Die spürst du nicht: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Die spürst du nicht: Roman' von Daniel Glattauer
4.75
4.8 von 5 (4 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die spürst du nicht: Roman"

Der Bestsellerautor Daniel Glattauer lässt in seinem neuen Roman Menschen zu Wort kommen, die keine Stimme haben – ein Sittenbild unserer privilegierten Gesellschaft. Die Binders und die Strobl-Marineks gönnen sich einen exklusiven Urlaub in der Toskana. Tochter Sophie Luise, 14, durfte gegen die Langeweile ihre Schulfreundin Aayana mitnehmen, ein Flüchtlingskind aus Somalia. Kaum hat man sich mit Prosecco und Antipasti in Ferienlaune gechillt, kommt es zur Katastrophe. Was ist ein Menschenleben wert? Und jedes gleich viel? Daniel Glattauer packt große Fragen in seinen neuen Roman, den man nicht mehr aus der Hand legen kann und in dem er all sein Können ausspielt: spannende Szenen, starke Dialoge, Sprachwitz. Dabei zeichnet Glattauer ein Sittenbild unserer privilegierten Gesellschaft, entlarvt deren Doppelmoral und leiht jenen seine Stimme, die viel zu selten zu Wort kommen.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:304
EAN:9783552073333

Rezensionen zu "Die spürst du nicht: Roman"

  1. Ein Badeunglück und seine Auswirkungen

    Wie geht jedes Mitglied der urlaubenden Familien Binder und Strobl-Marinek mit dem Unglück um, das gleich am 1. Abend im Pool der toskanischen Ferienvilla passiert und bei dem die 14-jährige Aayana (Freundin der Tochter Sophie Luise) stirbt?

    Im neuen Buch von Daniel Glattauer, von dem ich bisher nur heitere Themen kannte, wird aber nicht nur das Thema Unglücksbewältigung behandelt, sondern auch die Themen Migration, Beziehungspsychologie, Kindererziehung, Pubertät, Mobbing, Schuld und der Umgang mit ‚social media‘. (Die beispielhaften Kommentare jeweils auf die Nachrichten in den Medien sind herrlich realistisch und authentisch!)

    Die Charaktere sind fantastisch präzise gezeichnet und entlockten mir des Öfteren ein Schmunzeln. Da gibt es z.B. Sätze wie ‚Beide sind aber nicht nur glühende Verfechter der befindlichkeitsfernen Unverbindlichkeit, sondern auch begnadete Verweigerer der persönlichen Verstrickungen in unangenehme bis prekäre Lebenslagen‘, die mir besonderes Vergnügen bereiteten. (Bei dem Satz handelt es sich um eine Beschreibung der beiden Ehemänner, die sich zu einem ‚vertraulichen‘ Gespräch nach dem Unglück verabredet hatten.)

    Nein, eine leichte und entspannende Lektüre ist das nicht! Aber ich wünsche ihr viele Lesende, die sich damit auf die brennenden Themen unserer Zeit einlassen.

    Erschüttert und tief berührt beendete ich diesen vielseitigen und gesellschaftskritischen Roman und kann nicht anders, als die Höchstzahl an Sternen zu vergeben!

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  1. Und, wie siehst Du das?

    Zum Hörbuch:
    Gut erzählt und direkt gefragt! Und, wie siehst Du das?

    Mein Hörbucherlebnis von:

    *Die spürst Du nicht*
    von Daniel Glatthauer
    Der Österreicher hat Pädagogik und Kunstgeschichte studiert und ist in der Welt der Literatur inzwischen nicht mehr wegzudenken. Für mich war dies die erste Begegnung mit einem Werk des Autors.

    Sprecher: Tessa Mittelstaedt und Steffen Groth

    Das Cover lässt mich an einen entspannenden Urlaub am Pool denken...

    Zum Inhalt:
    Toskana. 2 Familien - Die Binders & Strobl-Marinek - ein gemeinsamer exklusiver Urlaub. Tochter Sophie Luise, 14 Jahre jung durfte ihre somalische Schulfreundin Aayana mit in den Urlaub nehmen. Ein wahrlicher Kulturschock für das Mädchen. Was für eine andere schillernde Welt. Doch schon bald kommt es zu einer Katastrophe. Jeder muss sich grundlegenden Fragen des Lebens stellen: was ist ein Leben wert?

    Sprecher:
    T. Mittelstaedt und Steffen Groth haben diese Aufgabe mit Bravour gemeistert. Das Geschehen hat sich vor meinen Augen abgespielt. Sofort war ich emotional nach wenigen Minuten Zuhörens, mitten im Urlaub mit den Familien und den Mädchen.
    Es gelang die Fragestellung des Romans an mich zu richten. Ich konnte & wollte mich dem nicht entziehen.
    Die Zeit des Hörens wurde so auch eine Zeit des Nachdenkens.

