Die Wut, die bleibt

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Wut, die bleibt' von Mareike Fallwickl
3.5
3.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Wut, die bleibt"

Helene, Mutter von drei Kindern, steht beim Abendessen auf, geht zum Balkon und stürzt sich ohne ein Wort in den Tod. Die Familie ist im Schockzustand. Plötzlich fehlt ihnen alles, was sie bisher zusammengehalten hat: Liebe, Fürsorge, Sicherheit.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:384
EAN:9783498002961

Rezensionen zu "Die Wut, die bleibt"

  1. Gewaltige Wut

    Ja, wütend bin ich in der Tat – ich bin mir nur ziemlich sicher, dass ich nicht unbedingt die Art von Wut empfinde, auf die der Roman abgezielt hat. Mareike Fallwickl widmet sich einem wichtigen Thema: der persistierenden, unumkehrbar erscheinenden Ungleichheit von Frauen und Männern, verursacht durch ein traditionelles, überkommenes Rollenverständnis, das zwar zunehmend altmodisch erscheint, aber dennoch vielfach weitergelebt wird, auch weil Frauen es oftmals nicht wagen, ihren Aufgabenbereich infrage zu stellen. Und genau da fangen meine Wut und meine Kritik schon an. Das Rollenverständnis, die Care-Aufgaben, das Bemuttern sind etwas, das vor allem von Frauengeneration zu Frauengeneration weitergegeben wird. Männer beurteilen nur selten die Fähigkeiten von Frauen, eine gute Mutter und Hausfrau zu sein – weil sie diese Tätigkeiten nur selten überhaupt bewusst wahrnehmen. Frauen untereinander sehr wohl – und keine Kindergartenmutter der Welt würde sich wohl die Blöße geben wollen, dass ihre Sprößlinge ohne selbstgebackene Muffins am Geburtstag in der KITA erscheinen, allein schon um das Gewisper und Gemurmel zu vermeiden und als „unzureichend“ klassifiziert zu werden. Dies hätte Fallwickl meines Erachtens aufgreifen können und müssen: die abschätzige Art und Weise wie Frauen miteinander umgehen und dadurch das patriarchale System selbst stützen. Stattdessen sind hier die Männer an allem schuld, weil sie unterlassen, vernachlässigen und gewalttätig sind.

    Sarah, selbst kinderlos, springt nach dem Tod ihrer Freundin unaufgefordert in die vakante Mutterrolle. Der mangelnden Anerkennung, der konstanten Überforderung und der unausgesprochenen Verantwortung schließlich doch etwas überdrüssig, schafft sie es dennoch nicht ein zielführendes Gespräch mit dem Vater der Kinder, der sein altes Leben unverändert weiterlebt, zustande zu bringen. Statt mit Johannes zu sprechen, kommuniziert sie mit der toten Helene – was nicht hilfreich ist. Und während Sarah in Hausarbeit erstickt, aber nicht darüber redet, arbeitet der Roman darauf hin, dass man den Vater als Nutznießer sehen soll, als jemanden, der einfach sehr bequem das durch Sarahs Hilfe entstandene System nach allen Regeln der Kunst ausnutzt und davon profitiert, einfach weil er ein Mann ist, der sich geschickt aus der Affäre zieht, weil er es (gesellschaftlich) eben kann. Ganz ehrlich: es gibt wohl niemanden, egal ob männlich oder weiblich, der nicht eine so komfortable Lösung sofort ergreifen würde, vor allem wenn das Gegenüber nicht einmal sagt, dass ihr oder ihm die Lage nicht passt. Es tut mir leid, aber dass Sarah so blauäugig mit ihrem anscheinend übergroßen Helfersyndrom in die Bresche springt und unfähig ist, sich daraus wieder zu lösen, ist ihr Problem und nicht das ihrer Umgebung. Dazu kommt, dass der Roman in diesem Handlungsstrang einfach viel zu einseitig verläuft. Die Männerfiguren in Sarahs Leben, neben dem Witwer ihrer Freundin ihr sehr junger Freund Leon, sind einfach so unterkomplex und stereotyp gezeichnet, dass mir die Haare zu Berge stehen. Und so gerät Sarahs Geschichte zu einer zu plakativ geratenen Abrechnung mit den bequemen Männern, die Frauen nach Strich und Faden ausnutzen, sich bedienen lassen und dabei noch wie der tolle Hecht fühlen.

