, denn mir kam die Tragik dieser Figur völlig überzeichnet vor. Hier hat sich Sulzer wohl etwas zu sehr von der Romanvorlage der Brüder verleiten lassen. Trotzdem habe ich den Roman recht gern gelesen, er ist unterhaltsam und leicht zu lesen. Insgesamt gesehen, wirft das Buch nur einen begrenzten Blick auf das Leben der Brüder de Goncourt, die Krankheit Jules' und sein qualvolles Sterben stehen doch sehr im Vordergrund. Wer mehr über das Schaffen der Brüder erfahren möchte, sollte besser zu einer Biografie greifen.

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  1. 4
    31. Aug 2022 

    Verdrängte Wirklichkeit

    Eine ausgeprägte Beobachtungsgabe ist wohl ein Talent, das quasi Voraussetzung für künstlerisches und gerade auch für schriftstellerische Tätigkeit ist. Die beiden Brüder Goncourt, in deren Leben uns Alain Claude Sulzer in seinem Roman „Doppelleben“ eintauchen lässt, sind auch für sich selber vollkommen überzeugt davon, dass sie mit diesem Talent geradezu übervoll ausgestattet sind und sie so die Basis für ihre schriftstellerische Tätigkeit gesichert haben. Und doch….. Sulzer begleitet sie in diesem Roman gerade insbesondere beim Scheitern an dieser Selbsteinschätzung. Läuft doch um sie herum und direkt neben ihnen das Leben in Bahnen, die sie vollkommen übersehen, missverstehen oder zumindest (wissentlich?) verdrängen.
    Da ist das Leben ihrer langjährigen Haushälterin Rose, von der sie annehmen, dass ihr Leben so ganz unter dem Dach der Goncourts und nur im ihren Diensten stehend stattfindet. Von dem doch sehr intensiven Eigenleben dieser Frau abseits und außerhalb der vier Wände der Goncourts bleibt ihnen alles vollkommen verborgen. Sogar Roses Schwangerschaft, die sie - nur durch eine Schürze überdeckt - monatelang vor ihnen herträgt, bleibt für sie unentdeckt.
    Und da ist die Krankheit von Jules Goncourt, der langsam und stetig dahinsiecht, nachdem er sich an der Syphilis angesteckt hat. Der Bruder – zwar ständig um den Jüngeren Jules besorgt – erkennt diese Krankheit nicht, will auch die Worte des Arztes nicht hören, sondern lieber in dem Glauben leben, dass Jules sich an der harten Schriftstellerarbeit aufreibt und deshalb an Erschöpfung leidet. Das hält Edmond tatsächlich bis zum Tod seines Bruders und darüber hinaus aufrecht.
    Das Schriftstellerleben der Goncourts schildert uns Sulzer hier also in biographischen Auszügen als ein Leben von Verdrängung. Gleichzeitig aber strahlt der Roman auch eine tiefe Hochachtung vor dem Werk der beiden Autoren aus. Sät aber alle Zweifel an der Wahrhaftigkeit ihres Werks. Ist diese Rose doch tatsächlich die Heldin eines Romans der Goncourts: „Germinie Lacerteux“ – ein Roman, der ganz dem Leben dieser Rose gewidmet ist. Wie aber konnten die Goncourts einen Roman über das Leben der Frau schreiben, die sie nie verstanden haben bzw. die sie letztlich an ihrer Seite komplett übersehen haben?
    Aber das ist letztlich nicht die richtige Frage im Anschluss an die Lektüre des Romans: Die Frage, die mich als Leserin bei dieser Lektüre tief bewegt hat, ist:
    Warum weckt Sulzer diese tiefe Skepsis am Werk dieser Autoren? Will er ihr Werk diskreditieren? Diesen Eindruck macht er nicht, denn er geht in dem Buch trotz allem sehr liebe- ja geradezu ehrfurchtsvoll mit ihnen um.
    Aber warum dann? Diese Frage bleibt für mich auch nach der Lektüre offen. Die Motivation für diesen Roman bleibt mir komplett verschlossen.
    Und doch hatte ich sehr viel Freude an der Lektüre, vielleicht auch gerade, weil der Roman so freisinnig und etwas respektlos mit den Großen der Literatur umgeht und uns als Leser eröffnet, welche Fallstricke wir präsentiert bekommen in einem literarischen Werk, gerade dann, wenn es vorgibt, die Realität wiederzugeben, wie das bei einer Biographie vorgeblich der Fall sein sollte.
    Für dieses Spiel mit dem Leser, für dieses Spiel mit der Literatur gebe ich lesefreudige 4 Sterne.