    Storyline:
    Der Aufbau hat mir gut gefallen. Die Vorstellung der Charaktere ist mir sofort im Gedächtnis geblieben & so überzeugend, dass ich heute noch darüber nachdenke.

    Fragestellung an uns:
    Wer gehört zu den Privilegierten der Welt? Wie verhält es sich mit unserer Moral? Sind wir gegen Doppelmoral gefeit?

    Zusammenfassung:
    Ein sehr gutes konstruiertes, Nachdenkens Wertes Hörbuch, dass durch die Kunst der Sprecher mit Emotionen und gutem Tempo vorgetragen wird.

    Fazit:
    Der Roman stellt wesentliche Fragen an jeden einzelnen unserer europäischen Gemeinschaft. Verpackt in eine Story, die so oder etwas anders jederzeit geschehen könnte.

    Ich vergebe ausgezeichnete 5* Sterne mit eine absoluten Lese- bzw. Hörempfehlung!

    ASIN: B0BX6M5MCC
    Hördauer: 8 Stunden und 46 Minuten
    Veröffentlichung: 20. März 2023
    Verlag: Hörbuch Hamburg

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  1. 4
    08. Mai 2023 

    Entlarvend und aufrüttelnd

    Neun Jahre lang hat Daniel Glattauer keinen Roman mehr geschrieben, vor siebzehn Jahren schon erschien sein Bestseller „ Gut gegen Nordwind“.
    Wird sein neuer Roman „ Die spürst Du nicht“ ebenfalls ein großer Erfolg werden? Man wird sehen. Zumindest greift er hierin auf originelle Weise gesellschaftlich relevante Themen auf.
    Zwei Familien aus der gehobenen Mittelschicht verbringen ihren Urlaub in der Toskana. Da ist zum einen die Familie Binder: Er, Engelbert Binder, ein bodenständiger und erfolgreicher Bio-Winzer aus Niederösterreich mit seiner Frau Melanie und dem neunjährigen Sohn Benjamin. Melanie, eine verhinderte Schauspielerin und ehemalige Marillen-Königin, ist nunmehr für den kulturellen Teil der gemeinsamen Wein- Kultur der Binders zuständig.
    Die Strobl-Marineks dagegen gehen nicht nur beruflich getrennte Wege. Elisa ist die langjährige Freundin von Melanie; beide waren in ihrer Jugend politisch engagiert. Elisa unterfütterte ihre Umweltaktivitäten mit einem Studium der Ökologie und hat mittlerweile einen politischen Aufstieg bei den Grünen hingelegt. Sie sitzt für ihre Partei im Nationalrat und hat dabei sehr gute Aussichten auf einen Ministerposten.
    Oskar Marinek ist Dozent an der Universität Wien. Ständig muss er seine geistige Überlegenheit mit besserwisserischen Bemerkungen vorführen.
    Die beiden Kinder der Strobl-Marineks sind natürlich auch mit dabei, die ebenfalls neunjährige Lotte und die vierzehnjährige Sophie Luise. Die Große ließ sich aber nur unter einer Bedingung zu dem Urlaub überreden. Ihre Mitschülerin Aayana müsse mitkommen. Eigentlich kennen sich die beiden Mädchen kaum, doch Photos mit ihr und dem somalischen Flüchtlingskind, so Sophie Luises Überlegungen, würden sich gut auf ihrem Instagram- Account machen.
    Es war kein leichtes Unterfangen, Aayanas Familie von dem Vorhaben zu überzeugen. Doch letztlich hat es geklappt, „ Aayana aus der muslimischen Zwangsjacke ihrer Familie zu schälen, vorübergehend vom Kopftuch zu befreien“ und sie mit auf die Reise zu nehmen. Sophie Luise weiß nun, was sie zu tun hat. „ Sie will ihrer Freundin das Schöne am Guten der westlichen Welt zeigen und sie etwas vom Leben der Privilegierten lehren,…“
    Daniel Glattauer beginnt seinen Roman mit einer filmreifen Szene. Wie mit einer Kamera zoomt er auf die Terrasse der toskanischen Ferienvilla inmitten einer traumhaften Natur. Doch er braucht keine vierzig Seiten, um die Idylle jäh zerbrechen zu lassen. Eine fürchterliche Katastrophe lässt den Urlaub vorzeitig enden und alle kehren verstört nach Österreich zurück. Alle, bis auf das Flüchtlingsmädchen.
    Im weiteren Verlauf wird nun gezeigt, was das mit allen Beteiligten macht und
    wie die einzelnen Figuren mit dem tragischen Unglück umgehen.
    Während die Binders versuchen, das Ereignis zu verdrängen und sich ihren Alltagsgeschäften zu widmen, fühlt sich Oskar nach ausführlichen Erklärungsversuchen frei von Schuld. Er war eh kein Freund dieser Idee seiner Tochter und Geschehenes lässt nicht ändern. Da die Tragödie allerdings einigen medialen Wirbel verursacht, sieht sich die Politikerin Elisa vielen Anfeindungen ausgesetzt und muss um ihre Karriere bangen.
    Doch auch um ihre Tochter Sophie Luise müsste sie sich sorgen. Denn das Mädchen zieht sich immer mehr in sich zurück, wird depressiv. Dann trifft sie im Netz auf einen feinfühligen jungen Mann und fühlt sich von ihm verstanden. Beim Leser läuten hier alle Alarmglocken, doch ihre Eltern bekommen davon nichts mit.
    In der Zwischenzeit hat sich ein Anwalt bei den beiden Familien gemeldet und fordert im Namen der Flüchtlingsfamilie Schmerzensgeld in immenser Höhe. Obwohl die damals eingeschaltete Polizei jegliches Fremdverschulden und Fahrlässigkeit ausschloss, hat das Ganze ein juristisches Nachspiel.

