Die rechtschaffenen Mörder: Roman

Rezensionen zu "Die rechtschaffenen Mörder: Roman"

  1. Von der Macht und Ohnmacht der Literatur.

    Kurzmeinung: Ein Must-read.

    Norbert Paulini rebelliert. Er will nicht mitmachen. Beziehungsweise nur soweit, wie es unbedingt notwendig ist. Das Modell seines Ausstiegs ist ihm indes in die Wiege mitgegeben oder unters Bett geschoben worden.

    In der früheren Deutschen Demokratischen Republik gibt es wenige Inseln der Glückseligen. Norbert Paulini hat sich eine erobert. Mit Langsamkeit und Passivität mehr als durch Energie und Durchsetzungsfähigkeit. Mit seinem literarisch anspruchsvollen Antiquariat wird er sogar richtig bekannt. Später dreht man einen Dokumentarfilm über ihn. Und schreibt ein Buch dazu. Ein Buch, das ihm aber nicht gefällt. Ganz im Gegenteil, er will dem Autor gehörig einheizen, ihn mit Klagen überziehen, seinen ganzen Einfluss geltend machen, damit der Schreiberling nie wieder etwas verkauft bekommt. Das lässt sich dieser nicht gefallen.

    Dabei ist der Schreiberling, Herr Schultz, mit tz geschreiben zur Abgrenzung vom Autorenname Schulze, was ein netter Kniff ist, aber natürlich nicht verhindert, dass man lacht und gleichsetzt, nicht eins zu eins, aber dennoch, - einst sein Eleve gewesen. Damals als Norbert Paulini erklärt hat, dass er als Beruf einfach nur „Leser“ ist. Nicht mehr, nicht weniger. Doch ganz aus dem Einflussbereich des Staates, wie er es sich einbildet, ist Paulini nie gewesen.

    Vom historischen Umbruch der Wende 1989 bleibt das Antiquariat Paulinis nicht verschont. Die vorher wertvollen Erstausgaben russischer und altdeutscher Denker sind plötzlich nichts mehr wert, sie landen tonneweise auf der Müllhalde und werden von dort von Paulini geborgen. Man kann von ihrem Verkauf jedoch nicht mehr leben. Und trotzdem weigert sich Paulini wieder einmal nachzugeben und sich den neuen Gegenheiten des Kapitalismus anzupassen. Würde er sich umstellen, sein Sortiment anpassen, Schulbücher in sein Sortiment aufnehmen, könnte er sich schnell gesundstoßen und nebenbei sein Antiquariat pflegen. Sozusagen als Hobby.

    Aber Paulini ist stur und querköpfig. Er macht nicht mit und alles ist gegen ihn. So sieht er es. Doch anders als in der untergegangengen DDR arbeitet seine Dickschädlichkeit dieses Mal nicht für ihn, sondern richtet sich in aller Härte gegen ihn selbst. Keine Kompromisse zu schließen bedeutet keine Versicherungen zu haben, keine Sicherheit(en). Selbst die Natur wendet sich gegen ihn und will ihn mit einem Jahrhunderthochwasser vernichten.

    Als im zweiten Teil sein einstiger Eleve Schultz, der bei ihm und durch ihn in Literatur unterwiesen wurde, beschließt, über ihn zu schreiben, ja, eigentlich über Paulinis Niedergang, kommt es zum Streit. Im Höhepunkt deselben stellt Paulini sein bisheriges Leben zum ersten Mal in Frage. Genügen Worte alleine. Oder Gedanken? Kommt es nicht auf Taten an? Was soll das viele Bücherwissen?

    Ob Paulini und dessen Sohn in welcher Weise von Worten zu Taten übergegangen sind, bleibt verschleiert, doch gibt es hinreichende Andeutungen, die ihn in Verbindung mit rechtsextremem Gedankengut bringen. Fest steht nur, dass er seinem Sohn ein falsches Alibi gibt und dieser Sohn gewalttätig ist.

    Im dritten Teil besucht die Lektorin Schultzens die sächsische Schweiz, die häufig Schauplatz des Geschehens gewesen ist, da diverse Protagonisten zur Entspannung dort wandern gehen, und insofern ist der vorliegende Roman auch eine Huldigung an die Sächsische Schweiz, schöne Gegend, in der Tat. Vor Ort will die Lektorin nach ihrem Autor suchen, der verschwunden ist. Was ist bloß passiert? Und was ist aus der antiquarischen Buchhandlung Paulinis geworden?

    Die Figur Paulini ist vom Autor gebrochen und umgedreht worden. Der Held wird zum Antihelden. Die Anbindung an den Titel bleibt trotzdem lose. Die Motivsuche schwierig.

    Worüber schreibt der Autor Ingo Schulze augenzwickernd wirklich? Einerseits über den Untergang der DDR und darüber, dass Literatur nicht die ganze Welt abbildet. Darüber, dass sich auch Autoren in ihren Themen/Helden verirren können? Stellt er West und Ost einander gegenüber? Oder ist das ganze Buch nur eine Eifersuchtsgeschichte? Von allem etwas und noch viel mehr!