    Der Kontrast zu der sehr naiv erscheinenden Sarah ist die überaus gender-bewusste Lola, Tochter der verstorbenen Helene, die ihr Wissen um Diskriminierung und mangelnde Gleichberechtigung auf sehr überhebliche Art und Weise an Sarah weitergeben will. Lolas Verhalten gegenüber Sarah ist von beständiger Arroganz gekennzeichnet. Ihre im Grundsatz durchaus zutreffenden Wahrnehmungen und Optimierungsvorschläge haben mich sensibilisiert, gleichzeitig aber auch extrem genervt. Lola sitzt auf einem enorm hohen Ross, ihr Anspruch die Weisheit der Welt gepachtet haben, ist einfach nur unangenehm, was dazu führt, dass man den ganzen Feminismus nur noch mit hochgezogenen Augenbrauen folgt. Das ist sehr bedauerlich, denn gerade hier wäre es doch von Bedeutung gewesen ein Umdenken anzustoßen. Aber dadurch, dass ein zu sehr von sich überzeugter Teenager all die wichtigen Ziele referiert, verlieren die Argumente auf subtile Art an Ernsthaftigkeit.
    Dazu muss man konstatieren, dass auch in den Lola-Teilen Männer nur minimale Nebenrollen haben, hier handelt es sich um Aggressoren und Gewalttäter. Da Lola dies in ihrem feministischen Universum nicht länger dulden kann, holt sie zusammen mit ihrer Mädchengang zum Gegenangriff aus und verprügelt und schlägt Männer, die mutmaßlich Frauen attackiert haben. Gewalt wird also mit Gewalt vergolten.

    Warum bin ich nun wütend? Ich bin wütend, weil der Roman ein wichtiges, aktuelles Thema behandelt und es trotz aller Mankos geschafft hat, mir die Augen für bestimmte Verhaltensweise, gesellschaftliche Normen und Werte zu öffnen, die man meist ungefragt und unbewusst akzeptiert, dabei agiert er aber leider so plakativ, offensichtlich und einseitig, dass ich ihn nicht wirklich ernst nehmen kann. Er ist richtig gut geschrieben und hat viele Aspekte, die diskussionswürdig sind, aber seine eindimensionalen Männerfiguren verhindern eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Thematik, der durch diese simple Schwarz-Weiß-Zeichnung die Komplexität entzogen wird. Dazu kommt, dass der Roman in der ewigen Wiederholung von Alltagsmomenten leider durchaus ein paar Längen aufweist und meines Erachtens nicht gut über die Ziellinie gebracht wird. Besonders der Lola-Strang beinhaltet eine Auflösung, die mehr als fragwürdig ist.

    Ich frage mich sehr ernsthaft, wer die Adressatengruppe dieses Romans sein soll. Die Kapitelüberschriften deuten hohe Komplexität und Abstraktionsgrade an, zu Beginn gab es an einer Stelle sogar ein feines erzähltechnische Spielchen, aber der Inhalt des Romans und seine Aussage sind so einfach gestrickt, dass man sich nicht groß bemühen muss, die Funktion des Textes zu erkennen. So bleibt der Roman eine Lektüre, die ausschließlich die Emotionen anspricht, auf welche Art auch immer.