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  1. 5
    29. Aug 2022 

    Herren, Mägde und der Tod – eine Zeitreise

    Die Brüder Goncourt sind die Namensgeber des wichtigsten französischen Literaturpreises. Sie waren eine Ausnahmeerscheinung in ihrer Zeit. Und zwar durch ihre Entscheidung, ehelos zu bleiben und ein symbiotisches (Doppel-)Leben zu führen, in dem sie alles teilten: Ihr mehrtausendseitiges Tagebuch, für das sie berühmt sind, das Verfassen ihrer Romane, die Geliebte, den Wohnsitz. Und Rose, ihre Hausangestellte, die sie bereits von ihrer Mutter übernommen haben.

    Als Rose stirbt, müssen die Brüder erkennen, dass sie, die sich für so exzellente Beobachter gehalten haben, nichts von deren Lebensdramen mitbekommen haben - auch Rose führte ein „Doppelleben“. Schockiert über diese Erkenntnis verfassen sie einen Roman über sie: „Germinie Lacerteux“. Dieser, von den Zeitgenossen sehr negativ rezipiert, gilt als der erste naturalistische Roman in der französischen Literatur, von Zola als Einzigem entsprechend gewürdigt. Auch das sichert den Brüdern einen Platz im französischen Olymp.

    Sulzer nutzt die Tagebücher und Romane der Goncourts als Quellen. Er ist jedoch nicht angetreten, eine vollständige Romanbiographie der Brüder zu verfassen. Der zeitgeschichtliche Hintergrund wird zwar eingearbeitet und hilft bei der Orientierung, ist aber nicht Sulzers Thema.

    Thema ist vielmehr das Leben und die Lebensumstände von Rose im Kontrast zu ihren privilegierten Dienstherren. Zwar waren diese relativ wohlwollend, gaben ihr viel Freiraum und tolerierten ihre (sehr witzig geschilderten) katastrophalen Kochkünste. Aber dennoch erweist sich Roses Leben als extrem und durch und durch tragisch. Rückblenden bis ins Jahr 1837 rollen ihre Geschichte auf, die ansonsten in der historischen Gegenwart nach Roses Tod spielt.

    In dieser Gegenwart ereignet sich der ebenso tragische frühe Tod des jüngeren Bruders, Jules. Sulzer schildert sein langsames Sterben im Alter von 39 Jahren an der mittlerweile heilbaren Krankheit Syphilis äußerst realistisch; nie habe ich eine derart eindrückliche Beschreibung dieses qualvollen Todes gelesen und fand das kaum aushaltbar.

    Am meisten erschüttert an diesem Roman hat mich allerdings die Darstellung der offenbar unüberwindbaren Kluft zwischen den sozialen Klassen, selbst für derart liberale Geister wie die Goncourts. Die Brüder gingen so in ihrer Welt der gesellschaftlichen Eliten auf, dass sie für Anderes in ihrer Umgebung keine Wahrnehmung hatten. Rose hingegen, typisch für ihre Klasse, lebt ein trostloses, limitiertes Leben, sie hat kaum Möglichkeiten. Sie selbst kann ihr Leiden nicht einordnen, begreift das Ausmaß des Unrechts nicht, das sie erleidet. Weder Magd noch Herren erfassen das Maß an Ausbeutung, dem sie unterworfen ist. Rose hat einen starken Willen, der sich auf nichts richten darf. Und so will sie das Falsche, das letztlich ihren Untergang besiegelt.

    Schlussendlich habe ich den Roman als eine gleich doppelte Geschichte des Niedergangs und Sterbens gelesen: Den von Rose, der Dienstmagd, und den von Jules, ihrem Dienstherren, die beide viel zu jung und an den Folgen ihrer Lebensführung zugrunde gehen. Auf dieser Ebene haben die Klassenschranken somit ihre Wirkung verloren; eine bittere Ironie.

    Das alles geht sehr zu Herzen und wird von Sulzer in eine dem Idiom der Zeit anverwandelte Sprache gefasst. Das hat nichts Altertümelndes, sondern geschieht mit viel Fingerspitzengefühl und bleibt immer gut lesbar. Am Ende hat man nicht so sehr seine Geschichtskenntnisse erweitert – vielmehr ist „Doppelleben“ ein echter historischer Roman, dem es gelingt, ein Gefühl für die damaligen Zeiten zu vermitteln, jenseits jeder Romantisierung. Und zwar von beiden Seiten der Schranke – von Dienern und Herren.

