Die See: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Die See: Roman' von John Banville
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5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die See: Roman"

1. Auflage 8°, gebundene Ausgabe, Hardcover/Pappeinband Köln, Vlg. Kiepenheuer & Witsch, 2006. 218 Seiten mit Schutzumschlag, ungelesen und wie neu, mit Widmung und Signatur des Verfassers auf dem Titel, aus dem Englischen von Christa Schuenke (The Sea). John Banville (* 8. Dezember 1945 in Wexford, Irland) ist ein irischer Schriftsteller und Literaturkritiker.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:224
EAN:9783462037173

Rezensionen zu "Die See: Roman"

  1. Wer bin ich?

    Inhalt
    Max Morden kehrt an einen Ort (Ballyless) seiner Kindheit, an "Die See" zurück. Dort hat er immer seine Ferien in einem kleinen Chalet gemeinsam mit seinen Eltern verbracht.

    "Wir kamen jeden Sommer im Urlaub hierher, viele Jahre lang, viele Jahre, bis mein Vater uns sitzen ließ und nach England ging, wie Väter es bisweilen taten, damals und eigentlich auch noch heute. Das Chalet war ein klassisches Holzhaus nur in verkleinertem Maßstab." (S.33)

    Auslöser für die Rückkehr ist der Tod seiner Frau Anna, die nach schwerer Krankheit von ihm geht und um die er trauert.

    Aus der Ich-Perspektive von Max werden in verschiedenen Zeitebenen die Erinnerungen an längst vergangene Ereignisse wach.
    Manchmal springt der Ich-Erzähler unvermittelt von der Gegenwart in die Vergangenheit, wobei die Gedanken inhaltlich zusammengehören.
    Auch innerhalb dessen, was geschehen ist, erinnert er sich nicht chronologisch. So setzt sich wie ein Puzzle die Vergangenheit - ein Sommer an der See, den Max als Junge erlebt hat - Schritt für Schritt zusammen, was er als Erzähler selbst kommentiert:

    "Und warum sollte ich mich wohl, anders als jeder dahergelaufene Melodramatiker, der Forderung verschließen, dass die Geschichte zum Schluss noch eine ordentlich überraschende Wendung braucht?" (S.196)

    Eine große Bedeutung kommt in jenem längst vergangenen Sommer der Familie Grace zu. Bestehend aus den Eltern Carlo und Conny und den Zwillingen: der stumme Myles und die knabenhafte Chloe, sowie der Gouvernante Rose, die in die Villa "Zu den Zedern" einziehen. Ihre gesellschaftliche Stellung, die der Max´ überlegen ist, übt auf ihn eine besondere Faszination aus.

    An jenen Ort kehrt auch der Witwer Max zurück.

    "Die Villa heißt Zu den Zedern, wie eh und je." (S.9)

    Inzwischen ist es eine Pension, geleitet von Miss Vavasour und dauerhaft bewohnt vom alten Colonel Blunden.
    Max Tochter Claire begleitet ihn zunächst an die See. Einerseits liebt er sie, andererseits scheint er auch von ihr enttäuscht zu sein, da sie keine zweite Anna ist, und äußert sich abfällig über sie.

    Außergewöhnlich gut gelingt es Banville die Atmosphäre, die Präsenz der See erlebbar zu machen, sie ist allgegenwärtig, man schmeckt sie, fühlt den Wind und hört die Wellen.

    "An der See besteht alles aus schmalen Waagerechten, die ganze Welt reduziert sich auf ein paar lange, gerade, zwischen Erde und Himmel gezwängte Linien." (S.14)

    Und man kann sich in die Gedanken und die erotischen Träume des 11-jährigen Max hineinversetzen, die sich zunächst um Conny Grace drehen, dann aber von der Mutter auf die Tochter übergehen.
    Mit Chloe wird er zur eigenständigen Person, entdeckt zum ersten Mal sich selbst.

    "Indem sie mich von der Welt loslöste und mich dadurch erkennen ließ, dass ich ein losgelöstes Wesen war, schloss sie mich von dem Gefühl der Immanenz allen Seins aus, von dem Allsein, das mich umfangen hatte, in dem ich bis dahin in mehr oder minder glücklicher Unwissenheit gelebt hatte." (S.142)

    Neben diesen Erinnerungen an das, was in dem Sommer geschehen ist, wandern Max´ Gedanken immer wieder zur gemeinsamen Vergangenheit mit Anna. Wie sie sich kennen gelernt haben, ihre Heirat, die Beziehung zu ihrem Vater, wie sie von ihrer Krankheit erfahren haben und zu ihrem Tod und seiner Hilflosigkeit.

    "Wir tragen die Toten nur so lange bei uns, bis wir selber sterben, und dann sind wir diejenigen, die eine kleine Weile mit herumgetragen werden, und dann ist es an denen, die uns tragen, selbst umzufallen und so geht es immer weiter, von Generation zu Generation, bis in unvorstellbare Ewigkeiten." (S.100)

    Die Identitätssuche des Protagonisten ist meines Erachtens der Mittelpunkt des Romans. Max hinterfragt sein Handeln, reflektiert sein Verhalten und gelangt zu Erkenntnissen über sich selbst.
    Den Fragen, wer er sein will, wer er geworden ist und welche Bedeutung Anna und die Ereignisse um Chloe in seinem Leben gespielt haben, nähert er sich langsam an.