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  1. Ein feministisches Manifest

    Bereits auf der ersten Seite geschieht das Unglaubliche: Helene, Anfang Vierzig und Mutter von drei Kindern, steht nach einer provozierenden Frage vom Abendbrottisch auf, geht auf den Balkon und springt in den Tod. Wie gehen die 15-jährige Tochter Lola und ihre zwei kleinen Brüder damit um? Wie reagiert der Ehemann Johannes? Was macht der plötzliche Verlust mit Helenes bester Freundin Sarah? Wie Fallwickl den vielfältigen Emotionen Ausdruck verleiht und der Trauer Raum gibt, ist großes Kino. „Durch ihren Sprung hat Mama sie beschädigt, jede:n Einzelne:n in dieser kühlen, schmucklosen (Friedhofs-)Halle. Ihr Aufprall hat eine ringförmige Erschütterung ausgelöst, Schockwellen, herumfliegende Splitter, hat alle verwundet, die sie gekannt haben. Und je näher eine:r dran war, desto größer die Verletzungen.“ (S. 17)

    Warum hat Helene den einzigen Ausweg in diesem Sprung gesehen? Diese Frage erschließt sich zunehmend. Es herrscht die Angst vor dem Corona-Virus, in Folge des ersten Lockdowns wurden Schulen und Kitas in Österreich geschlossen. Familien haben die überwiegende Last zu schultern, weil die Kinder zu Hause sind und es wenig Bewegungsmöglichkeiten gibt. Helene hat ihren Job sehr schnell aufgeben müssen, um ihre Kinder betreuen zu können. Großeltern stehen nicht zur Verfügung. Ehemann Johannes überlässt die Familienarbeit komplett seiner Frau, denn er „muss ja arbeiten und Geld verdienen“. In dieser Situation fühlt sich Helen schlichtweg isoliert und überfordert. Den rabiaten Schritt in den Tod kann man dennoch schwer nachvollziehen.

    Die weiterführende Handlung wird überwiegend aus zwei weiblichen Perspektiven unterschiedlicher Generationen erzählt: aus der von Tochter Lola und der von Helenes bester Freundin Sarah. Die Autorin ist dabei in der Lage, eine große Nähe und Empathie zu den Figuren herzustellen. Beide Frauen fühlen sich allein gelassen und gleichzeitig von Schuldgefühlen gepeinigt. Lola, die sich schon eine ganze Weile im Gefühlschaos der Pubertät befindet, verliert ihre Balance durch den Muttertod nun vollends. Sie beginnt sich heimlich zu verletzen, kann kaum noch schlafen und hört auf zu essen. Letzteres wird von ihrem Umfeld kaum wahrgenommen oder höchstens mit Anerkennung honoriert, weil Schlanksein doch als weibliches Ideal gilt.

    Freundin Sarah ist Schriftstellerin. Sie lebt zusammen mit ihrem jüngeren Freund Leon in ihrem eigenen Haus. Offensichtlich wird auch sie ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht, ständig hat sie Angst, nicht zu genügen. Sie räumt hinter Leon her und will ihm gefallen. „Denn das Problem, wenn man jemanden liebt, der einen nicht zurückliebt, ist, dass man sich nie sicher sein kann. Dass man sich ständig fragen muss, ob man womöglich bloß zu negativ denkt, ob die Liebesbeweise des anderen eventuell nur nicht aussehen wie erwartet, dass man permanent auf der Lauer liegt, Sätze durchleuchtet, jene, die ausgesprochen werden, und jene, die ungesagt bleiben.“ (S. 65) Hinzu kommt, dass sich Sarah ein Kind wünscht, ihr Freund aber seine Unabhängigkeit liebt. Sarahs ambivalente Gefühle werden überaus deutlich.

    Als Johannes beruflich verreisen muss, sieht sich Sarah in der Pflicht, seiner Familie zu helfen. Sie tut es für Helen, möchte vergangene Versäumnisse wieder gutmachen. Die geplanten 14 Tage Aushilfe verlängern sich ständig. „Die Kümmerpflicht gilt für die Mütter. Johannes hat diese Kinder auch bekommen, aber er muss irgendwie gar nichts. Über die Leere solcher Tage, die sich lähmend über das Gehirn legt, weil man sich mit nichts anderem beschäftigt als mit physischer Versorgung, Brei kochen, Brei in den Kindermund stecken, Kacke vom Kinderhintern abwischen, den Kinderkörper tragen, den Kinderkörper beschützen vor Stürzen, Schnitten, Verbrennungen, den Schlaf herbeisingen, spricht niemand.“ (S. 104) Sarah schlüpft in Helenes Hausfrauenrolle, man darf staunen, wie schnell sie alles Notwendige beherrscht.