    Eine Bereicherung für alle verhinderten Zeitreisenden.

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  1. Das doppelte Doppelleben

    Die Brüder Edmond und Jules de Goncourt sind hierzulande meist nur für den nach ihnen benannten Literaturpreis bekannt. Ihr Hauptwerk besteht in einem riesigen Fundus an Tagebüchern, die sie seit 1851 gemeinsam führten und das Edmond nach dem frühen Tod des Bruders noch viele Jahre allein fortsetzte. Die Goncourts waren Gesellschaftsmenschen, verkehrten mit den Reichen und den Berühmten ihrer Zeit und nahmen in ihren Tagebüchern viele Namen, die man auch heute noch kennt, unter ihre spitze Feder. Alain Sulzers "historischer Roman" über das Brüderpaar beginnt 1869, geht aber in einigen Rückblenden in davor liegende Zeiträume zurück.

    Der Titel "Doppelleben" bezieht sich natürlich zunächst auf das eng verbundene Brüderpaar, das trotz des Altersunterschieds von beinahe neun Jahren seit der Kindheit wie ein siamesisches Zwillingspaar zusammenlebt: die beiden teilen alles, Wohnung, Arbeit, sogar ihre Frauengeschichten, von denen keine richtig tief geht. Nach dem Tod ihrer Mutter haben sie einander vesprochen, nie zu heiraten und immer zusammenzubleiben. Zu dem Zeitpunkt, als der Roman beginnt, ist der jüngere Bruder Jules bereits krank, hat Erschöpfungszustände und merkwürdige Sprechstörungen - im Grunde wissen beide Brüder, dass er an Syphilis leidet, wollen aber weder die Ursache noch die Folgen wahrhaben. Dieser ersten Verdrängung entspricht eine zweite, die den Hauptteil des Romans ausmacht. Dabei geht es um ihr Dienstmädchen Rose, das die beiden als weitgehend bedürfnislosen "treuen Wachhund", wie ein Möbelstück, erleben. Dass Rose nach Jahren treuer Dienste krank wird, offensichtlich an einem Lungenleiden dahinsiecht, ist nicht viel mehr als eine Unbequemlichkeit; man holt den Arzt, aber wirklich helfen kann niemand. Erst nach Roses Tod erfahren die Brüder, dass sie jahrelang ein Doppelleben - der zweite Bezugspunkt für den Titel - geführt hat: sie hatte einen Geliebten im Viertel, dem sie hoffnungslos verfallen war, gab ihm alle Ersparnisse und bestahl ihre Dienstgeber, war zweimal schwanger, trank heimlich vom Morgen bis zum Abend, und von alledem haben die Brüder rein gar nichts gemerkt. Die Aufdeckung ihrer Blindheit erschüttert die beiden tief in ihrem Selbstverständnis als Schreibende, als Beobachter. "Doch was fingen sie mit ihrem Wissen an und was mit ihrem Unwissen?" (S. 217). Als Folge dieser Erschütterung entsteht einer der ersten naturalistischen Romane der französischen Literatur: "Germinie Lacerteux" - der Roman einer Dienstmagd.

    In der (wahrscheinlich richtigen) Annahme, dass die Mehrheit seiner Leser den Roman "Germinie" nicht kennt, nimmt sich Sulzer viel Zeit, Roses Lebens- und Leidensgeschichte nachzuerzählen. Er spart dabei nichts aus, was in "Germinie" zu lesen steht, wenn man denn Zugang zu dem Buch hat. Doch hier tut sich ein Problem auf, das in der Leserunde heftig diskutiert wurde und zu dem es keine glatte Lösung zu geben scheint. "An ihrem Beispiel konnten sie (die Brüder Goncourt) demonstrieren, wozu ein Mensch, der seinen Trieben nachgibt, fähig ist" heißt es auf S. 219 und etwas darunter: "Dieses Buch (Germinie Lacerteux) enthielt mehr Wahrheit als das Leben. (...) Edmond und Jules enthüllten die Lügen und Täuschungen, die sich in ihren eigenen vier Wänden ausgebreitet hatten." Letztlich geht aus Sulzers Ausführungen zum Schaffenprozess des Romans nicht hervor, was an Roses Leidensweg authentisch und verbürgt ist und was die Brüder hinzu erfunden, oder freundlicher ausgedrückt, quasi extrapoliert haben. Vieles in "Germinie" ist offensichtlich erfunden, so zum Beispiel ihre Arbeitgeberin (eine alte, verarmte Adlige). Sulzer erzählt Roses Leben in "Doppelleben" aber so, als sei es in "Germinie" exakt abgebildet worden, ohne jede Verdichtung oder Verstärkung. Hier fehlt mir ganz klar eine Darstellung des eigentlichen schriftstellerischen Schaffensprozesses durch die Brüder.

