Die Unvollendete

Rezensionen zu "Die Unvollendete"

  1. 5
    06. Jul 2016 

    Life After Life...

    Der englische Originaltitel des Buches 'Life After Life' zeigt im Grunde sehr schön auf, worum es sich hier eigentlich dreht: ein Leben, das wieder und wieder und wieder gelebt wird. Ursula Todd heißt der Hauptcharakter, der hier auf unterschiedliche Arten zu Tode kommt, nur um gleich darauf wiedergeboren zu werden. Reinkarnation also? Nein, nicht wirklich. Denn es geht hier nicht darum, in der Zeitachse chronologisch weiterzuziehen und zu einem späteren Zeitpunkt erneut geboren zu werden - Ursula Todd lebt ein und dasselbe Leben in immer der gleichen Familie ein ums andere Mal wieder. Ihr Geburtsdatum ist dabei stets der 11. Februar 1910.

    "Alles war irgendwie vertraut. 'Man nennt es Déjà-vu', sagte Sylvie. 'Der menschliche Geist ist ein unergründliches Phänomen' (...) doch Ursula erinnerte sich an die Blätter, die wie große grüne Hände in der Brise winkten, und den silbernen Hasen, der vom Verdeck hing, vor ihrem Gesicht baumelte und sich drehte (...) Und die schreckliche Angst - der angstvolle Schrecken -, die sie immer in sich trug (...) Und manchmal wusste sie auch, was jemand gleich sagen würde, bevor er es sagte, oder was für ein alltäglicher Vorfall sich demnächst ereignen würde (...), als wären diese Dinge schon oft passiert. Worte und Sätze waren ein Echo ihrer selbst, Fremde schienen alte Bekannte."

    Doch obschon Ursula in immer dieselbe britische und gutsituierte Familie geboren wird, in ihrem Häuschen auf dem Land mit dem wundervollen Garten, den zahlreichen Geschwistern, den Hunden und dem Personal, verläuft das Leben doch jedesmal anders. Stirbt Ursula beim ersten Mal gleich bei der Geburt, wird ihr darauffolgendes Leben von dem entbindenden Arzt gerettet, so dass sich etwas Neues entwickeln kann. Kleinigkeiten sind es meist nur, die dafür sorgen, dass das Leben bei dem Mal darauf anders verläuft - ein wenig anders zuweilen, manchesmal jedoch auch auf eine komplett andere Art und Weise. Doch wann ist ein Leben perfekt - und gibt es das überhaupt?

    " 'Fragst du dich nicht manchmal, was wäre', sagte Ursula, 'wenn irgendeine kleine Sache anders gewesen wäre, in der Vergangenheit, meine ich. Wenn Hitler bei der Geburt gestorben wäre oder wenn ihn jemand als Baby entführt hätte und er in - ich weiß nicht - sagen wir in einem Quäkerhaushalt aufgewachsen wäre, dann wäre doch bestimmt alles anders gekommen.'"

    Was für ein Gedankenexperiment hat Kate Atkinson hier gewagt! Hat sich nicht jeder schon einmal die Frage gestellt, wie das eigene Leben womöglich verlaufen wäre, hätte man an einer bestimmten Stelle eine andere Entscheidung getroffen oder wäre man irgendwo nur einige Minuten früher oder später aufgetaucht? In diesem Roman bekommt der Leser vor Augen geführt, wie unterschiedlich ein Leben tatsächlich verlaufen kann, wenn sich etwas im Gefüge ändert. Dabei geht es nie ohne Verlust, Verrat, Krieg und Tod aus - weshalb also diese Anstrengung? Ursula, irritiert von den Ahnungen, den augenscheinlich unmöglichen Erinnerungen, den Déjà-vus, sucht schon als Kind einen Psychiater auf, der sie in ihrer Verwirrung eine Zeitlang begleitet.

    "'...das Leben muss weitergehen (...) Wir haben schließlich nur eins, wir sollten unser bestes tun. Wir machen es nie r i c h t i g, aber wir müssen es versuchen.' (...) - 'Was wäre, wenn wir die Chance hätten, es noch einmal zu tun und noch einmal, bis wir es endlich richtig machen? Wäre das nicht wunderbar?'"

    Einen beeindruckenden Roman präsentiert die Autorin hier - eine lebendig erzählte Familiengeschichte mit interessanten Charakteren, die der Leser im Verlaufe der verschiedenen Leben Ursulas auch zunehmend besser kennenlernt; ein Stück Zeitgeschichte, denn auch und vor allem die Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg spielen hier eine große Rolle; und nicht zuletzt die Konstruktion der Handlung als wiederkehrende Zeitschleife, die trotzdem immer überraschend in ihrem jeweiligen Verlauf ist.

    "'Amor futi', sagte Ursula. 'Ich habe es erst nicht verstanden (...)' - 'Liebe zum Schicksal?' - 'Es bedeutet, es anzunehmen. Was immer dir zustößt, akzeptiere es, das Gute wie das Schlechte gleichermaßen. Der Tod ist nur eine weitere Sache, die wir annehmen müssen.'"

    Die oftmals aufgehobene Chronologie sowie die zahlreichen alternierenden Lebenswege fordern die ständige Konzentration des Lesers. Der Schreibstil ist flüssig, dabei jedoch eher gehoben und anspruchsvoll, und damit auch nicht immer einfach zu lesen. Genaue historische Kenntnisse fließen hier ebenso ein wie literarische Anspielungen und Zitate (vornehmlich aus Klassikern der englischen Literatur). Die Charaktere, allen voran Ursula Todd, sind interessant gezeichnet, und manch eine Figur schleicht sich zunehmend ins Herz des Lesers.

    Ein ausgesprochen interssant konstruierter Roman mit einem spannenden Gedankenexperiment und einer liebevollen Ausgestaltung. Mich hat das Buch nicht aus seinem Sog entlassen, und somit erhält es von mir eine ausdrückliche Leseempfehlung!

    © Parden

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