    Das alles schildert der Autor auf fesselnde und berührende Weise. Auch wenn seine Figuren manchmal bis ins Karikaturhafte chargieren, so erscheinen sie dem Leser trotzdem schnell vertraut. Glattauer zeichnet ihre Entwicklung glaubwürdig nach, zeigt auf, wie sie ständig nur um sich selbst kreisen. Es geht permanent um ihre Befindlichkeiten, darum, was das Ereignis für Auswirkungen auf ihre Psyche, ihren Alltag, ihre berufliche Karriere hat. Kaum einer fragt sich, wie es der betroffenen Flüchtlingsfamilie geht, wie sie den Verlust ihrer Tochter und Schwester verarbeiten. Denen, die wir nicht „ spüren“, weil sie so still und unauffällig sind, will Glattauer hier eine Stimme geben. „ Die sind zwar auch unter uns, aber nur scheinbar mitten unter uns. Sie sind unter uns in einem anderen Sinn: Sie sind darunter. Unter unserer Wahrnehmung. Unter unserem Interesse. Ihre Geschichte will hier keiner hören.“ Man spricht zwar über sie, aber nicht mit ihnen.
    Das zeigt der Autor sehr authentisch an den vielen, in den Text eingestreuten Posts aus den sozialen Netzwerken. Manche sind mitfühlend , doch die meisten Kommentare sind zynisch und menschenverachtend, wie so oft, wenn es um das Thema Flüchtende geht.
    Ohnedies mischt hier Daniel Glattauer sehr gekonnt einzelne Textsorten. So finden sich im Buch nüchterne Pressemitteilungen neben privaten Chatverläufen, Interviews sowie Befragungen vor Gericht und die schon erwähnten Hasskommentare im Netz. Das bringt Abwechslung in den Roman, verleiht ihm aber auch Authentizität und einen starken Gegenwartsbezug.
    Ansonsten haben wir es mit einem auktorialen Erzähler zu tun, der wechselweise die Perspektive der einzelnen Protagonisten einnimmt.
    Daniel Glattauer als versierter Theaterstückeschreiber ist ein Meister der Dialoge. Die sind auf Witz und Pointe angelegt , charakterisieren und entlarven die Sprechenden. Mit viel Ironie zeigt der Autor die Scheinheiligkeit und die Ignoranz einer bestimmten Gesellschaftsschicht auf, die ihr Gutmenschentum bewusst zur Schau stellt, der es in Wirklichkeit aber nur um sich selbst und der eigenen Selbstdarstellung geht. Die Frage, was ein Menschenleben wert ist, kann der Roman zwar nicht beantworten, doch Stoff zum Überlegen bietet er genug.
    Mag auch einiges konstruiert wirken und ist mancher Zwist unnötig und zu viel des Guten, so ist Daniel Glattauer doch ein ungemein fesselnder und berührender Unterhaltungsroman gelungen, den ich gerne empfehle.

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  1. 5
    15. Apr 2023 

    Die Ungleichheit spüren

    Daniel Glattauers Roman „Die spürst du nicht“ überrumpelt, schüttelt durch und entlässt einen fassungslos sowie hoffentlich auch im Inneren verändert. Dieses zunächst mit recht einfacher Sprache und stilistisch auffällig berichtartig daherkommende Werk entpuppt sich mit der Zeit zu einem schmerzhaft wahrhaftigen Sittengemälde unserer aktuellen Zeit.