    Wo Sulzer eindeutig brilliert und ein authentisches Bild entwirft, zeigen die weiteren Themen des Buches: vor allem Jules' Krankheitsgeschichte, die gekennzeichnet ist von Verdrängung des Unvermeidbaren, dem Verlust seiner Fähigkeiten und seines Auftretens. Hier wird ein unaufhörlicher Niedergang geschildert, die Begleitung jedes Stadiums durch den Bruder, bis hin zu völligem Verfall und Verzweiflung - die Verdrängung bleibt jedoch bis zuletzt: "Er (Jules) war nicht krank. Er hatte sich verausgabt. Er hatte seine Kraft und seinen künstlerischen Ehrgeiz zu sehr herausgefordert" stellt Edmond fest (S. 252). Dass Jules schlicht und einfach durch eine Geschlechtskrankheit hingerafft wird, bleibt stets ungesagt - ebenso die völlige Sorglosigkeit in bezug auf die Ansteckungsgefahr. Insoweit gibt Sulzer ein sehr authentisches Sittenbild der damals herrschenden Doppelmoral.

    Erwähnt werden sollte noch die Stilebene des Romans. Wo Sulzer die Erlebnisse des Dienstmädchens schildert, bedient er sich einer direkteren Sprache, als es die Goncourts in ihrem "Germinie"-Roman taten. Davon abgesehen hat aber das ganze Buch einen reizend altertümlichen Ton, der sofort in die Zeit zurückversetzt, als Paris noch kleinstädtisch war und im Nachbarhaus ein Pferd lebte. Die sorgfältigen und lebhaften Schilderungen des Milieus - was das geistige Milieu der damaligen bürgerlichen Gesellschaft einschließt - machen das Buch zur Lesefreude.

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  1. Die Brüder Goncourt + die Protagonistin eines ihrer Bücher

    Als Mutter Annette Cécile de Goncourt am Sterbebett von ihrem älteren (26-jährigen) Sohn Edmond verlangte, dass er sich künftig um seinen jüngeren (17-jährigen) Bruder Jules kümmere, übernimmt Edmond die Verantwortung und beide beschließen, niemals zu heiraten. Sie leben von nun an zusammen, teilen sich das Haus und neben der literarischen Arbeit – ‚ihr gemeinsames Schreiben war wie ein Wechselgesang‘ - auch die Geliebte Maria, eine Hebamme.

    Bis zum Tod von Jules waren beide nach dem Tod der Mutter nur 2 Nächte getrennt. Wir erleben die Brüder in ihrem vielfältigen Freundeskreis in Künstler- und Adelskreisen und somit das Paris, Mitte des 19. Jahrhunderts. Die beiden führen also ein Leben im Doppelpack – > ein Doppelleben.

    Eine andere Bedeutung für ‚Doppelleben‘ bezeichnet ‚die Lebensführung einer Person in mindestens zwei separaten und verschiedenen Milieus usw., die die Person anderen Personen gegenüber wenigstens zum Teil bewusst verheimlicht‘. Und da sind wir bei Rose, der langjährigen Dienstbotin im Hause Goncourt, schon von der Mutter übernommen. Diese, in einem Liebeswahn zu Alexandre, einem Tunichtsgut, einem Taugenichts (heute wahrscheinlich ‚womanizer‘ genannt) gefangen, ‚ihre einzige Liebe, zu der sie wie ein Hund stets zurückehren würde, gestreichelt oder geschlagen, ihre Bestimmung war es losgeschickt zu werden, um die schönsten Leckerbissen zu apportieren‘.

