Die Unvollkommenheit der Liebe: Roman

Rezensionen zu "Die Unvollkommenheit der Liebe: Roman"

  1. 4
    02. Jan 2021 

    Der Schatten, den die Herkunft auf das Leben wirft…

    Schon nach wenigen Seiten hat mich Elizabeth Strout mit ihrem 205-seitigen Roman völlig in ihren Bann gezogen.
    Meine ersten Eindrücke: So lebendig und frisch, so tiefgründig und gehaltvoll.

    Aber jetzt erst einmal ein paar Worte zum Inhalt:

    Nach einem operativen Routineeingriff Mitte der 1980-er Jahre bekommt die Ich-Erzählerin Lucy, Ehefrau und Mutter zweier kleiner Töchter, aus ungeklärter Ursache Fieber, weshalb sie neun Wochen lang stationär in einem Krankenhaus in New York, mit Blick auf das imposante Chrysler Building (googeln lohnt sich ;-)), behandelt werden muss.
    Genauso plötzlich wie das Fieber kam, verschwindet es nach dieser Zeit auch wieder, aber während dieser Wochen passiert so Einiges und genau davon erzählt Lucy uns rückblickend.

    Eines Tages bekommt Lucy im Krankenhaus Besuch von ihrer Mutter, die nun einige Tage bei ihr bleibt und Geschichten von früher oder von alten Bekannten erzählt.

    Lucy verspürt Freude und ein „warmes, flüssiges Gefühl“ (S. 11), weil sie ihre Mutter nach Jahren endlich wiedersieht. Sie ist glücklich, über „diese ganz neue Art, miteinander zu reden“ (S. 43). „Oh, war ich glücklich, wie ich da lag und mit meiner Mutter schwatzte!“ (S. 43)

    Die teilweise aufwühlenden, aber auch amüsanten Geschichten ihrer Mutter bringen Lucy auf andere Gedanken und lassen sie abschweifen und assoziieren.

    Auf diese Weise erfahren wir, dass Lucy zusammen mit ihren beiden älteren Geschwistern in äußerst ärmlichen und lieblosen Verhältnissen und als Außenseiterin bei ihren Eltern in einem abgelegenen Haus in Illinois aufgewachsen ist.
    Wir erfahren auch, wann, wodurch und weshalb die erfolgreiche Schülerin Lucy den Wunsch, Schriftstellerin zu werden, entwickelt hat und dass ihr, der naiven, aber wissbegierigen und sympathischen Unschuld vom Lande, aufgrund ihrer vorbildlichen Noten ein kostenloser Studienplatz in der großen weiten Welt, in Chicago, angeboten wurde.
    Und wir erleben mit, wie Lucy im zweiten Studienjahr ihren künftigen Mann William, Laborassistent bei ihrem Biologieprofessor kennenlernte und wodurch es zu dem Kontaktabbruch mit ihrer Ursprungsfamilie kam.
    Zu alledem möchte ich keine Details verraten, weil ich niemandes Lesevergnügen mindern möchte.

    Nur so viel: Im Wechsel lauschen wir im Folgenden den Geschichten und Erinnerungen der Mutter, den Unterhaltungen zwischen Mutter und Tochter im Krankenzimmer und Lucys Erinnerungen und Anekdoten aus ihrem bisherigen Leben.

    Und dann kippt Lucys Stimmung. Unliebsame Erinnerungen tauchen auf und mit ihnen verdrängte Gefühle ... Sie spürt, was ihr gefehlt hat und fehlt.

    Ich möchte noch einige tiefgründige, wahre oder amüsante Formulierungen zitieren:

    „„Du hast mehr Substanz, aber Irene hat mehr Stil.“
    Ich sagte: „Aber Stil IST Substanz.““ (S. 33)

    „Ich sagte: „Es gab ziemlich oft Dosenbohnen bei uns.“ Und er sagte: „Und dann habt ihr alle um die Wette gefurzt, oder wie?“ Und da wurde mir klar, dass ich ihn nie heiraten würde. Seltsam, wie ein Satz ausreichen kann, um einem so etwas klarzumachen. Man kann bereit sein, auf die Kinder zu verzichten, die man sich eigentlich wünscht, man kann bereit sein, Kommentare über seine Vergangenheit, seine Kleidung an sich abprallen zu lassen, und dann – eine kleine Bemerkung, und die Seele fällt in sich zusammen und sagt: Oh.“ (S. 34)

