Die Tochter: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Tochter: Roman' von Kim Hye-jin
4.5
4.5 von 5 (4 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Tochter: Roman"

Seit Jahren teilen Mutter und Tochter wenig mehr als ein wortkarges Mittagessen pro Woche. Zwischen ihren Nudelschalen türmt sich ein Berg aus Ungesagtem. Die Mutter, Pflegerin im Seniorenheim, führt ein unauffälliges, bescheidenes Leben. Ihre Tochter Green hat einen anderen Weg gewählt: Sie hat keinen Mann, kaum Einkommen und liebt eine Frau. Als das Paar bei der Mutter einziehen muss, prallen die radikal verschiedenen Lebensentwürfe aufeinander. Mit großer Sensibilität und sanfter Wucht ergründet Kim Hye-jin die Ängste einer Generation, die sich dem selbstbestimmten Leben ihrer Kinder stur in den Weg stellt. Ein notwendiger Roman über die Enge und Starrheit von Tradition und die Möglichkeit zum Wandel.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:176
Verlag: Hanser Berlin
EAN:9783446272323

Rezensionen zu "Die Tochter: Roman"

  1. Die Gegenperspektive

    Bei diesem Roman der südkoreanischen Autorin Kim Hye-jin handelt es sich um den Bericht einer älteren Frau, die als Pflegerin in einem Krankenhaus schuftet, um sich ihr tägliches Brot zu verdienen. Ihre erwachsene Tochter zieht aus finanziellen Gründen zusammen mit der Partnerin bei ihr ein und damit ist der Konflikt vorprogrammiert. Die Mutter hat die sexuelle Beziehung ihrer Tochter zu einer Frau jahrelang dementiert. Homosexualität ist etwas, das sie weder begreifen, noch akzeptieren kann. Nun, da sie alle unter einem Dach wohnen, kann sie ihre Realitätsverweigerung aber nicht mehr aufrecht erhalten und muss das Schweigen brechen.

    Ich fand das Buch sehr interessant, weil es mich in die Gedankenwelt einer Person mitnimmt, die ganz andere Überzeugungen hat als ich selbst. Die Ich-Erzählerin ist eine traditionelle Frau, die bisher ein ordentliches und unauffälliges Leben geführt hat. Dass sie so „normal“ ist, sagt auch einiges über die koreanische Kultur aus, in der Homophobie anscheinend noch sehr verbreitet ist. Tatsächlich glaube ich, dass es in ganz Asien verbreitet ist. Die Ich-Erzählerin/die Mutter ist einerseits nicht ganz aufgeklärt, d.h. sie kann sich gar nicht richtig vorstellen wie zwei Frauen miteinander intim sein können. Andererseits glaubt sie, dass eine Partnerschaft, aus der keine Kinder entstehen können, sinnlos sei. Sie drängt ihre Tochter, einen Mann zu finden und eine Familie zu gründen. Dass ihre Tochter auch noch auf der Straße gegen die Diskriminierung Homosexueller demonstriert, erfüllt sie mit Angst und Scham. Sie versteht nicht, warum ihre Tochter sich „angreifbar und lächerlich“ macht, statt einer anständigen Tätigkeit mit einem geregelten Einkommen nachzugehen. In der Schule hat ihre Tochter immer gute Noten gehabt. Als ihre Tochter noch klein war, hat die Mutter sie stets gelobt und war stolz auf sie gewesen. Nun fragt sie sich, was sie falsch gemacht hat, sie fühlt sich als Mutter Schuld daran, dass ihre Tochter kein sicheres Einkommen hat und noch nicht geheiratet hat. In Puncto Erwartungen gibt es glaube ich interessante Unterschied zwischen westlicher und östlicher Kultur. In asiatischen Kulturen scheinen Eltern hohe Erwartungen an ihre Kinder zu haben und sich im hohen Maße für den Lebenslauf ihrer Kinder verantwortlich zu fühlen. So finde ich es zum Beispiel interessant, dass die Mutter an einer Stelle im Roman denkt: „Wie kommen diese Kinder dazu zu glauben, ihr Leben würde allein ihnen selbst gehören?“

    Schließlich macht die Mutter aber eine interessante Entwicklung durch und es gelingt ihr, sich der Tochter ein Stück anzunähern.

