Die Wohlgesinnten: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Wohlgesinnten: Roman' von Jonathan Littell
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5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Wohlgesinnten: Roman"

Seit Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker hat kein Buch, das sich mit dem Holocaust beschäftigt, für so viel Aufsehen gesorgt wie Jonathan Littells Die Wohlgesinnten. Hymnischer Beifall begleiten das Erscheinen des Werks in Deutschland ebenso wie vernichtende Fundamentalkritik.

Weswegen sich die Gemüter so erhitzen? Littell verfasst diesen Roman über den deutschen Vernichtungsfeldzug in Osteuropa aus der Sicht eines Täters. Es ist der zynische Jurist Dr. Max Aue, der als Mitglied des Sicherheitsdienstes und SS-Offizier unmittelbar an den schlimmsten Verbrechen des Nationalsozialismus beteiligt ist. Zudem verwebt Littell in seinem ersten Roman aufs Engste Fakten und Fiktion. Die einen erheben ihn dafür zum künftigen Träger der kollektiven Erinnerung an den Holocaust, die anderen werfen ihm eine irrwitzige Geschichtsfälschung, ja eine Glorifizierung des Nationalsozialismus vor.

"Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist." So beginnt der Prolog ("Toccata") des Autors, der zugleich den Anspruch des Werkes definiert - bereits mit diesem ersten Satz hat sich Littell den Vorwurf der Hybris strenger Kritiker eingehandelt hat. "Es", so rechnet der Erzähler vor, das sind 18.722 Tote, die von Juni 1941 bis Mai 1945 Tag für Tag starben - jede 4,6 Sekunden ein Toter: "eine gute Meditationsübung". Als "Erinnerungsfabrik" bezeichnet sich der Erzähler selbst, und man ist geneigt, ihm Recht geben, angesichts der fast 1.400 folgenden Seiten. Er beteuert, dass die Aufzeichnungen "frei von jeglicher Reue sein werden...Ich habe meine Arbeit getan, mehr nicht" - ein zweiter Schlag in die Magengrube einiger Kritiker, versprach doch der Autor im Prolog gerade die Aufdeckung der Motive der Henker.

Littell breitet das beeindruckende, vor allem aber verstörende, streckenweise pornografische Panorama eines Krieges aus, der in knapp sechs Jahres Osteuropa fast vollständig zerstörte. Erzählt von einem klassisch gebildeten Offizier, der trotz aller humanistischen Wurzeln zum Mörder wurde. Einfache Unterscheidungen zwischen Gut und Böse gibt es nicht. So lesen wir neben den NS-Verbrechen auch von den Massenerschießungen durch das sowjetische Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (NKWD), von Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung durch Ukrainer, von psychotischen Wehrmachtsoffizieren. Akribisch flicht Littell die organisatorischen Strukturen von Wehrmacht, Reichssicherheitshauptamt, KZ-Lagerverwaltungen, Befehlsketten der SS und vieles mehr in sein Epos ein. Allein diese umfassende Darstellung in einem literarischen Werk ist einzigartig.

"...ihr seid nicht besser", deklamiert schließlich der frühere SS-Offizier und spätere Spitzen-Fabrikant. Dieses Fazit, das der Autor seinem Erzähler in den Mund legt, bleibt unbefriedigend. Zwar kann der Leser das Ergebnis einer außerordentlichen Fleißarbeit über Verlauf und organisatorischen Unterbau des Ostfeldzuges im Detail nachlesen. Warum sich aber der Bildungsbürger Dr. Max Aue so leicht zu einem effizienten Rad im Getriebe der Vernichtungsmaschinerie wandeln konnte, bleibt letztlich unklar. Ob das Buch also, wie Jorge Semprún voraussagt, in 50 Jahren maßgeblich die Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust prägen wird, muss sich erst noch erweisen. -- Henrik Flor, Literaturtest

Format:Taschenbuch
Seiten:1392
EAN:9783833306280

Rezensionen zu "Die Wohlgesinnten: Roman"

  1. Akribisch, zynisch und verstörend

    Fast wie aus einem Albtraum erwachend, erreiche ich erstaunt das Jahr 2022 und kann es noch gar nicht fassen, in welche Abgründe mich ein Buch ziehen konnte.

    Fiktiv zwar ist der Erzähler Maximilian Aue, aber seine Erlebnisse und Berichte aus dem Zweiten Weltkrieg werden von realen Personen und geschichtlichen Ereignissen bevölkert, so dass auch Aues Privatleben und seine Taten, in diesem Lichte geradezu erschreckend wirklichkeitsgetreu erscheinen und man erstaunt ist, über das Fehlen der nasebrechenden Kopfnuss in den Geschichtsbüchern, die unser Protagonist dem Führer zugefügt haben soll.