    Wir bekommen zu Beginn die Familienmitglieder zweier gehobener, österreichischer Familien - ja man könnte fast sagen – geschildert, welche zusammen in die Toskana in den Urlaub gefahren sind. Da ist die Winzerfamilie mit dem überdreht optimistischen Winzer und seiner Frau, die mal Ambitionen zur Schauspielerin hatte, es aber nur zur Marillen-Königin geschafft hat, und ihrem gemeinsamen, zurückgezogenen Sohn. Da ist die Politikerinnen-Familie mit der viel beschäftigten Grün-Politikerin, dem besserwisserischen Akademiker, der unkontrollierbaren kleinen Tochter und der 14-jährigen dauergelangweilten Tochter, deren Lebensinhalt ihr Social Media Auftritt zu sein scheint. Ach ja, und da ist ganz ruhig und fast kaum wahrnehmbar auch noch eine Schulkameradin der Tochter mit im Urlaub dabei. Aayana, ein somalisches Flüchtlingsmädchen, welches auf Drängen der Tochter, um ihrer eigenen Langeweile entgegenzuwirken, mit in den Urlaub genommen wurde. Fast wie in der Regieanweisung zu einem Theaterstück oder – wenn man es heftiger formulieren möchte – wie in einer Versuchsanordnung zu einem Experiment, wird die Ausgangssituation mit all ihren Elementen und Variablen eingangs geschildert, nur um dann alle in einer Villa in der Toskana aufeinandertreffen zu lassen. Was herauskommt ist ein dramatisches Unglück, welches den Fortgang des gesamten Buches bestimmen wird.

    Was verwundert: Dieses Unglück geschieht schon ziemlich zügig im Verlauf des Buches und in der Hauptsache sind wir nun Rezipienten der Auswirkungen dieses schweren Unglücks. Mit verschiedenen Stilmitteln arbeitet sich nun Glattauer an der Reaktion einer (Medien-)Gesellschaft auf die Geschehnisse vom Beginn des Buches ab. Mit präziser Sprache und authentisch wirkenden Medienreaktionen entwirft der Autor ein Sittengemälde unserer modernen Welt, in dem so gut wie niemand gut dasteht und alle letztlich Verlierer sind. Er scheint zunächst die Personalliste mit stereotypen Figuren zu bestücken, nur um sie im Verlaufe des Buches mitunter (nicht immer) die antizipierten Annahmen der Leser:innen über den Haufen zu werfen und sie ganz anders als erwartet handeln zu lassen. So einfach die Sprache wirkt, so brillant nutzt sie Glattauer, um in wahnwitzigen Dialogen große Fragen nach Moral und ethisch richtigem Handeln zu stellen. Der Text liest sich dabei leichtfüßig und kurzweilig, obwohl er inhaltlich keinesfalls ein Leichtgewicht darstellt. Denn es handelt sich um eine eindeutige Gesellschaftskritik, die recht offensichtlich das haarsträubende Verhalten von selbstsüchtigen Personen herausstellt, soziale Ungerechtigkeiten anprangert aber auch zwischen den Zeilen und manchmal in einem kurzen Internetkommentar verpackt die Abgründe heutiger Einstellungen aufzeigt. Letztlich geht es darum, denen eine Stimme zu geben, die unserer Sprache nicht mächtig sind und sich dadurch in unserer westlichen Gesellschaft nicht wahrnehmbar machen geschweige denn ihr Recht durchsetzen können.

    So sagt eine von Glattauers Figuren an einer der vielen mitreißenden Stellen: „Sie sind darunter. Unter unserer Wahrnehmung. Unter unserem Interesse. Ihre Geschichte will hier keiner hören. Und sie können sie auch nicht erzählen. Sie werden nicht danach gefragt. Und von sich aus schaffen sie es nicht, sich zu Wort zu melden. Ihnen fehlen die Mittel. Ihnen fehlt unsere Kultur. Ihnen fehlt unsere Bildung, auf die wir uns so viel einbilden. Und es fehlt ihnen vor allem an unserer Sprache. Ohne Sprache kein Verständnis. Ohne Sprache keine Geschichte.“

    Dadurch, dass die somalische Familie von Aayana im Buch über weite Strecken nicht zu Wort kommt, sie gar nicht gespürt wird und untergeht, spielt der Autor genau das durch, was auch in der realen Welt millionenfach geschieht. Mit seinem zunächst locker daherkommenden, dann aber schnell zunehmend berührenden Drama frisst sich das Anliegen einer scharfen Gesellschaftskritik tief in das Denken und Fühlen der Lesenden. Mich hat der Roman ergriffen und lange nicht wieder losgelassen, weshalb ich ihn nur eindringlich für eine Lektüre weiterempfehlen kann. Um eine Urlaubslektüre handelt es sich keinesfalls, hier sollte man sich nicht täuschen lassen.

    5/5 Sterne

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