    „Abgesehen von Ihrer Krankheit sind Sie gesund...“ (S. 146)

    „Aber letztlich, so glaube ich, heißt rabiat sein, auf sich selbst zu hören, zu sagen: Hier stehe ich, und ich gehe nicht an einen Ort, gegen den sich alles in mir sperrt...“ (S. 191)

    Und last but not least: „Leben, denke ich manchmal, heißt Staunen.“ (S. 205)

    Mir wurde keine Sekunde langweilig, in der ich Lucy, eine tiefgründige, ehrliche, beschädigte und starke Frau begleitete.
    Sie hat so etwas Bescheidenes, Weltfremdes, Kluges, Offenes, Verletzliches und Ursprüngliches an sich, das gleichermaßen fesselt und erstaunt.
    Und sie ist bewundernswert selbstkritisch!

    Ein Hauch von Schwermut und Melancholie schwebt über der Geschichte, aber ebenso Zuversicht und Vertrauen ins Leben.

    Das war mein erster, aber sicherlich nicht letzter Roman von der 1956 in Maine geborenen Elizabeth Strout. Er wurde 2016 für den Man Booker Prize nominiert.

    Ich empfehle den Roman sehr gerne weiter!

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    03. Nov 2016 

    berührend und menschlich

    Erst vor ein paar Wochen habe ich die amerikanische Schriftstellerin Elizabeth Strout für mich entdeckt. Mit ihrem vor 2 Jahren erschienenen Roman "Bleib bei mir" hat sie mich gekriegt. Die Pullitzer-Preisträgerin ist eine Meisterin der leisen Töne. Die Geschichten, die sie erzählt sind berührend und menschlich. Daher konnte ich auch an ihrem neuen Buch "Die Unvollkommenheit der Liebe" nicht vorbeigehen. Und ich wurde nicht enttäuscht. Ganz im Gegenteil!

    Das Buch beginnt mit folgendem Szenario: Die Schriftstellerin Lucy Barton ist schwer krank. An ihrem Krankenbett wacht ihre Mutter. An und für sich eine – wenn auch traurige – aber dennoch normale Szene. Nicht so für Lucy. Denn sie und ihre Mutter hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr zueinander. Lucies Mutter macht weder einen liebevollen noch einen besorgten Eindruck. Sie ist einfach da. Sie scheint mit ihrem Besuch eine Mutterpflicht zu erfüllen. Mütter kümmern sich nun mal um ihre kranken Kinder. Zwischen beiden besteht eine Distanz, die besonders durch das banale Geplauder der Mutter hervorgehoben wird. Lucy hat viele Fragen zu ihrer Vergangenheit. Sie möchte ein tiefsinnigeres Gespräch führen. Doch ihre Mutter blockiert. Auf mehr als Belanglosigkeit will sie sich nicht einlassen. Kann sie auch nicht, denn sie scheint ein Mensch zu sein, der nicht in der Lage ist, Gefühle zu zeigen, bzw. sich mit Problemen auseinanderzusetzen. Genau genommen existieren für sie die Probleme in der Beziehung zu ihrer Tochter nicht. Totschweigen hat sich bei ihr als adäquates Mittel zur Problembewältigung erwiesen.

    "Ich wollte, dass meine Mutter sich nach meinem Leben erkundigte. Ich wollte meiner Mutter von dem Leben erzählen, das ich jetzt führte. In meiner Dummheit - denn das war es, dumm und sonst gar nichts - platzte ich heraus mit: 'Mom, von mir sind zwei Geschichten erschienen.' Sie warf mir einen schnellen, befremdeten Blick zu, als hätte ich gesagt, dass mir zusätzliche Zehen gewachsen wären, dann sah sie, ohne etwas zu sagen, aus dem Fenster." (S. 62 f.)

    Lucies Kindheit war alles andere als leicht. Ihre Familie lebte in ärmlichen Verhältnissen in einer amerikanischen Kleinstadt. Lucy war von kleinauf gewohnt, in dieser Stadt zu den Außenseitern zu gehören. Selbst in ihrer Familie erhielt sie nicht die Geborgenheit und Unterstützung, die ein Kind so dringend nötig hat. Die Eltern waren sehr streng in der Erziehung ihrer Kinder. "Zuckerbrot und Peitsche" trifft den Erziehungsstil am ehesten. Grausamkeiten wechselten sich mit Zärtlichkeiten ab.
    Elizabeth Strout lässt uns an Lucies Kindheitserinnerungen teilhaben. Der Fantasie des Lesers werden dabei kaum Grenzen gesetzt. Denn die Erinnerungen Lucies sind von Andeutungen durchzogen, die auf entsetzliche Dinge hinweisen, die ihr als Kind widerfahren sind.