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  1. Nicht nur ein Familienkonflikt

    Südkorea ist ein weit entferntes Land, nicht nur geografisch, sondern auch von den gesellschaftlichen Normen her gesehen. Homosexualität ist dort zwar nur noch vor den Militärgerichten strafbar, ein diesbezügliches gesetzliches  Diskriminierungsverbot besteht jedoch nicht. So wundert es kaum, dass gerade die ältere Generation Schwierigkeiten hat, gleichgeschlechtliche Liebe anzuerkennen, wenn doch Familie und Kinder als Lebensziel gelten. Erst im vergangenen Jahr habe ich den Roman „Kim Jiyoung, geboren 1982“ mit Begeisterung gelesen, der von den erlittenen Diskriminierungen einer jungen Frau in Gesellschaft und Beruf erzählt, nun also „Die Tochter“, die andere Defizite im asiatischen Land thematisiert.

    Erzählt wird der gesamte Roman aus der Perspektive einer namenlosen verwitweten Mutter, die gegen geringe Bezahlung in einem Altersheim arbeitet. Das Geld ist knapp, sie ist gezwungen, in ihrem maroden Haus kleine Wohnungen zu unterzuvermieten. Obwohl erst Anfang 60 scheint sie sich uralt und verbraucht zu fühlen, wenn sie ihr Haus mit sich selbst gleichsetzt: „Eines der Häuser, die sich wie verfaulte Zähne dicht in einer engen Gasse am Stadtrand aneinanderreihen. Ein baufälliges zweistöckiges Haus, seiner Besitzerin ganz ähnlich, vornübergebeugt, mit abgenutzten Gelenken und mürben Knochen.“ S. 9

    Die Mutter ist empört über ihre erwachsene Tochter, die sich aus ihrer Sicht den gängigen sozialen Idealen einer Heirat mit Kindern widersetzt, um stattdessen mit einer Frau zusammenzuleben. Sämtliche Läuterungsversuche sind gescheitert, die Mutter kann das Liebesleben der Tochter nicht akzeptieren. Die Situation droht zu eskalieren, als Tochter Green aufgrund akuter Geldnot gemeinsam mit ihrer Partnerin Rain in die beengte Wohnung der Mutter einzieht.

    Ein weiterer Handlungsstrang führt uns in ein koreanisches Altersheim, in dem sich die Mutter um die betagte Greisin Tsen zu kümmern hat. Hilfs- und Pflegemittel sind knapp, es herrscht das Diktat der Gewinnmaximierung. Im Heim bringt lediglich die Mutter ein großes Maß an Mitmenschlichkeit auf, indem sie versucht, das Beste für Tsen zu erreichen und ihr ein Dasein in Würde zu ermöglichen. Sie empfindet Achtung für die alte Frau, die als erfolgreiche Journalistin die Welt bereiste, allerdings kinderlos blieb und das ganze Jahr über keinen Besuch bekommt. „Eine Frau, die zu lange gelebt hat. Eine Frau mit Erinnerungen, die irgendwo versickern. Eine Frau, die die Geschlechtergrenzen hinter sich gelassen hat und nur noch Mensch ist, wie bei ihrer Geburt vor langer Zeit.“ S. 16

    Zwangsläufig reflektiert die Mutter über ihr eigenes Leben, aber auch über das der alten, einsamen Frau. Sie überträgt deren Kinderlosigkeit mit ihrem unabhängigen freien Leben auf die Tochter, die sich für die Mutter völlig unverständlich gegen Glück, Erfüllung und materielle Absicherung entschieden hat. Die Mutter kann Rain nicht akzeptieren, obwohl jene sich in der neuen Hausgemeinschaft äußerst freundlich und zuvorkommend verhält. In der weiteren Handlung wird deutlich, dass die Homophobie keineswegs nur ein Problem der Mutter ist, sondern ein gesamtgesellschaftliches, verbreitetes Phänomen. Homosexualität wird keineswegs anerkannt, im Gegenteil haben Schwule und Lesben mit sozialer und sogar beruflicher Ausgrenzung zu rechnen – eine Ungerechtigkeit, die empörend ist!

