Die wir liebten: Roman

Rezensionen zu "Die wir liebten: Roman"

  1. Bruderliebe

    Klappentext:

    „Die Siebziger in der westdeutschen Provinz. Ein Dorf, in dem die Zeit stillzustehen scheint. Für Edgar und seinen Bruder Roman ist das Leben überschaubar und gut. Bis sich ihr Vater am Maifest in die Tierärztin verliebt und die Familie verlässt. Die Mutter zieht sich immer mehr in ihren Lotto-Laden zurück. Die Jungen sind bald sich selbst überlassen. Schließlich steht das Jugendamt vor der Tür, um Edgar und Roman in den Gnadenhof zu holen. Ein Heim, in dem die Methoden der Nazis fortbestehen.“

    Gleich zu Beginn, wie es auch anderen Lesern bereits aufgefallen ist, sei gesagt, das Cover dieses Buches täuscht. Die Geschichte der beiden Brüder ist nämlich nicht zu spaßig und witzig wie es auf den ersten Blick scheint. Nachdem der Vater sich in eine andere Frau verliebt hat, ist das Familienleben komplett zerstört und die beiden werden zu Einzelkämpfern in Brüderform. Als dann das Jugendamt den großen Beschluss fasst, auf den Gnadenhof zu gehen, wirkt das schon fasst vom Autor sehr zweideutig, das mein Leserherz hier einen großen Jubelschrei losgelassen hat. So geht richtig gute Literatur! Dennoch gab es einige Längen und genau deshalb gibt es auch nur 4 von 5 Sterne, denn diese erschienen so gestellt, das man meinen könnte, sie seien Lückenfüller. Der Gnadenhof ist natürlich etwas völlig anderes als erwartet - Nazimethoden stehen hier noch an oberster Stelle und so entpuppt sich diese Welt, als eine andere. Autor Willi Achten hat ein sehr feinsinniges Gespür hier aufgelegt und verknüpft viel Wortspielerei mit Doppeldeutigkeiten, das es nur so eine Wonne ist. Dem Leser springen hier so viele Fragen entgegen, das man dieses Buch recht schnell durchliest weil man nach Antworten sucht. Der bildhafte Schreibstil tut sein übriges dazu und zeigt dem Leser, den Zerfall einer Familie, die Bedeutung von Geschwistern, die Bedeutung von Lebensweisen nach einem gewissen System, nach Macht, nach Anerkennung und nach völliger Suche nach sich selbst. Die beiden Brüder nehmen eine irre Entwicklung hin und haben mich komplett begeistert und eingenommen und deshalb gibt es auch 4 von 5 Sterne!

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  1. 5
    05. Apr 2020 

    Bewegend, erschütternd, harte Kost UND ein must-read!

    Der 384 Seiten lange Roman, in dem es um zwei Brüder im Teenageralter geht, spielt in den 1970er Jahren in einem Dorf bei Mönchengladbach in der westdeutschen Provinz.

    Zu Beginn befinden wir uns in einem Klassenzimmer. 4.Klässler und 6.Klässler warten hier auf Rektor Honold, der ihnen Mathematiknachhilfeunterricht geben wird.
    Honold stürzt aufgebracht und wutentbrannt ins Klassezimmer.
    Das regelrecht ausgespiene Wort „Wer?!“ versetzt die Schüler in lähmende Panik.
    Einer von ihnen muss wohl irgendetwas getan haben. Aber wer? Und was?

    Bereits in dieser ersten Szene zeigt der Autor, dass er die Kunst beherrscht, Atmosphäre zu vermitteln und lebendige Bilder vor dem geistigen Auge entstehen zu lassen.
    Man spürt die Anspannung und Angst der Kinder, man hört das regelmäßige Ticken der Uhr in der emotionsgeladenen Stille und man sieht den tobenden Lehrer Honold mit hochrotem Kopf, Beinprothese und Rohrstock vor sich.
    Ein Verdacht steht im Raum: Roman muss es gewesen sein. Roman, der 12-jährige mutige, beherrschte und von sich und seinen Kräften überzeugte Bruder des Ich-Erzählers Edgar.