    Und so deute ich hier schon 2 Eigenarten an, die mir bei "Die Wohlgesinnten" besonders aufgefallen sind. Zum einen wird, bis auf eine gleichnamige Standarte und einem Berliner Platz, der Name, oder vielmehr das Code-Wort für all die Schrecken des Dritten Reichs niemals erwähnt, während all seine Erfüllungsgehilfen, wie Himmler, Göring, Eichmann und viele mehr, ihr Stelldichein geben und zum anderen scheint die Greuel dieser schrecklichen Zeit allein nicht zu genügen, so dass unser Herr Aue auch noch seine persönlichen Abscheulichkeiten zum Besten gibt.

    Die Lebensbeichte, wobei eine Beichte die Reue voraussetzen würde, dessen bin ich mir nicht sicher, schreibt unser Protagonist, Sohn einer Französin und eines Deutschen in Frankreich, wo er nach dem Krieg untergetaucht ist und sich als Spitzenfabrikant seinen Lebensunterhalt verdient.

    Aue wächst bei seiner Mutter und einem französischen Stiefvater auf, nachdem der leibliche Vater nicht wieder aufgetaucht ist und die Mutter ihn für tod erklären ließ. Nachdem Aue ins Internat geschickt wird, weil er Inzest mit seiner Zwillingsschwester hatte, bricht er jeglichen Kontakt ab und rächt sich, als er alt genug ist, mit dem Fortgang nach Deutschland und dem Beitritt zur SS.

    Mit dem Fortschritt seiner Karriere bei der SS, hat der Leser die ersten Hürden der Gewaltbeschreibungen in den zu "säubernden" Dörfern in den frisch dazugewonnenen Ostbezirken des Großdeutschen-Reiches zu überwinden. Die Juden werden noch erschossen, doch bald ist klar, dass es effizienterer Methoden bedarf, um diesen Massen an unerwünschten Material, was auch bald Zigeuner, Geisteskranke und Bolschewisten mit einschließt, Herr zu werden. Jegliche Gefahr des Verrats soll im Rücken gebannt werden, während man noch siegesgewiss gen Moskau marschiert.

    Aue ist als Beobachter und Berichterstatter mit dabei und soll Schwachstellen aufdecken. Dabei sind ihm nicht alle Kameraden wohlgesonnen, zumal sie der Korruption und unbeherrschten Gewalt beschuldigt werden. Komplotte werden geschmiedet, Aues merkwürdiges Sexualverhalten erzeugt Gerüchte und ruckzuck findet er sich im eingekesselten Stalingrad wieder, aus dem er mehr tod als lebendig, aber um einen Orden reicher, wundersamerweise wieder auftaucht.

    Während seines Genesungsurlaubs begibt er sich auch kurzfristig zum Anwesen seiner Mutter und seines Stiefvaters nach Frankreich und findet dort zwei Kinder vor, deren Herkunft ihm Rätsel aufgeben und eine Reaktion bei ihm hervorrufen, dessen Folgen ihm im Verlauf des restlichen Romans bis zum Schluss verfolgen, aber auch ungesagt bleiben.

    Es wäre jetzt müßig die gesamte Geschichte des Buches nachzuerzählen, zumal der Ausgang des Krieges bekannt ist, Aue erlebt die letzten Tage im ausgebombten Berlin, und ich die nachdenklich machenden Passagen dieses 1390 Seiten Wälzers kaum in eigene Worte fassen kann. Es strahlt schon eine gewisse ekelerregende Faszination aus, wenn mit Sprachwissenschaft die Rassentheorie untermauert wird, die Musik für die Reinheit des Herrengeschlechts herhalten muss und im vernichtenden Bombenhagel noch über die Partnerwahl für den Lebensborn nachgedacht wird. Gleichzeitig wird man von Aues abartigen Gedanken an seine Schwester, von seinen verwirrenden Träumen dermaßen aus Zeit und Raum gerissen, dass manche Szenen kaum noch zwischen Vorstellung und realem Wahnsinn zu unterscheiden sind.

    Die seitenlangen Absätze, die nicht abgesetzten wörtlichen Reden, die schiere Anzahl der Seiten, all das macht aus diesem Roman einen harten Brocken, schwer verdaulich mit all seinen gewalttätigen Hürden, aber gleichzeitig reißt die Geschichte den Leser mit, er findet keinen Halt mehr und muss bis zum Schluss mitschwimmen, um wieder ans rettende Ufer zu kommen. So erging es mir und so sitze ich hier und frage mich, ob man das Buch je weiterempfehlen kann. Einer der ersten Sätze im Buch bringt es wohl auf den Punkt: "Gewiss, die Geschichte ist düster, aber auch erbaulich, sie ist eine wahrhaft moralische Erzählung, glaubt mir." Wer bin ich, mir ein Urteil über dessen Lesewert abzugeben.

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