    " ... es war einfach nackte Angst, dieses Wissen, dass niemand kommen und mir helfen würde, während der Himmel draußen dunkel wurde und die Kälte zu mir hereinkroch. Jedes Mal schrie und schrie ich. Ich weinte, bis ich kaum mehr Luft bekam. Hier in New York sehe ich Kinder aus Müdigkeit weinen, die real ist, ich sehe sie aus Ungezogenheit weinen, die ebenfalls real ist. Aber hin und wieder sehe ich ein Kind aus Verzweiflung weinen, und für mich ist das einer der wahrhaftigsten Laute, die ein Kind ausstoßen kann. Dann meine ich wieder, hören zu können, wie mein Herz in mir bricht, ..." (S. 66)

    Elizabeth Strout konzentriert die Handlung anfangs auf den Krankenhausaufenthalt und das Mutter-Tochter-Verhältnis. Doch im Verlauf der Geschichte nimmt die Entwicklung von Lucy und ihr Leben lange nach ihrer Krankheit immer mehr Raum ein, so dass die Zeit der Krankheit nur noch eine Episode im Leben von Lucy bleibt.

    Lucy hat gelernt, ihren eigenen Weg zu gehen, ohne Rücksicht auf Verluste. Sie nimmt in Kauf, dass dabei Menschen, die ihr nahestehen, verletzt werden. Lucy erkennt, dass sie in ihrer Ehe nicht glücklich ist und trennt sich von ihrem Mann. Die Familie – allen voran die Kinder - wird eine schwierige Zeit durchmachen, aber am Ende wird sich Lucies Entscheidung als richtig erweisen. Da die Zeit bekanntlich alle Wunden heilt, werden alle wieder auf einer freundschaftlichen Basis zueinander finden.

    "Der Zorn meiner Mädchen während dieser Jahre! Es gibt Momente, in denen ich ihn zu vergessen versuche, aber ich kann ihn nicht vergessen. Und ich frage mich, welche Dinge es wohl sein werden, die sie nicht vergessen können." (S. 199)

    In diesem Roman ist mir insbesondere das Verhältnis von Lucy zu ihrer Mutter nahegegangen.
    Was ist das für eine Mutter-Tochter-Beziehung, die die Ich-Erzählerin Lucy hier beschreibt? Eigenartig. Da liegt die Tochter sterbenskrank in der Klinik, die Mutter, zu der seit Jahren kein Kontakt bestand, wacht in Erfüllung ihrer Mutterpflicht an ihrem Krankenbett. Und trotzdem wirkt die Mutter distanziert. Lucy liebt ihre Mutter, scheut sich jedoch, ihre Gefühle zu zeigen, weil sie weiß, wie schmerzhaft es ist, zurückgewiesen zu werden. Und die Mutter ist jemand, die ein Leben lang nicht gewohnt war, Gefühle zu zeigen bzw. darüber zu sprechen. So vermisst man die Innigkeit, die man von einer Mutter-Tochter-Liebe erwartet. Aber irgendwie scheinen die beiden sich zu arrangieren. Denn man wird das Gefühl nicht los, dass die beiden sich auf eine eigene und sehr spezielle Gefühlsebene geeinigt haben und damit zufrieden sind.

    "Ich fürchte, es könnte schwer zu verstehen sein, dass meine Mutter die Worte 'Ich hab dich lieb' nicht über die Lippen brachte. Ich fürchte, es könnte schwer zu verstehen sein, dass mir das nichts ausmachte." (S. 143 f.)

    Fazit:
    Das Besondere an Elizabeth Strout ist ihre Gabe, Mitgefühl und Empathie in Worte zu fassen, ohne dass es aufgesetzt oder kitschig wirkt. Sie bedient sich dabei einer unaufgeregten Sprache, die klar strukturiert ist und die Dinge auf den Punkt bringt. Sie lässt uns in Lucies Seelenleben blicken und beschreibt eine Mutter-Tochter-Beziehung, die zwar verstört, aber dennoch verdeutlicht, dass ihre Liebe zueinander nach eigenen Regeln abläuft. Die Liebe, die Elizabeth Strout hier beschreibt, ist unvollkommen und passt in kein Schema. Aber was ist schon vollkommen?!

    © Renie

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