Die Sehnsucht des Vorlesers

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Sehnsucht des Vorlesers' von Jean-Paul Didierlaurent
4.65
4.7 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Sehnsucht des Vorlesers"

Es war reiner Zufall, dass der USB-Stick an diesem Montagmorgen Guylain Vignolles vor die Füße fiel. Der schüchterne Mann, der Bücher liebt und seinen Job in einer Papierverwertungsfabrik hasst, hätte ihn genauso gut ignorieren können.



Doch das Schicksal wollte es nun mal, dass er sich danach bückte. Als der 6-Uhr-27-Regionalzug anfuhr, schob er ihn kurzerhand in seine Jackentasche. Und damit nahmen die Dinge ihren Lauf …

Format:Taschenbuch
Seiten:224
EAN:9783423260787

Rezensionen zu "Die Sehnsucht des Vorlesers"

  1. „Figurenzeichnung mittels Intertextualität“

    Keine normale Rezension, sondern ein Beitrag zum Thema „Figurenzeichnung mittels Intertextualität“, denn ich vermute, dass die Art der Figurenzeichnung bei Didierlaurent zum Phänomen der Intertextualität gehört. Mit Intertextualität meine ich hier: Figurenzeichnung durch Textkohärenz, die die Leser*innen selbst herstellen.
    Ich schließe mich darin der Meinung von Literaturwissenschaftlerinnen an, die zum Thema „lesende“ Figuren schreiben, dass die Wahl der gefundenen Textstellen alles andere als zufällig sei. Der grausame Vater stehe für Guylains Vater. (Sehnsucht des Vorlesers, S. 13+15 = 125) Das „Text-Findelkind“, das danach kommt, erzählt aus meiner Sicht weiter, wie der Vater so grausam werden konnte. Er könnte jener Josef gewesen sein, der sich im Granatenhagel am Stamm der Birke festgehalten und ihn in seiner Angst mit Tränen und Urin benetzt hat. (Sehnsucht des Vorlesers, S. 17 = 51)
    Insofern kann man vielleicht sagen, dass ein der Intertextualität vergleichbares Phänomen zwischen Menschen wirksam ist. Was den Vater emotional geprägt hat, erscheint bei genauerem Hinschauen, wie ein Text in einem Palimpsest, im Leben seines Sohnes Guylain. Unsichtbar, aber wirksam. Denn Rouget de Lisle, dem Goldfisch, ergeht es wie dem Hasen: er wird durch einen neuen ersetzt.
    Auch das Element der Fürsorge hat eine Funktion, die Guylains Entwicklung nachzeichnet. Guylain hilft seinem Vorgänger Guiseppe Carminetti, seine Beine wieder zu finden; das gelingt ihm auf skurrile Art. Mit solchen Weisen der Solidarität mit anderen gelingt es Guylain schließlich, sein eigenes Leben und das von Julie zu verändern, indem er auf ihre Sehnsucht nach Veränderung (der Anzahl der Kacheln auf ihrem Arbeitsplatz) mit einem Brief und einer Kachel antwortet. Diese Idee fand ich beim Lesen genial berührend und wunderschön.

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  1. „Figurenzeichnung mittels Intertextualität“

