Die Summe des Ganzen

Rezensionen zu "Die Summe des Ganzen"

  1. Schwarze Schafe gibt es überall

    Welch ein Buch hat Steven Uhly hier geschrieben?! Brandaktuell in der Thematik erhebt er keine lautstarken Anklagen gegen die öffentlich diskutierten Skandale in der katholischen Kirche, wo das Deckmäntelchen der Verschwiegenheit über straffällig gewordene pädophile Priester gelegt und den Opfern im besten Fall ein Schweigegeld angeboten wird. Nein, Uhly schreibt seinen Roman in leisen Tönen, er legt den Finger in die Wunde, versteht das Spiel mit den Emotionen, fühlt sich unglaublich tief in seine Figuren ein, so dass man als Leser hautnah ins Geschehen einbezogen wird. Dieser Geschichte hat der Sezessionsverlag Berlin einen ebenso einmaligen wie hochwertigen Einband geschenkt, der augenfällig ist und das Buch zum bibliophilen Kleinod macht.

    Primärer Schauplatz ist ein Beichtstuhl in einer kleinen Kirchengemeinde im Außenbezirk Madrids. Padre Roque de Guzmán kennt seine Schäfchen, die ihn regelmäßig aufsuchen: da ist der seine Frau prügelnde Ehemann, der latent untreue Fernfahrer oder die einsame Witwe, die von ihren Sünden reingewaschen werden wollen. Die Beichte ist ein Ritual, das für den Padre routinierte Pflicht darstellt. Doch eines Montags erscheint ein unbekannter Sünder, dem es schwer fällt, über seine Verfehlung zu sprechen. Er braucht mehrere Anläufe, um sich seiner bevorstehenden, noch nicht vollendeten Tat zu nähern: Er begehrt seinen 10-jährigen Nachhilfeschüler. Passiert ist zunächst noch nichts, aber das Verlangen bohrt und versengt den Sünder von Tag zu Tag mehr… Der Padre reagiert zunächst gewohnt souverän, indem er versucht, den Delinquenten von seiner Tat abzuhalten. Allerdings verliert der Gottesdiener immer mehr den Halt, er wirkt innerlich aufgebracht und erregt, flüchtet sich in auswendig gelernte Phrasen. Zunehmend verliert er seine Unerschütterlichkeit: „Der Padre ist verunsichert. Dieser Sünder erscheint ihm wie schlüpfriger Untergrund. Er hat das Gefühl, dass er ihm ständig Fallen stellt mit seinen spitzfindigen Fragen.“ (S. 19)

    Es entfaltet sich ein theologisch-philosophischer Schlagabtausch über Schuld und Vergebung auf hohem Niveau. Sowohl der Padre als auch der Sünder scheinen tief im Glauben verwurzelt. Beide berufen sich auf Gottes Wort und wirken bibelfest. Der Sünder leidet. Er ist sich durchaus bewusst über die Schändlichkeit seines Verlangens. Wir dürfen tief in die Seele dieses Lucas Hernández eintauchen, der eigentlich Frau und Kind hat. Nun steckt seine Ehe aber in einer Krise, so dass er die Passion zu diesem Jungen entdeckte: „Wie lange wird er in der Lage sein, das Unvermeidliche hinauszuzögern, bevor er zur Tat schreiten muss? Und dass er muss, dass er müssen wird, steht so fest wie nichts in seinem Leben.“ (S. 21)

    Als Leser wird man zwischen den zwei Einzelperspektiven hin und her geworfen. Im Beichtstuhl treffen sie fast täglich aufeinander. Der Padre fiebert der Beichte regelrecht entgegen, der Sünder beschäftigt dessen Gedanken immer stärker. Er möchte die Tat unbedingt verhindern, das steht fest. Nicht ganz eindeutig sind seine Beweggründe dafür. Hat etwa auch der Padre ein dunkles Geheimnis? Ist dieser Sünder eine von Gott gesandte Prüfung, um seine Standhaftigkeit herauszufordern?

    Im Zuge des Romans wird man als Leser emotional gefordert. Der sich ankündigende Kindesmissbrauch geht unter die Haut. Die Täterperspektive wird ungeschönt dargelegt. Der Sünder kämpft mit seinen Dämonen, es ist ihm durch aus bewusst, dass es um nichts weniger als um die Zerstörung der Unschuld, um die Zerstörung eines hoffnungsvollen Lebens geht. Die Tragweite wird nicht geschönt, die Innensichten der beiden Protagonisten sind intensiv, Täterrollen verändern sich. Im weiteren Verlauf treten Thriller ähnliche Elemente hinzu, als das potentielle Opfer eine Identität bekommt. Man möchte den Atem anhalten, damit dem Jungen nur nichts passieren möge.

    Steven Uhly ist mal wieder ein großer kleiner Roman gelungen. Er deckt die schändliche Vertuschung der Kirche am konkreten Beispiel auf, zeigt, was es heißt, wenn man Täter nicht mit aller Härte des Gesetzes bestraft, sondern versteckt oder versetzt oder nur an ihren guten Willen appelliert. Diese dadurch grenzenlose Bagatellisierung des entstandenen Leids empört und entrüstet.
    Diesem Kammerspiel im Beichtstuhl hat Uhly eine interessante Nebenhandlung zur Seite gestellt, die man bei genauerer Betrachtung durchaus als Gleichnis lesen kann. Die wenigen Figuren des Romans sind wunderbar austariert. Sie nehmen eine durchaus nachvollziehbare Entwicklung. Das Ende erreicht einen spannenden Höhe- und Wendepunkt.

    Ich bin zutiefst begeistert von diesem Buch! Ich habe noch nie dermaßen mitreißend über die wiederkehrenden Skandale der katholischen Kirche gelesen. Es ist ein heikles Thema, das mit den beiden Perspektiven des Padres und des Sünders unglaublich raumgreifend und kraftvoll transportiert wird. Wohlgemerkt ohne pauschale Urteile zu fällen oder die Kirche als Ganzes an den Pranger zu stellen. Hier geht es zunächst primär um diesen fiktionalisierten Einzelfall, der als Spiegelbild zahlreicher anderer realer Kirchenskandale der jüngeren und älteren Vergangenheit taugt. Die einzelnen Schicksale dürften sich gleichen, ebenso die Täterperspektiven.

    Es ist wichtig, sich damit zu beschäftigen. Es ist notwendig, darüber zu reden und zu schreiben. Es darf nicht sein, dass im Interesse einer Institution den Opfern Respekt, Entschädigung und Rehabilitierung versagt wird. Kindesmissbrauch zieht eine endlose Kette des Leidens nach sich, „eines Leidens, das sich durch die Zeitalter fortpflanzt und niemals versiegt, niemals seine Kraft verliert“ (S. 72). Lasst uns wachsam bleiben, nicht nur im kirchlichen Umfeld, sondern überall, wo mit Kindern gearbeitet wird! Ich verstehe diesen Roman nicht nur als aktive Kritik an der katholischen Kirche, sondern als Aufruf an uns alle, unsere Kinder zu schützen, ihnen zuzuhören und zu vertrauen.

    Dringende Leseempfehlung!

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