    Im Verlauf des Romans lernt man eine ambivalente Mutter kennen, die sich aufopferungsvoll um die Bedürfnisse der alten Frau kümmert, für die eigene zweifellos geliebte Tochter aber wenig Empathie entwickeln kann, nur weil jene nicht nach ihren Vorstellungen lebt. Die Tochter indessen ist kämpferisch, sie konfrontiert nicht nur die Mutter mit ihren überkommenen Ansichten, sondern auch ihren Arbeitgeber – mit Konsequenzen.

    Der mütterliche Gedankenstrom liest sich fesselnd. Die Sprache wirkt kühl und distanziert, was typisch für die koreanische Literatur zu sein scheint. Dennoch nimmt einen der Text gefangen, die Reflexionen der Mutter zeugen von Weisheit und Erfahrung, viele Sätze sind es wert, herausgeschrieben zu werden. Der Unterschied zwischen der Älteren, die sich meist anpasst und schweigt, und der Jüngeren, die sich Ungerechtigkeiten vehement entgegenstellt, wird an vielen Beispielen deutlich. Wie es der asiatischen Kultur entspricht, bleiben die zwischenmenschlichen Konflikte lange unter der Oberfläche, bevor sie offen ausgetragen werden. Dramatische äußere Umstände und Entwicklungen in beiden Handlungssträngen sorgen für Spannung. Man kann zum Glück nicht alles auf die Zustände in Deutschland übertragen, das sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich weiterentwickelt hat. „Die Tochter“ ist ein intensiver Roman über den Umgang mit dem Alter, Humanität, unterschiedliche Lebensformen, Akzeptanz und Toleranz, über Diskriminierung und soziale Kälte. Er stimmt nachdenklich, ist in seiner Stimmung aber keineswegs trostlos. Die Autorin gibt ihren vielschichtigen Charakteren Entwicklungspotential an die Hand, das bis zum Schluss durchgängig realistisch und nachvollziehbar bleibt.

    Der Roman ist ein tiefgehendes Stück Literatur, das uns Einblick in eine fremde Kultur ermöglicht, Defizite klar ausleuchtet und Verbesserungspotentiale aufzeigt. Er eignet sich perfekt für Lesekreise und Diskussionsrunden. Die Familiengeschichte fesselt, die Sprache fasziniert (hier muss unbedingt die gelungene Übersetzung von Ki-Hyang Lee gelobt werden). Ein Roman, der nachhallt und dem ich viele deutsche Leser wünsche. Große Lese-Empfehlung!

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  1. Das Dilemma mit der Realität...

    Kultur aus Südkorea ist ja gerade mega in und nachdem mich bereits südkoreanische Lektüre gut unterhalten hatte und so besonders war, wollte ich auch dieses Buch unbedingt lesen.

    In der Geschichte geht es um ein Mutter- Tochter- Verhältnis. Aus Geldmangel muss die Tochter wieder bei der Mutter einziehen, was die andere mit Zähneknirschen hinnimmt. Doch außer Green zieht auch deren Partnerin mit ein. Was sollen die Leute denken?

    Die Handlung wird uns über die Mutter als Ich- Erzählerin nahe gebracht, die dauerhaft namenlos bleibt. Durch diese Perspektivwahl bekommen wir ihre Gedanken und Emotionen hautnah mit. Sie ist gefangen in dem was sie von der Gesellschaft gelernt hat und das was jetzt neu auf sie zu kommt, nämlich dass sie eine Tochter hat, die wohl nicht mit Mann und Kindern leben wird. Dieser Zwiespalt ist enorm gut heraus gearbeitet.

    Zudem versteckt sich im Buch an vielen Stellen Gesellschaftskritik. So wird deutlich, dass man immer mehr für weniger arbeiten muss und wie die Zustände in der Gesellschaft, in Pflegeeinrichtungen und ähnliches sind.

    Green und Rain haben in meinen Augen eher Gastrollen gespielt. Man bekommt nur durch den Blick der Mutter deren Beziehung mit, aber eben eingefärbt durch Vorurteile und Klischees, aber nie die Realität. Die beiden waren mir durchaus sympathisch, da hätte ich zu gern auch mal deren Perspektiven erlebt.