    Keine normale Rezension, sondern ein Beitrag zum Thema „Figurenzeichnung mittels Intertextualität“, denn ich vermute, dass die Art der Figurenzeichnung bei Didierlaurent zum Phänomen der Intertextualität gehört. Mit Intertextualität meine ich hier: Figurenzeichnung durch Textkohärenz, die die Leser*innen selbst herstellen.
    Ich schließe mich darin der Meinung von Literaturwissenschaftlerinnen an, die zum Thema „lesende“ Figuren schreiben, dass die Wahl der gefundenen Textstellen alles andere als zufällig sei. Der grausame Vater stehe für Guylains Vater. (Sehnsucht des Vorlesers, S. 13+15 = 125) Das „Text-Findelkind“, das danach kommt, erzählt aus meiner Sicht weiter, wie der Vater so grausam werden konnte. Er könnte jener Josef gewesen sein, der sich im Granatenhagel am Stamm der Birke festgehalten und ihn in seiner Angst mit Tränen und Urin benetzt hat. (Sehnsucht des Vorlesers, S. 17 = 51)
    Insofern kann man vielleicht sagen, dass ein der Intertextualität vergleichbares Phänomen zwischen Menschen wirksam ist. Was den Vater emotional geprägt hat, erscheint bei genauerem Hinschauen, wie ein Text in einem Palimpsest, im Leben seines Sohnes Guylain. Unsichtbar, aber wirksam. Denn Rouget de Lisle, dem Goldfisch, ergeht es wie dem Hasen: er wird durch einen neuen ersetzt.
    Auch das Element der Fürsorge hat eine Funktion, die Guylains Entwicklung nachzeichnet. Guylain hilft seinem Vorgänger Guiseppe Carminetti, seine Beine wieder zu finden; das gelingt ihm auf skurrile Art. Mit solchen Weisen der Solidarität mit anderen gelingt es Guylain schließlich, sein eigenes Leben und das von Julie zu verändern, indem er auf ihre Sehnsucht nach Veränderung (der Anzahl der Kacheln auf ihrem Arbeitsplatz) mit einem Brief und einer Kachel antwortet. Diese Idee fand ich beim Lesen genial berührend und wunderschön.

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  1. 4
    27. Mär 2017 

    Kleine Helden des grauen Alltags - ein modernes Märchen...

    Diese Geschichte spielt in Paris - wenn auch nicht mittendrin. Ob vor zehn Monaten, heute oder in zweieinhalb Jahren, ist auch nicht entscheidend. Viel wichtiger ist: Guylain Vignolles liebt Bücher. Unseligerweise muss er sich seinen Lebensunterhalt jedoch in einer Papierverwertungsfabrik verdienen. Aus diesem Grund hat er wohl auch diese Macke entwickelt, die ihn Tag für Tag aus der grauen Masse der Pendler herausstechen lässt: Jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit liest er im 6-Uhr-27-Regionalzug laut ein paar Seiten vor, die er tags zuvor der gewaltigen Schreddermaschine entrissen hat - sein heimlicher Akt der Rebellion gegen die Vernichtung von Literatur. Sonst ist der schüchterne Maschinenführer gefangen in einem monotonen Leben. Eines Tages aber geschieht etwas, das die Dinge von Grund auf verändern wird: Direkt vor seinem orangeroten Klappsitz im Zug findet Guylain einen USB-Stick, auf dem das Tagebuch einer ganz besonderen jungen Frau namens Julie abgespeichert ist...

    "Für die Passagiere im Waggon war Guylain der komische Kauz, der jeden Morgen ein paar Buchseiten aus seiner Aktentasche zog, um sie mit lauter, klarer Stimme vorzulesen. Es waren nicht die Seiten eines bestimmten Buches. Nein, die Texte hatten rein gar nichts miteinander zu tun (...) Guylain war das egal. Für ihn war der Inhalt bedeutungslos. Was zählte, war der Akt des Vorlesens. Er schenkte jedem einzelnen Blatt seine ungeteilte Aufmerksamkeit, damit das Vorlesen seine magische Wirkung entfalten konnte: Jedes Wort, das ihm über die Lippen kam, befreite ihn ein bisschen von dem Ekel, der ihn beim Gedanken an seine Arbeit überkam." (S. 14)

    Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des 36jährigen Guylain, der einen Beruf ausübt, der ihn unglücklich macht. Er, der Bücher liebt, trägt täglich dazu bei, dass die Bestie - die große Schreddermaschine in der Firma - tonnenweise Bücher verschlingt und zu Papierbrei zermalmt, aus dem dann neue Bücher entstehen. Guylains Ekel vor dieser Tätigkeit ist so greifbar, dass es einem selbst beim Lesen vorkommt, als ob die Bestie ein von Grausamkeit geprägtes Eigenleben führt, und die einzige Möglichkeit der Rebellion besteht für Guylain darin, der Maschine einzelne Buchseiten wieder zu entreißen.