    Es ging mir gewaltig unter die Haut, zu lesen, wie Rose ausgenutzt wurde (und sie das hat auch mit sich machen lassen!), sie ihre Herrschaften bestahl, dem Alkohol verfiel, ‚fremde Männer anmachte‘, und Edmond und Jules nichts davon mitbekamen, nicht einmal ihre Schwangerschaft, ihre Tochter Louisette, die bei einer Amme aufwuchs, deren Tod und anschließend die Trauer von Rose. Erst nach dem Tod von Rose erfahren die Brüder von Maria, der Hebamme, (ihrer Geliebten und Freundin von Rose) die ganze Geschichte ihrer Dienstbotin und verarbeiten diese nach 3 Jahren in ihrem Roman ‚Germinie Lacerteux‘. (Wie man so eine Tragik nicht bemerken kann, die sich unmittelbar vor dem Auge abspielt, kann ich nicht nachvollziehen! Waren sie nur mit sich beschäftigt? Nahmen sie Rose nicht als Mensch wahr, obwohl die sie rührend umsorgte?) Schmunzeln musste ich - als leidenschaftliche Köchin - bei den geschilderten Geschmackerlebnissen aus Rose‘ Küche.

    Jules hatte sich mit 20 Jahren bei einer Prostituierten Syphilis geholt und ‚Geist, Intelligenz und Verstand verließen ihn über die Jahre‘. In Folge wird der Leser mit dem langen (mir zu langem – es war schwer auszuhalten!) und grausamen Ende von Jules konfrontiert und auch hier verdrängt Edmond die Wirklichkeit und ist der Überzeugung, dass sein Bruder an ‚Überanstrengung im Dienst der Kunst‘ gestorben wäre.
    Die Geschichte der Brüder Goncourt und Rose ist eingebettet in der Geschichte Frankreichs mit der Belagerung von Paris und dem Ausrufen von Wilhelm I in Versailles zum deutschen Kaiser und dem Unterzeichnen des Waffenstillstandsvertrags. Außerdem lernen wir mit den Brüdern den französischen Literaturpreis ‚Le prix Goncourt‘ kennen, der seit 1903 verliehen wird und nach ihnen benannt wurde.

    Der Roman ist sehr, sehr abwechslungsreich: brüderliche Liebe, gemeinsame Arbeit, am Ende die Verzweiflung, den anderen verfallen zu sehen, die Trauer über den Tod, dazu die tragische Geschichte von Rose - er nahm mich von Anfang an gefangen! Dazu die anspruchsvolle Sprache! Es wäre für mich jedoch ein noch größerer Genuss gewesen, wenn das Ende von Jules etwas gestraffter erzählt worden wäre! Vier Sterne vergebe ich deshalb dafür!