    Für mich war besonders, dass die Mutter eine enorme Entwicklung durchmacht und dann doch mehr auf den Bauch hört, was ich als gut und richtig empfand.

    Etwas schade fand ich, dass die letzten fünfzig Seiten nicht mehr ganz so gut waren wie der Rest. Ich glaube 80 Prozent der Menschen würden das was die Mutter auf sich nimmt einfach nicht tun. So gutherzig ist leider kaum jemand und deswegen war das Ende für mich nicht ganz glaubwürdig.

    Fazit: Eine intensive Geschichte über ein Thema, das immer mehr in den Fokus rücken sollte. Ich habe mich gut unterhalten gefühlt und viel über Südkorea gelernt.

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  1. Späte Herausforderungen

    Kurzmeinung: Ich mag (süd)koreanische Literatur. Sie ist kühl und gut.

    Dieser Roman aus Südkorea ist etwas Besonderes.

    Eine etwas über sechzig Jahre alte südkoreanische Witwe fühlt sich alt, sie hat ein heruntergekommenes Haus, wovon sie Teile vermieten musste, kommt aber mit den Mieteinnahmen nicht klar, weil die Mieter unverschämterweise ständig neue Reparaturen fordern und sich nicht damit abfinden wollen, dass das Dach undicht ist. Deshalb, um über die Runden zu kommen, hat sie über eine Jobvermittlung eine Stelle als Pflegerin in einem privaten Altenheim angenommen.

    Die Witwe kämpft an mehreren Fronten ums Überleben. Beruflich ist die Betreuung der dementen alten Frau Tsen, der sie als Pflegerin zugeteilt ist sowohl eine physische wie auch eine psychische Herausforderung. Denn in dem Heim herrschen nicht gerade die besten Pflegebedingungen und es wird immer schlimmer. Unsere Protagonistin beklagt sich nie, denkt sich aber ihren Teil. Privat muss sie sich damit auseinandersetzen, dass ihre Tochter lesbisch ist, seit sieben Jahren mit einer festen Partnerin zusammenlebt und wohl niemals heiraten wird oder Kinder bekommt. Das aber wäre ihre Vorstellung von einem gelungenen Leben. Die einzige mögliche Vorstellung gelingenden Lebens.

    Die Witwe fühlt sich zwischen Empathie, Mitmenschlichkeit und ihrem Überlebenswillen und persönlichen Wünschen zerrieben. Sollte alles das, was sie sechzig Jahre lang gelebt hat und das, was man ihr eingetrichtert hat, Mund halten, sich nur um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, falsch sein oder zumindest nicht die ganze Wahrheit? Sollte man gesellschaftliches Engagement nicht anderen überlassen?

    Der Kommentar:
    Die Autorin bringt die Konflikte ihrer Protagonistin schmerzhaft auf den Punkt. Beiden Handlungssträngen gelingt es, den Leser mitzunehmen, ihn mitleiden und mitfühlen zu lassen, und das trotz einer kühlen distanzierten Schreibweise. Die ich sehr liebe!

    Natürlich ist es in einem inneren Monolog allein, unmöglich, alle Aspekte der angeschnittenen Themen umfassend zu behandeln, sie sind viel komplexer als im Buch dargestellt, aber das muss auch nicht sein, deutlich wird, gesellschaftliches Engagement hat seinen Preis. Veränderung ist nicht zum Nulltarif zu haben. Aber auch die frühere, gängige Praxis, unliebsame Kinder einfach zu verstoßen, hatte und hätte seinen Preis.

    Unter großen Schwierigkeiten meistert unsere Protagonistin, die stellvertretend für die gesamte ältere Generation Südkoreas stehen dürfte, die großen moralischen Herausforderungen ihres Lebensabends.

    Fazit: Wunderbar herausgearbeitetes inneres Dilemma und gleichzeitig harte Gesellschaftskritik. Chapeau! Was dürfen wir von dieser Autorin (geboren 1983) noch erwarten?

    Kategorie: Belletristik.
    Verlag: Hanser. Berlin, 2022

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