Die Stadt

Rezensionen zu "Die Stadt"

  1. Ein fordernder Stadtroman mit schwieriger Hauptperson

    Es ist ein schwieriges Buch und ich fühle mich als Leser ebenso hin- und hergerissen wie die Hauptperson Stepan Radtschenko. Verstanden habe ich auch nicht alles, zu vielschichtig ist der Roman, mit philosophisch anmutenden Gedanken, Unterhaltungen über Kino und Theater und das alles in einer außergewöhnlich schönen, manchmal vielleicht etwas zu überbordenden Sprache.

    Dieser Stadt- und Schriftstellerroman gilt als eines der Hauptwerke der ukrainischen Moderne und wir können froh sein, dass es eine Übersetzung ins Deutsche gibt, die von einem engagierten Übersetzerteam und mit Unterstützung des Guggolz-Verlages zustande kam (s. Nachwort).
    https://www.guggolz-verlag.de/buecher/die-stadt-x

    Walerjan Pidmohylnyj

    Kurz zum Leben von Walerjan Pidmohylnyj (wie man das wohl ausspricht?), denn das Buch enthält autobiographische Elemente. Wie Stepan wurde auch er in einem Dorf geboren, durfte allerdings mit den Kindern des Gutsbesitzers Französisch lernen. Das befähigte ihn später, Werke von Guy de Maupassant (z.B. Bel Ami) u.a. ins Ukrainische zu übersetzen. Zudem arbeitete er in Kyjiw als Redakteur einer Kulturzeitschrift wie auch Stepan. Dieser Roman war ursprünglich als Drehbuch für eine Filmkomödie gedacht. - Leider nahm Pidmohynyjs Leben keine gute Wendung, denn der Stalinismus griff rasant um sich. Er bekam zuerst Publikationsverbot, wurde mehrfach inhaftiert, gefoltert und schließlich zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Dort wurde er 1937 erschossen, ehrlicher gesagt: ermordet. Erst sehr viel später, in der postsowjetischen Ukraine, durften seine Werke wieder gedruckt werden. - Ganz hinten im Buch ein Foto von Walerjan Pidmohylnyj.

    Stepan Radtschenko, die Stadt, die Frauen und die Schriftstellerei

    Wir begleiten den 25 Jahre jungen Mann, der aus einem Dorf in der Steppe stammt, auf einem Dampfer den Dnipro hinauf zur großen Stadt Kyjiw. Er hat schon einiges hinter sich: Beteiligung an der Revolution von 1917, die mit Terror und Bürgerkrieg einherging, Arbeit als Parteiaktivist im Dorf, Kulturarbeit. Nun soll ein neues Leben für ihn beginnen, denn er will auf der Hochschule für Ökonomie studieren, will Stadt und Land zusammenbringen und Bildung und Sozialismus fördern.

    Kyjiw erscheint wie die moderne Stadt schlechthin; die Roaring Twenties lassen auch hier das Leben brodeln wie in anderen europäischen Städten: Menschenmassen in den Straßen und auf den Plätzen, Kino und Theater, eine aufstrebende Literaturszene, prickelnde Vergnügungssucht und Frauen überall. Wir sehen die Stadt durch Stepans Augen, der sich abwechselnd abgestoßen und angezogen fühlt von den Verlockungen der Großstadt, der aber eine gewisse Triebhaftigkeit nicht im Zaum halten kann. (Ich könnte auch das böse Wort '...gesteuert' benutzen).

    Doch zuerst einmal muss er sich mit bescheidensten Verhältnissen zufrieden geben. Wie er später vom ärmlichen Stadtteil Podil bis ins Zentrum gelangt, verläuft parallel zu seinen Liebesverhältnissen und seiner Schriftstellerkarriere. Schnell hat er nämlich seine Pläne, Ökonom zu werden, über Bord geworfen und er beginnt zu schreiben, wenn auch von häufigen Blockaden geplagt. Wird er es schaffen, ein berühmter Schriftsteller zu werden?