    "Gespannt schaltete Guylain seine Stirnlampe an. Tief im noch warmen Bauch der Bestie würde er gleich auf seine Diebesbeute stoßen. Sie erwartete ihn immer an derselben Stelle, der einzigen, die der Wasserstrahl aus den Düsen nicht erreichte: Ein paar Buchseiten (...) entgingen so ihrem Schicksal. Giuseppe hatte sie immer 'meine Findelkinder' genannt. 'Das sind die einzigen Überlebenden des Massakers, mein Junge', hatte er Guylain mit bewegter Stimme erklärt, als er ihm vor Jahren die Stelle gezeigt hatte." (S. 47)

    Guylain fristet sein ereignisloses Dasein aus Arbeit, einsamen Abenden mit seinem Goldfisch namens Rouget de Lisle und gelegentlichen Treffen mit seinem väterlichen Freund Giuseppe. Er verlangt nicht viel vom Leben, doch eines Tages erhält das gewohnheitsmäßige Alltagsgrau einen kleinen Riss. Guylain findet in der Bahn einen USB-Stick, auf dem ihn die Begegnung mit einem ganz anderen Leben erwartet. Das Tagebuch einer Frau namens Julie gewährt Guylain Einblicke in ein fremdes Leben, und er fühlt sich bald schon hingezogen zu der Fremden, deren Welt auch nicht wesentlich ereignisreicher ist als das seine. Julie arbeitet als Toilettenfrau in einem Einkaufszentrum, doch sie schreibt über ihre Begegnungen und Beobachtungen dort, und Guylain ist fasziniert von ihren Gedanken.

    "Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht schreibe - denn das wäre so, als hätte ich an dem Tag nicht wirklich gelebt und mich stattdesen nur auf die Rolle beschränkt, die die Leute mir übergestülpt haben: die Rolle eines bemitleidenswerten Geschöpfs, dessen einziger Daseinszweck es ist, ihre Hinterlassenschaften zu beseitigen." (S. 152)

    Guylain ist, als sähe die fremde Schreiberin die Welt mit ähnlichen Augen wie er! Er muss diese Frau finden - doch ohne einen wirklichen Anhaltspunkt kein leichtes Unterfangen. Aber allein durch seine Suche kriecht unaufhaltsam Farbe in sein graues Dasein. Und ganz allmählich verändert sich der zurückhaltende, schüchterne, fast schon menschenscheu anmutende Guylain und entdeckt zunehmend auch schöne Seiten am Leben.

    Wer außergewöhniche Geschichten und schräge Bücher mag, der ist hier richtig. Jean-Paul Didierlaurent ist es gelungen, die Figuren in diesem Roman zu kleinen Helden ihres monotonen und grauen Lebens zu machen. Trotz oft einfach anmutender Sprache gibt es nahezu poetische Passagen, und durch die Melancholie des Alltags zieht sich auch stets ein breiter Streifen Humor, der mich immer wieder lächeln ließ. Ein Buch für Bücherliebhaber und ein modernes Märchen - ein Wohlfühlroman, der ein wenig Farbe ins Alltagsgrau zaubert.

    © Parden

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  1. 5
    22. Okt 2015 

    ein Wohlfühlbuch im positiven Sinne

    Schon mal darüber nachgedacht, was mit Büchern geschieht, die nicht verkauft werden? Ein Großteil dieser Bücher erwartet ein grausames Schicksal: sie werden recycelt. Nun sollte man meinen, dass Recycling etwas Positives ist, von wegen Material, das wiederverwertet wird. Jedoch nicht für den Bibliophilen! ;-)

    Für einen Bibliophilen ist der Vorgang des Recyclings von Büchern grausam. Man stelle sich all die Bücher vor, die LKW-weise in eine gigantische Maschine gekippt werden und dort mit einem Höllenlärm zerfleddert, zerhächselt, zermatscht werden. Mich schüttelt’s bei dieser Vorstellung.

    Leider gibt es Menschen, die den lieben langen Tag nichts anderes machen, als Bücher zu zerstören- ganz einfach, weil es deren Beruf ist. Guylain Vignolles ist einer davon… und er hasst seinen Beruf.