    Es ist ein eher negatives Bild, das über das Muttersein kolportiert wird, auch wenn die Kinder Sarah ans Herz wachsen. Die Frauen sind das Opfer einer patriarchalen Gesellschaft, die den überwiegenden Teil der Sorge- und Pflegearbeit verrichten müssen. Mütter leiden, Frauen lassen sich ausnutzen und werden permanent Opfer sexistischer An- und Übergriffe. Die Message ist deutlich. Lola, die sich schon lange mit feministischen Theorien beschäftigt, versucht, nicht nur Sarah zu einem Aufbruch zu verhelfen, sondern auch für andere von massivem Sexismus betroffene Frauen einzustehen. Was als vertrauensvoll-kameradschaftlicher, weiblicher Zusammenhalt beginnt, entwickelt sich schrittweise zu einer gewaltbereiten Radikalisierung. Hier hat mich das Buch mehr und mehr verloren, weil diesem Geschehen viel Raum gegeben wird. Brutale Selbstjustiz kann nicht im Sinne einer engagierten Frauenbewegung sein. Inhaltlich hat mich das abgestoßen. Die männlichen Figuren sind zudem allesamt Chauvinisten. Sie leben auf Kosten von Frauen, nutzen sie aus, werden übergriffig oder missbrauchen sie mittels ihrer körperlichen Überlegenheit. Auf den ganzen 375 Seiten gibt es kein einziges positives männliches Vorbild. Das war mir zu krass, zu stereotyp.

    Viele weitere Gedanken, die im Verlauf des Romans aufgeworfen werden, lohnen eine Reflektion: Inwiefern darf eine Gesellschaft Rollenbilder oder Schönheitsideale (Stichworte „Bodyshaming“ oder „Age-Shaming“) vorgeben, denen sich Frauen anpassen müssen, wenn sie nicht an den Pranger gestellt werden wollen? Warum haben Frauen oftmals eine negative Selbstwahrnehmung, liegt das an ihrer Sozialisation und Prägung? Warum lassen sich Frauen so viel Ungerechtigkeit in Partnerschaft, Beruf und Familie gefallen? Warum begehren sie nicht auf? Woher nehmen sich Männer überhaupt das Recht auf Überlegenheit?

    Über die erste Hälfte bin ich dem Roman sehr gerne gefolgt. Fallwickl schreibt eine beeindruckende Prosa, in ihren Sätzen stecken sorgfältige Beobachtung und großer Scharfsinn. Sie kann ihre Figurenkonstellationen höchst glaubwürdig entwickeln, schreibt authentische Dialoge, legt den Finger in die Wunde und wühlt auf. Ihre Themen sind sozialkritisch und mit Aufgreifen der der Corona-Pandemie brennend aktuell. Für meinen Geschmack ist das Ganze nur etwas zu stark ins Extreme gerutscht. Vielleicht ist aber genau das die Intention der Autorin: Überzeichnen und Übertreiben, damit der Text Wirkung zeigt, wach rüttelt und mehr als nur Betroffenheit auslöst. Insofern ist Fallwickls neuer Roman dem Titel entsprechend ein wütendes Buch, die Wut durchzieht ihn als permanentes Motiv. Die Wut ist vielfach nachvollziehbar, nur über die Konsequenzen kann man streiten. Der Roman lädt zum Disputieren ein, eignet sich hervorragend für Leserunden oder Lesekreise. Ich werde der Autorin definitiv weiterhin folgen, weil sie eine außergewöhnlich engagierte Stimme in der deutschsprachigen Literatur vertritt und mich mit ihrer gewandten Sprache begeistert.

    Dieses Mal zwar keine Höchstpunktzahl, aber lesenswert ist „Die Wut, die bleibt“ allemal. Lese-Empfehlung!

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