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  1. 5
    25. Aug 2022 

    Vom Leben und Sterben

    Von den Brüdern Goncourt wusste ich bisher wenig. Einzig, dass sie die Gründer und Stifter des wichtigsten französischen Literaturpreises sind, dem „ Prix Goncourt“, der jährlich den besten französischsprachigen Roman auszeichnet und dass sie in ihren mehreren tausend Seiten starken Tagebüchern ein halbes Jahrhundert, von 1851 bis 1896, französische Kultur- und Alltagsgeschichte festhielten.
    Dass ich mein Wissen über diese zwillingsgleichen Brüder auf unterhaltsame Weise erweitern konnte, verdanke ich dem Schweizer Autor Alain Claude Sulzer, der mir mit seinen Romanen, allen voran „ Zur falschen Zeit“ und „ Aus den Fugen“ in bester Erinnerung ist.
    In seinem neuesten Werk zeichnet er das Leben der Goncourts nach. Dabei beschränkt er sich aber vor allem auf die letzten gemeinsamen Jahre. Jules, der Jüngere, starb schon im Alter von 39 Jahren an den Folgen der Syphilis, die er sich früh eingehandelt hatte.
    Am Sterbebett der Mutter versprach Edmond, sich zukünftig um seinen jüngeren Bruder zu kümmern. Und die Brüder gelobten, niemals zu heiraten, immer zusammen zu bleiben. Finanziell unabhängig beschlossen sie, Künstler zu werden und zur Inspiration eine Reise zu unternehmen. „Als Maler hatten sie sich aufgemacht, als Schriftsteller kehrten sie zurück.“
    Sie leben zusammen, sie teilen sich die Frauen und sie schreiben gemeinsam ihr berühmt- berüchtigtes Tagebuch, aber auch Romane. Sie pflegen ihre Bekanntschaften mit den Geistesgrößen der Zeit, sind regelmäßig Gast bei den Empfängen der Prinzessin Mathilde, einer Cousine des Kaisers. In deren Salon erfahren sie den Klatsch und Tratsch der besseren Gesellschaft , erhoffen sich aber auch Beifall für ihr eigenes literarisches Werk.
    Doch die Krankheit holt Jules ein. „ Jules hing am Leben, aber das Leben hing nicht an Jules.“
    Versucht er sie anfangs noch mit Hanteltraining zu besiegen oder geht zu den verhassten Badekuren, ist aber bald offensichtlich, dass sich der Verfall nicht verhindern lässt. Ausfallerscheinungen, der Verlust der Sprache, zunehmende Demenz sind die schrecklichen Folgen dieser Erkrankung.
    Doch Sulzer beschränkt sich nicht auf die beiden Brüder. Parallel dazu erzählt er die Lebensgeschichte ihres Dienstmädchens Rose. Die war schon bei der Mutter Goncourt in Dienst und Edmond und Jules übernehmen sie, obwohl ihre Kochkünste grauenhaft sind.
    Rose ist ein einfaches Mädchen vom Land, dessen Naivität von allen nur ausgenutzt wird und die nicht mal eine Sprache findet für das, was ihr geschieht. Sie verfällt einem Nichtsnutz, für den sie alles Ersparte ausgibt, für den sie sogar ihre Arbeitgeber betrügt und bestiehlt. Sie wird schwanger, doch das Kind stirbt früh. Rose wird immer haltloser, beginnt zu trinken, sich wahllos Männern hinzugeben.
    Edmond und Jules merken von all dem nichts. Erst als Rose ernsthaft erkrankt, kümmern sie sich um sie. Doch es ist zu spät.
    Und als sie nach Roses Tod von deren wahrem Leben erfahren, können sie es nicht fassen. Diese ganze Tragödie spielte sich vor ihren Augen ab, ohne dass sie etwas davon bemerkten. „ Welch eine Beleidigung ihres Intellekts, Roses wahre Natur nicht erkannt, nicht erahnt zu haben.“ Sie, die mit ihren Tagebüchern die menschliche Natur als Objekt ihres Schreibens ausgemacht hatten, waren so leicht zu täuschen.
    Bald überwinden sie die Enttäuschung über Roses Betrug und ihr eigenes Versagen und beginnen einen Roman über sie zu schreiben. In „ Germinie Lacerteux“ errichten sie ihrem früheren Dienstmädchen ein literarisches Denkmal. Das Buch wird ein Misserfolg, die Leser fühlen sich abgestoßen vom ganzen Sujet. Nur ein bisher unbekannter Kritiker, Emile Zola, ist begeistert von der naturalistischen Schilderung eines Frauenlebens aus der Unterschicht. Die Brüder Goncourt gelten nicht zu Unrecht als Begründer des Naturalismus.
    „ Doppelleben“- dieser Titel ist doppeldeutig. Zum einen meint er das zwillingsgleiche Leben der Brüder, die bis zu Jules Tod alles teilten, alles gemeinsam machten und sehr oft dasselbe dachten. Andererseits bezieht er sich auf das Doppelleben, das Rosé vor den Brüdern geheim hielt.
    En passent erfährt der Leser so einiges über das Leben in Paris zur Zeit des Zweiten Kaiserreichs, liest von Berühmtheiten, dem Wissensstand in der Medizin, neuen Erfindungen und politischen Entwicklungen. Dabei zeigt Sulzer auch, wie die Figuren in ihren jeweiligen Klassen feststecken. Da gibt es bei aller Sympathie füreinander keine Berührungspunkte. Rose käme nie auf die Idee, sich ihren Dienstherren anzuvertrauen und Jules und Edmond nehmen Rose nur in ihrer Funktion als Arbeitskraft wahr. „ … sie gehörte zu ihnen… wie ein Möbelstück…“
    Doch das Historische steht nicht im Mittelpunkt.
    Dafür erzählt Sulzer anrührend, schonungslos und voller Empathie vom Sterben zweier Protagonisten. Mich hat dabei das Schicksal aller drei Hauptfiguren gleichermaßen berührt. Sei es das tragische Leben von Rose, das so wenig Glück und umso mehr Kummer für sie bereithielt. Aber auch das langsame Dahinsiechen von Jules und das Leid des Älteren angesichts des qualvollen Ende seines Bruders geht zu Herzen. Hilflos muss Edmond das miterleben und groß ist seine Angst vor einem Weiterleben und - arbeiten ohne den begabteren Bruder.
    Es ist große Erzählkunst, wie Sulzer das schafft, ohne in den Kitsch oder ins Pathos abzugleiten. Aber auch sonst ist Sulzers Sprache ein einziger Lesegenuss. Er schreibt elegant, imitiert dabei leicht den Stil des 19. Jahrhunderts, ist manchmal ironisch und findet ungemein treffende bildhafte Formulierungen.
    Alain Claude Sulzer stützt sich auf zwei Quellen, zum einen die Tagebücher, in denen die Brüder detailliert festhielten, was um sie herum geschah, zum anderen den Roman, den sie über Rose schrieben. Trotzdem ist sein Buch keine Biographie, sondern ebenfalls ein Roman. Auch seine Rose ist wie die der Goncourts eine literarische Figur. In ihr verdichtet sich das Schicksal vieler Frauen aus ihrer Gesellschaftsschicht.
    Hervorheben möchte ich auch die schöne Gestaltung des Buches. Das Cover ziert ein Gemälde, das trefflich in die Zeit passt und auf dem Autorenphoto sieht man den Autor in einem Doppelportrait Edmond Goncourt nachempfunden.
    „ Doppelportrait“ ist ein Roman, der uns von vergangenem Leben und Sterben erzählt, sprachlich und literarisch äußerst gelungen. Ein intensives Leseerlebnis!