    Eins ist jedenfalls klar: sein Verhältnis zu Frauen ist nicht nur so unstet wie seine anfänglichen Zukunftspläne, sondern hochgradig verächtlich, zynisch und unanständig. Dabei sieht es jeweils anfangs nicht so aus, aber er ändert seine Meinung in allen Bereichen ständig. Er zeigt eine seltsame Mischung aus unstetem Verhalten und zielgerichtetem Handeln und leidet an überheblicher Selbstverliebtheit.

    'Sein Einfallsreichtum war unerschöpflich, seine Fantasie unermüdlich, seine Selbstverliebtheit unbesiegbar. In seinen Händen hielt er einen magischen Stein, der bebte und rauchte und ihm alle Wunder dieser Welt zeigten. Dieser Stein war er selbst.' (99)

    Fazit

    Was mir am meisten gefallen hat, sind die Beobachtungen und Beschreibungen der Stadt, des Lebens und die vielen klugen und anregenden Gedanken und das alles in eine wortgewaltige, bildhafte Sprache verpackt.

    Teilen
  1. Der ukrainische Döblin

    Es gibt ja Bücher, die einem mehr oder weniger durch Zufall „über den Weg laufen“. So auch „Die Stadt“ des ukrainischen Schriftstellers Walerjan Pidmohylnyj, von dem ich im zwitschernden Netzwerk gehört bzw. gelesen hatte. Als mir dann noch gewahr wurde, dass das Buch beim kleinen, dafür aber umso größeren Guggolz-Verlag (Buchnerds wissen was ich meine *g*) veröffentlicht wurde, stand fest „Muss ich kaufen!“ Also direkt bestellt, flott geliefert und jetzt gelesen.

    Und was soll ich sagen: das Buch steht auf dem Treppchen der „King´s Crown Juwels 2022“; egal, ob Gold, Silber oder Bronze (ich tendiere zu Ersterem, aber wer weiß, was noch kommt *g*).

    Eine ganze Reihe an (studentischen) Übersetzerinnen und Übersetzern (Alexander Kratochvil, Lukas Joura, Jakob Wunderwald und Lina Zalitok, die auch zusammen mit Susanne Frank das lesenswerte und durchaus erhellende Nachwort verfasst haben) hat diesen ursprünglich 1929 erschienenen Roman übersetzt, der somit fast 100 Jahre auf eine deutsche Veröffentlichung „gewartet“ hat. Aber besser spät als nie :-).

    Der vom Land stammende Stepan kommt in „Die Stadt“ Kyjiw (Kiew), um dort zu studieren. Der etwas „holprige“ Start (Unterkunft in einer Tischlerei zwischen Sägespäne und Holzbrettern) hindert den jungen Mann nicht daran, die Stadt und seine Bewohner eingehend zu beobachten, (lukrative) Freundschaften zu schließen und sich ins Großstadtleben, aber auch in sein Studium zu stürzen. Allerdings geraten seine diesbezüglichen Pläne immer mehr ins Hintertreffen, da es noch eine andere Leidenschaft gibt: die Schriftstellerei.

    Und so werden die Leserinnen und Leser Zeuge, wie Stepan immer mehr in die ukrainische Literatur-Szene eintaucht und sich zu einem gefragten Übersetzer und Autor mausert. Was diesen Strang der Erzählung anbelangt, ist der Roman stark autobiografisch geprägt, wie sowohl das kurze, persönliche Nachwort des Autors als auch das bereits angesprochene Nachwort der Übersetzer deutlich macht.

    Der tiefe Blick in die (ukrainische) Literatur- und Lyrikszene ist durchsetzt mit immer wieder durchblitzenden tiefsitzenden Selbstzweifeln Stepans. Das ist an der ein oder anderen Stelle durchaus plausibel, manchmal möchte man ihn aber auch ob seiner Naivität oder seines „sich hängen lassen“ packen, schütteln und zum Aufwachen bringen. Aber gut – das ist die Schule des Lebens ha ha ha.