    „Fett und bedrohlich thronte die Bestie mitten in der Werkhalle. Ja, ‚die Bestie‘: Über fünfzehn Jahre arbeitete Guylain nun schon in der Fabrik, aber bis heute weigerte er sich, ihren richtigen Namen laut auszusprechen, denn irgendwie glaubte er, dass er damit ihre Gräueltaten gutheißen würde, und das wollte er wirklich unter keinen Umständen. Sie nicht bei ihrem wahren Namen zu nennen war für ihn eine Art Schutzwall, der ihn davor bewahrte, ihr auch noch seine Seele zu verkaufen. Nein, das durfte nie geschehen: Die Bestie musst sich mit der Arbeit seiner Hände begnügen.“ (S. 22)

    Guylain Vignolles liebt Bücher. Unglücklicherweise arbeitet er in einer Papierverwertungsfabrik. Leider kann man sich nicht immer aussuchen, wie man seinen Lebensunterhalt verdient. Guylain ist ein schüchterner und unscheinbarer Typ. Doch er hat ein Geheimnis. Jeden Tag gelingt es ihm, dieser grausamen Maschine, die seine Lieblinge zerstört, heimlich ein paar Blätter zu entreißen. Und jeden Morgen im Regionalzug auf dem Weg zur Arbeit liest er seinen Mitreisenden aus diesen Seiten vor. Egal, worum es in diesen Texten geht – Roman, Kochbuch, Reiseführer – seine Mitreisenden lieben ihn dafür.

    Guylain sitzt immer auf dem gleichen Platz in dem Zug. Eines Tages findet er vor seinem Sitz einen USB-Stick, den er an sich nimmt. Und mit dem Inhalt dieses Sticks ändert sich sein Leben von Grund auf.

    „Als der Zug in den Bahnhof einfuhr und die Leute ausstiegen, wäre einem aufmerksamen Beobachter sicher nicht entgangen, dass Guylains Zuhörer an diesem Montagmorgen eindeutig aus der Masse herausstachen. Ihre Mienen waren nicht undurchdringlich oder missmutig wie die der anderen Pendler, nein, sie alle wirkten wie frisch gestillte Säuglinge: satt, glücklich und rundherum zufrieden.“ (S. 179)

    Dieses Buch erinnert mich an ein modernes Märchen. Es gibt ein "Monster", es gibt "Schurken" und es gibt die "Guten". Und gerade die Guten haben es mir angetan. Sie haben eines gemeinsam. Zunächst wirken sie sehr unscheinbar und bescheiden. Sie kommen aus einfachen Verhältnissen und lieben es nicht, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Sie sind sehr schüchtern und sind es nicht gewohnt, Beachtung zu finden. Den lieben langen Tag sind sie der Willkür der Schurken ausgesetzt und müssen sich mit ihnen auseinandersetzen. Doch irgendwann schaffen sie es, sich über die Schurken hinwegzusetzen. Denn jeder hat etwas Besonderes an sich. Irgendwann im Verlauf der Handlung tritt diese Besonderheit zutage. Bei dem Einen ist es die Fähigkeit vorzulesen, bei einem Anderen ist es das Dichten oder das Schreiben von Geschichten. Egal, womit, aber sie schaffen es, ihre Mitmenschen und den Leser dieses Buches zu berühren. Und das macht sie zu etwas Besonderem.

    „Vor ein paar Tagen habe ich entdeckt, dass es auf dieser Welt jemanden gibt, der eine erstaunliche Wirkung auf mich hat. Dieser Jemand lässt alle Farben heller leuchten, nimmt meinem Alltag seine Schwere, wärmt mich von innen, macht das Unerträgliche erträglicher, das Hässliche nicht ganz so hässlich und das Schöne noch viel schöner. Kurzum, dieser Mensch macht mein Leben lebenswert.“ (S. 219 f.)

    Durch den interessanten Plot ist man von Anfang von diesem Roman gefangen. Aber nach der Hälfte fragte ich mich, worauf die Geschichte noch hinauslaufen kann. Ich hatte ein bisschen die Befürchtung, dass der Autor „sein Pulver bereits verschossen hat“. Aber dieses Buch steckt voller Überraschungen. Man ist verblüfft, auf welche Ideen der Autor noch kommt. Zum Ende entwickelt sich dieser Roman zu einem „Wohlfühlbuch“ – im positiven Sinne. Der angenehme Lesefluss trägt einen durch die Geschichte und ehe man es sich versieht, ist das Ende erreicht. Und mit dem Ende stellt man fest, dass man ein Lächeln im Gesicht hat und dieses Buch nichts anderes ist als märchenhafter Balsam für die Seele.

    © Renie

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