    "Früher habe ich mich stets als eine Art Freibeuter gesehen, einen der jedermann mit dem Entermesser zwischen den Zähnen begegnet, aber heute muss ich eingestehen, dass das eine Selbsttäuschung war. Versteckt, beschützt, behütet sein, mehr habe im Grunde nicht gewollt." (S.54)

    Bewertung
    Über den Charakter des Protagonisten haben wir in der Leserunde am meisten diskutiert. Ist Max sympathisch? Zumindest ist er ein ambivalenter Charakter, der sehr darunter leidet, in eine Gesellschaftsschicht hinein geboren zu sein, in der er sich nicht zugehörig fühlt. Die Bekanntschaft mit den Graces führt ihm vor Augen, was er sein will und wohin er möchte. Insofern ist seine Heirat mit Anna, die aufgrund der illegalen Geschäften ihres Vaters Geld zur Verfügung hat, opportunistisch, andererseits liebt er sie und verzweifelt an ihrem Tod zutiefst.

    Letztlich ist die Frage nach der Sympathie zweitrangig. Die Auseinandersetzung mit seinem Leben, die Suche nach Identität, das Rätsel um jene schrecklichen Ereignisse, die an der See geschehen sind, die Beziehung der Figuren zueinander in jenem Sommer, die Schritt für Schritt aufgedeckt werden, erzeugen einen Lese-Sog - trotz der Reflexionen und der Sprünge zwischen und innerhalb der Zeitebenen.
    Die außergewöhnliche bilderreiche Sprache lädt dagegen immer wieder dazu ein innezuhalten und über das Gelesene nachzudenken.

    Ein besonderer Roman und sicherlich nicht der letzte, den ich von John Banville gelesen habe. Vielen Dank an @Literaturhexle, die mich auf die Leserunde aufmerksam gemacht hat und die genau wie ich von der wunderbaren Sprache des Romans angetan ist.

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  1. 5
    04. Nov 2017 

    Ein wirklich würdiger Preisträger

    2005 bekam John Banville für dieses Buch den Man Booker Prize verliehen - völlig zu recht wie ich finde. Auch im Deutschen (dank der herausragenden Übersetzerin Christa Schuenke) fühlte ich mich beim Lesen, als ob ich an der Seite des Protagonisten wäre. Ich roch und schmeckte das Meer, den Herbst, den Sommer. Es gibt sicherlich nur wenige Bücher, in denen ich so unmittelbar am Erleben der Figuren teilgenommen habe wie hier.
    Die Geschichte an sich ist eher unauffällig: Ein Mann, Max Morden, ein Kunsthistoriker in den Sechzigerin, verliert seine Frau durch eine Krankheit und fährt in seiner Trauer an einen Ort seiner Kindheit; dort, wo er die Ferien verbrachte. Hier erinnert er sich an längst und jüngst Vergangenes, an die Urlaube als Kind, die letzten Monate während der Krankheit seiner Frau, ihre erste gemeinsame Zeit. Alles fließt ineinander über und doch sind die verschiedenen Lebensabschnitte leicht voneinander zu unterscheiden. Fast wirkt es wie im Film, wenn durch geschickte Überblendungen der Wechsel in eine andere Zeitebene erfolgt - John Banville beherrscht diese Kunst grandios. Max' Erinnerungen, wiederholt ausgelöst durch Vergleiche mit der bildenden Kunst, nimmt er auch zum Anlass, sich Selbstreflektionen hinzugeben, die teilweise zu philosophischen Betrachtungen werden. Wann entsteht Bewusstsein? Das Bewusstsein seiner Selbst? Was ist Arbeit? Banville besitzt unter anderem nicht nur ein bewunderswertes Wissen über Kunst, sondern beispielsweise auch über Neurophilosophie, an dem er die Lesenden teilhaben lässt.
    Doch über Allem steht dieser wunderbare Schreibstil, der exemplarisch zeigt, zu was Sprache fähig ist. "Sommerlicht, dick wie Honig ...", "Draußen gab es noch mehr Palmen, zerzauste, gakelige Dinger, deren graue Borke dick und zäh wie Elefantenhaut aussah." Banville ist ein unglaublich aufmerksamer Beobachter mit einem Blick für kleinste Details, die er in solch bildhafte Worte fasst, dass man wirklich Alles vor sich sieht.
    Bemerkenswert empfand ich auch die Darstellung des Protagonisten. Max, der einen von Beginn an durch seine schon fast poetische Sprache praktisch völlig für sich einnimmt, sich jedoch entlarvt durch kleine Nebensätze als ein nicht gerade sympathisches Exemplar seiner Gattung. Amüsant empfand ich seine Abneigung gegenüber Männern, an denen er exakt das missbilligte, was er darstellte: das Vortäuschen einer Figur, die er nicht ist, was mir jedoch erst gegen Ende bewusst wurde.
    Ein Buch, in dem so viel mehr steckt als nur die Geschichte eines trauernden Mannes. Ganz große Kunst!

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