    Der Ton der Erzählung passt sich den jeweiligen Abschnitten an. So gibt es neben hektischen Großstadt-Abschnitten poetisch-warmherzige Passagen, in denen die Natur, die Parks, das Wetter etc. das „Sagen“ haben. Demgegenüber stehen philosophische Betrachtungen als auch herrlich „schräge“ Bilder. Ein Beispiel für Letzteres:

    „Ich habe den Schriftsteller immer mit dem Bäcker verglichen. Aus einer kleinen Teigkugel bäckt er einen Laib Brot. Er hat einen guten Ofen, verwendet gute Hefe, und er ist sich nicht zu schade, den Teig für Monate, ein Jahr oder viele Jahre zu kneten. Aber wenn er scheu ist, wenn er sich vor seinen eigenen Gedanken und vor dem, was andere denken, fürchtet, dann sollte er lieber seine Bäckerei schließen und Volksschullehrer werden.“ (S. 253 ff)

    Neben der großartigen Übersetzungsarbeit wertet das Buch auch noch ein umfangreiches Glossar auf, in dem die wichtigsten Schlüsselbegriffe (Orte, Namen von Autoren, Abkürzungen etc.) teils ausführlich erläutert werden. Vielleicht wäre es hier hilfreich gewesen, die im Glossar fett gedruckten Wörter im Text ebenso fett zu drucken oder anderweitig auf den Anhang aufmerksam zu machen. Aber das ist hier jammern auf allerhöchstem Niveau und schmälert meine Begeisterung für diesen Text, der meiner Meinung nach einem „Berlin, Alexanderplatz“ von Alfred Döblin in nichts nachsteht, in keinster Weise.

    Und so bleibt mir am Ende nichts weiter übrig, als (mindestens *g*) 5* aus meiner Schublade zu holen und eine absolute Leseempfehlung auszusprechen!

    ©kingofmusic

    Teilen
  1. 4
    09. Jan 2015 

    Fabel, Parabel, Märchen? Jedenfalls nach wie vor aktuell...

    Die Stadt, die anfänglich nur eine Gründung gewesen war, begann eine Heimat zu werden. Es gab hier eine Art, sich zu grüßen, eine Art, sich im begegnen zurückzunicken, die sich von den Arten in anderen Städten leicht und zart unterschied.

    Meine Ausgabe des Märchens 'Die Stadt' von 1977 wurde anlässlich des 100. Geburtstages von Hermann Hesse herausgebeben, liebevoll illustriert von Walter Schmögner.

    In atemberaubender erzählerischer Raffung gibt diese bereits 1910 entstandene Fabel einen kompletten kultur- und entwicklungsgeschichtlichen Abriss unserer Zivilisation. Wie aus der Perspektive eines Historikers oder Naturwissenschaftlers, dem erst seine Unbefangenheit und innere Distanz vom Untersuchungsobjekt die größtmögliche Objektivität erlaubt, wird hier in ebenso charakteristischer wie tragikomischer Reihenfolge der Aufstieg und Verfall eines menschlichen Siedlungsgebietes dargestellt.
    Walter Schmögner hat, Seite für Seite, dieses große Thema in farbigen Bildern dargestellt. Sensibel und intelligent hat er die Themen 'Aufstieg und Fall der Zivilisation', 'Überheblichkeit und Bescheidenheit' und 'Fortschrittsglaube und Natur' gekonnt in Szene gesetzt.

    Ob nun Märchen, Fabel oder Parabel - jedenfalls ein Buch, das zu denken gibt. Ein eher unbekanntes Werk Hesses - aber dennoch von frappierender Aktualität. Beeindruckend.

    © Parden

    Teilen