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  1. Die Brüder Goncourt: so haben sie gelebt.

    Kurzmeinung: Ich habe einen (für mich) neuen Autor entdeckt. Es lebe die Schweiz. Sie hat gute Literaten!

    A. C. Sulzer widmet sich in seinem Roman dem Brüderpaar Goncourt und ihrer Zeit. Es handelt sich bei „Doppelleben“ um einen historischen Roman. Freilich nimmt sich der Autor bei der künstlerischen Gestaltung einige Freiheiten heraus, es ist eben ein Roman und keine Biografie. Gründlich studierte der Autor jedoch die Quellen: die Brüder führten ein Tagebuch, das zusammen mit den anderen Romanen, die sie verfassten, die Grundlage für den Roman von heute bildet.

    Der Kommentar:
    In dem Roman „Doppelleben“, der durch seine Sprache, seine Bildhaftigkeit, seine leise Ironie und das dezente Einflechten des historischen Hintergrunds besticht, erlebt man sowohl das Brüderpaar, ihren familiären Background und die feine Gesellschaft - wie man auch die Kehrseite des funkelnden Lebens der Oberschicht zu Gesicht bekommt, nämlich das Leben der ausgebeuteten Unterschicht.

    Exemplarisch dafür steht Rose, das Dienstmädchen der Brüder, die bereits in jungen Jahren ins Haus kam und schon ihrer über alles geliebten Mutter diente. Dass Rose jedoch kein behagliches Leben in ihrem Haus hatte, erfahren die Brüder in vollem Umfang erst nach ihrem Tod. Wie die Brüder darauf reagieren, auch das erzählt uns Alain Claude Sulzer.

    Die Unterscheidung dessen, was einerseits Sulzer geschrieben hat und was die Brüder selber über Rose in ihrem Roman „Germinie Lacerteux" (1865) festgehalten haben, ist schwierig bis unmöglich. A. C. Sulzer macht dies nicht kenntlich.

    Der historischen Figur Rose kommt man nur bedingt auf die Spur, da die Brüder Goncourt in ihrem Roman über sie natürlich nicht nur deren Leben, sondern auch ihre eigene Weltanschauung samt ihre mit Standesdünkeln behafteten Wertungen einfließen ließen. Die Figur der Rose, die eine tragende Rolle in „Doppelleben“ innehat, ist exemplarisch, nicht unbedingt authentisch. Und trotzdem ist sie eine wichtige literarische Figur, an der sich andere Schriftsteller ein Beispiel genommen haben. Der Naturalismus fand Eingang in die Literatur.

    Fazit: Immerhin haben die Brüder Goncourt mittelbar den Prix Goncourt gestiftet, einen der bedeutendsten Literaturpreise Frankreichs. An sie erinnert zu werden, ist ein Vergnügen.

    Kategorie: Historischer Roman
    Verlag: Galiani. Berlin. 2022/Kiwi.

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