Die Stimme meiner Schwester: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Stimme meiner Schwester: Roman' von Itamar Vieira Junior
3.65
3.7 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Stimme meiner Schwester: Roman"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:320
Verlag: S. FISCHER
EAN:9783103974935

Rezensionen zu "Die Stimme meiner Schwester: Roman"

  1. Die Schatten der Sklaverei...

    Das farbenfrohe Cover hatte mich auf das Buch aufmerksam gemacht und ich wusste gar nicht so genau, was mich da erwarten würde. Bekommen habe ich Vortreffliches.

    Die Geschichte startet damit, dass eine von zwei Schwestern beim Spielen unglücklich ihre Zunge verliert und von da an ihre Schwester ihr die Stimme leihen muss. Es spricht also eine der Schwestern für beide.

    War ich ganz gut informiert über die Sklaverei in den USA, so hatte ich absolut keine Ahnung, dass diese auch ihre Schatten in Brasilien gezogen hat. Sowohl Farbige als auch Indigene wurden für harte Arbeit benutzt ohne jemals Land oder sonst etwas besitzen zu dürfen.

    Sprachlich hat mich der Roman ebenfalls gefangen genommen. So fand ich die Darstellungen des Lebens an sich, sowie die Umgebung sehr eindringlich geschildert, so dass ich klare Bilder vor Augen hatte. Auch das Mysteriöse mitsamt dem Glauben an Geister und Übernatürlichem hat mich fasziniert.

    Für mich wurde zudem sehr detailreich das Schicksal der Frauen beleuchtet, die im Gegensatz zu den Männern noch größere Päckchen zu tragen haben. Das hat mich begeistert, denn so etwas lese ich gern.

    Das Verhältnis der Schwestern hat mir aufgezeigt wie wichtig Familie in den härtesten Zeiten des Lebens ist und dass man durch Zusammenhalt alles schaffen kann.

    Fazit: Ein starkes Debüt, dass viele Leser verdient hat.

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  1. Ausbeutung und Widerstand

    Die „Stimme meiner Schwester“ beginnt spektakulär mit einem Unglück. Bibiana und Belonísia, Schwestern im Alter von sechs und sieben Jahren, öffnen in einem unbeobachteten Moment den alten Koffer ihrer Großmutter. Darin finden sie ein sehr schön gearbeitetes, mit einem Elfenbeingriff verziertes Messer, eingeschlagen in einen alten Lumpen. Aus einer Laune heraus nehmen sie dieses in den Mund. Sie wollen spüren wie es schmeckt und verletzten sich beide an der scharfen Klinge - Belonísia so stark, dass sie ein Stück ihrer Zunge verliert und nie mehr wird sprechen können. Die Ausgangssituation ist dramatisch und wirft so viele Fragen auf, dass ich gebannt in diese Geschichte eingestiegen bin. Handlungsort ist eine Fazenda im Nordosten Brasiliens. Dort bewirtschaften Quilombolas, die Nachfahren afrikanischer Sklaven, die während der portugiesischen Kolonialzeit ins Land verschleppt wurden, die Felder. Auch Belonísias und Bibianas Familie sind Nachkommen schwarzer Sklaven. Offiziell wurde die Sklaverei in Brasilien 1888 abgeschafft. Faktisch wurden die landlosen ehemaligen Sklaven jedoch in neue Knechtschaftsverhältnisse gezwungen. Sie bewirtschafteten in harter Knochenarbeit die Plantagen gegen das Recht, dort eine Lehmhütte zu errichten. Haltbare Steinhäuser wurden nicht gestattet, alles sollte provisorisch bleiben. Die Familien erhielten kein Geld für ihre Arbeit, mussten aber große Teile der Ernte an die Grundbesitzer abgeben, die oftmals mehr nahmen als ihnen zustand. Itamar Vieira Junior erzählt mit großer Kenntnis von den Lebensbedingungen auf den Fazendas, den religiösen Riten der afro-brasilianischen Bevölkerung, dem Glauben an Geister und Verzauberte und dem traditionellen Heilwesen.
    Der Roman gliedert sich in drei Teile, die jeweils einer eigenen Erzählstimme gewidmet ist: die Perspektiven, die sich leider sprachlich überhaupt nicht voneinander unterscheiden, sind die von Bibiana, Belonísia und im dritten Teil die einer Verzauberten namens Santa Rita Pescadeira. Der Roman erzählt von fortbestehenden Knechtschaftsverhältnissen, der Gewalttätigkeit von Ehemännern, kulturellen Veränderungen - insbesondere im Bereich der traditionellen Glaubensvorstellungen - und vor allem vom aufkeimenden Widerstand gegen die erlittenen Ungerechtigkeiten moderner Sklaverei in den 1980er Jahren und davor. Es sind im Text vor allem Bibiana und ihr Ehemann sowie Belonísia, die sich auflehnen, eine Widerstandsbewegung gründen und mit großer Stärke vorangehen.
    1988 wurden zwar die Landrechte der Quilombolas in der brasilianischen Verfassung verankert, allerdings scheinen diese immer noch nicht in allen Teilen Brasiliens umgesetzt zu sein. Der im Roman eine große Rolle spielende Jâre-Kult, hat sich mir nur vage erschlossen. Hier hätte ich mir ein Glossar bzw. eine Erläuterung und Einordnung im Rahmen eines Vorworts gewünscht.
    Letztendlich hat mich der Erzählton bzw. der Stil des Autors nicht durchgängig erreicht. Die Erzählweise war mir zu monoton, zu nüchtern, weshalb ich das Lesen über größere Abschnitte als zäh empfunden habe. Ich empfehle das Buch aber denjenigen, die sich für die Situation und die Geschichte der Quilombolas interessieren.