    Zu Beginn erinnern die beiden elf- und zwölfjährigen Brüder Roman und Edgar mit ihren grenzwertigen Scherzen an Max und Moritz.
    In Windeseile schafft es der Autor, mit seiner eindringlichen und eindrücklichen Sprache und mit seinen detailgenauen Beschreibungen, den Leser in das Geschehen zu ziehen.

    Atemlosigkeit und Aufregung einer Flucht nach einem Streich spiegeln sich z. B. in kurzen, staccatoartigen Sätzen.

    Nach und nach lernt der Leser die unter einem Dach zusammenlebende Großfamilie der beiden Jungs kennen:
    Die liebevolle und gutmütige Großmutter, die die Familie bekocht und versorgt, ihr Vetter, der kriegsversehrte Leonhard, der aufgrund eines Kopfschusses immer wieder epileptische Anfälle bekommt und der den Buben vom 1. Weltkrieg erzählt, und die immerzu strickende und demente Großtante Mia, Großmutters Schwester.
    Und dann sind da natürlich noch die vielbeschäftigten Eltern.
    Die Mutter, eine liebevolle und empathische Frau, die ein Lotto-Toto-Geschäft betreibt, und der gutmütige, mit sich selbst und seiner Bäckerei beschäftigte Vater.

    Eines Tages nimmt dann das Unheil seinen Lauf:
    Der Vater verliebt sich in die Tierärztin.

    Nun folgen
    Missverständnisse, Zuspitzungen,
    Eskalationen,
    Entscheidungen,
    Veränderungen,
    kleine und große Katastrophen...
    das Jugendamt...
    die Psychiatrie...
    ein Vater, der auszieht,
    eine Mutter, die sich zurückzieht und in Alkohol und Arbeit flüchtet...
    das Erziehungsheim.

    Ein Erziehungsheim für Jungen, in Dorfnähe, am Waldesrand.
    Eine durch eine Mauer abgeschottete „Anstalt für Jungen“, die von Nonnen betrieben und „Gnadenhof“ genannt wird.
    Beim Eintauchen in diese gnadenlose, scheinheilige und brutale Welt überkommt einen das Grauen.
    V. a. deshalb, weil Willi Achten düstere Kapitel der nicht allzu lang zurückliegenden Vergangenheit ins Visier nimmt und weil er erschütternde Vorkommnisse in deutschen Heimen ab den 1950er Jahren aufgreift.

    Die bildhafte Sprache des Autors, sowie seine anschaulichen Formulierungen und Metaphern sorgen für bewegte und lebendige Vorstellungen.

    Empathisch und mit Fingerspitzengefühl bringt er dem Leser das Innenleben seiner Protagonisten, vor allem dasjenige des Ich -Erzählers Edgar, nahe.

    Sein Gespür für psychologische Zusammenhänge, sein Talent, es unaufdringlich in den Text einfließen zu lassen und die von ihm beherrsche Kunst, hinter die Kulissen zu schauen, machen die Lektüre zu etwas Besonderem.
    Es ist offensichtlich, dass der Autor gründlich recherchiert hat und weiß, wovon er spricht.

    Ich mochte es, immer wieder beiläufig an die 70erJahre erinnert zu werden, indem er bekannte Musiktitel dieser Zeit und Begebenheiten aus Sport oder Politik einfließen ließ und ich genoss die Momente schmunzelnd, in denen der Autor an diese Zeit erinnerte, indem er Samstagabende bei Kulenkampff, Udo Jürgens, Dalli Dalli und Frauen mit turmhochtoupierten Frisuren erwähnte.

    Der Autor ist ein scharfsinniger Beobachter, der die beobachteten äußeren und inneren Welten bravourös beschreiben kann. Hut ab!

    Vergessen werde ich diese Familie und v. a. die beiden Brüder Roman und Edgar, ihre Streiche und ihr Schicksal so schnell sicher nicht!

    Ich empfehle, diesen beeindruckenden, fesselnden, ergreifenden und erschütternden Roman unbedingt zu lesen.

    Harte Kost, aber ein must-read!
    Ein Highlight!

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