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  1. Einblick in fremde Religionen

    In 'Die Stimme meiner Schwester' begleiten wir Belonisia und Bibiana, zwei Schwestern die vor dem Hintergrund ihrer Herkunft als Nachkommen von Sklaven und alter brasilianischer Religion ihre eigenen Hindernisse überwinden müssen.

    Hier finde ich den Klappentext irreführend. Liest man ihn, denkt man es geht sehr viel im die Bande zwischen den beiden Schwestern und vor allem darum, wie die beiden durchs Leben kommen wenn eine Schwester aufgrund eines Unfalls nicht mehr sprechen kann und die andere diese Aufgabe für sie übernimmt. Das kam mir aber in dem Buch eindeutig zu kurz.

    Das lag vor allem daran, dass die Perspektiven der beiden Schwestern nacheinander erzählt würden und gerade in der der 'sprechenden' Schwester nicht mehr viel Solidarität mitschwingt wie der Klappentext es erhoffen lässt. Ihre Kapitel kamen mir vor wie eine Aneinanderreihung von Geschichten, aus denen ich den roten Faden nicht ausmachen konnte. Ich habe ehrlich überlegt das Buch abzubrechen.

    Dann kam nach 1/3 des Buches die nächste Perspektive. Die stumme schwester ist eine sehr eigenständige Person, ihre Perspektive fand ich mitreißend und bewegend. Sie ist meiner Meinung nach die eigene Person, die wirklich mit Tiefe gezeichnet wurde, die anderen bleiben sehr eindimensional. Hier hat man dann verstanden, dass die erste Perspektive eigentlich nur dazu da war, die Szene für alles weitere zu setzen. Das fand ich sehr schade.

    Man erhält allerdings in den Buch sehr gute Einblicke in die Religion und der Heiligen der Gemeinschaft. Dieses Thema wird mit jeder Seite präsenter und ist am Ende eigentlich das allumfassende Thema.

    An sich hätte das Buch viel Potential gehabt über die Verhältnisse der Menschen zu reden und wirklich tiefgreifende Charaktere zu zeichnen. Stattdessen würde vieles nicht richtig erklärt was gerade bei Fiktion meiner Meinung nach wichtig ist um dem Lesefluss zu helfen. Oft konnte ich der Kultur und der Geschichte der Menschen nicht folgen, weil Kontext gefehlt hat. Das hat es leider nicht getan, es wirkte zusamnengestückelte und als wollte der Autor viele Themen ansprechen und hat nichts zu Ende geführt. Sehr schade. Eine wesentlich bessere Ausarbeitung dieses Themas gibt es meiner Meinung nach im Buch "Wie schön wir waren". Das würde ich allen empfehlen, die generationsübergreifenden Schmerz und Kulturen verstehen wollen.

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