    Fazit: Es lässt sich trefflich streiten über diesen Roman. Er ist vielschichtig. Uneindeutig. Nahe an historischer Wahrheit und auch wieder ganz fern. Auf alle Fälle ist der Roman „Die rechtschaffene Mörder“ faszinierend und schlägt eine Brücke von der alten Form des Erzählens zu den Kunstformen heutiger Zeit(en). Was er nicht ist, er ist kein Kriminalroman. Und was er noch ist: kein Stück langweilig.

    Ich gebe ein klare Leseempfehlung!

    Kategorie: Belletristik
    Verlag: S. Fischer/Hätte auf die Longlist 2020 gehört.

    Teilen
  1. Die Geschichte eines verschrobenen Antiquars aus Dresdnen

    „Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar, der wegen seiner Bücher, seiner Kenntnisse und seiner geringen Neigung, sich von den Erwartungen seiner Zeit beeindrucken zu lassen, einen unvergleichlichen Ruf genoss.“ (S. 9)
    Bereits dieser wohlformulierte erste Satz führt den Leser fast märchenhaft in die Geschichte des Antiquars Norbert Paulini ein. Er hat seine Mutter früh verloren, wird vom überforderten Vater und Frau Kate, die mehr als eine Nachbarin ist, aufgezogen. In der Schule Außenseiter lernt er die Faszination der Bücher kennen, die ihn in andere Welten führen.

    Als junger Mann braucht er mehrere Anläufe, um seiner Berufung zu folgen, schließlich wiedereröffnet er mit Frau Kates Hilfe das Antiquariat seiner verstorbenen Mutter. „Er hatte sich für das intensivste und angenehmste Leben entschieden, das einem Menschen möglich war, für das Leben eines Lesers.“ (S. 59)

    Es folgen Jahre der Blüte. Paulini ist in bibliophilen Kreisen höchst angesehen, die Leute kommen von nah und fern, Buchliebhaber erhalten Empfehlungen und Sonderpreise, abends finden literarische Veranstaltungen im familiären, handverlesenen Kreis statt. Ab und zu blitzen Sätze eines Ich-Erzählers im Text auf, dem man anmerkt, wie sehr er den Antiquar verehrt. Paulini verliebt sich in Friseurin Viola, sie heiraten und bekommen einen Sohn, Julian.

    Doch die politische Wende 1989 verändert das Leben Paulinis grundlegend. Mit einem Schlag werden seine Bücher nicht mehr nachgefragt. Er kann es nicht glauben, dass wertvolle Werke auf einmal zuhauf auf der Straße liegen. Der aufrechte, prinzipientreue Paulini kommt ins Wanken. Hinzu kommen Stasi-Vorwürfe gegen seine Familie, Rückübertragungsansprüche auf das Haus, seine Ehe geht in die Brüche. Paulini kann mit den Regeln des Kapitalismus nicht Schritt halten, eine Abwärtsspirale kommt in Gang, an deren Ende rechtsradikale Vorwürfe stehen, die man nicht glauben will. Fragen bleiben offen.

    In Teil II wechselt die Perspektive, hier übernimmt der zuvor nur am Rande in Erscheinung getretene Ich-Erzähler und Autor (Schultze mit tz!) die Regie, die Nebenfigur wird Protagonist – ein wunderbarer Schachzug. Der Erzähler kaufte früher seine Bücher bei Paulini und lernte viel von ihm. Es scheint, als wolle er seinem Idol ein Denkmal setzen, indem er einen biografischen Roman schreibt. Es ergeben sich für den Leser dabei erstaunliche Zusammenhänge und neue Perspektiven.
    Teil III schließt das Ganze mit dem Blick der Verlagslektorin ab, die sich als Außenstehende ihre Gedanken macht, die vorliegenden Fakten noch einmal bewertet und zu interessanten Schlüssen kommt. Spätestens dabei bekommt auch der Buchtitel seinen Sinn.

    Dieser Roman hat mich begeistert. Ingo Schulze spielt mit der Wahrheit, mit dem Leser, zwingt dazu, feste Annahmen wieder zu verlassen. Dabei bewegt er sich oft im Ungefähren, macht nur Andeutungen, kleine Nebensätze, die erst später zu ihrer Bedeutung kommen. Ein Buch, das Aufmerksamkeit erfordert, das aber dennoch kurzweilig und flüssig lesbar ist und im Grunde zu einer zweiten Entdeckungsreise einlädt. Vermutlich werden aus den neuen Bundesländern stammende Leser/innen noch viel mehr sehen können als ich, die die DDR nur aus zweiter Hand kennt. Fasziniert haben mich auch die unterschiedlichen Sprachmodi.

    Das politische Geschehen findet zwar im Hintergrund statt, begleitet den Roman aber über die Jahre, so wie auch das historische Elbhochwasser Eingang in die Geschichte findet. Das macht das Buch ungemein authentisch und lebensecht.
    Der Roman bündelt viele zeitgenössische Themen, ihn nur als Wenderoman zu bezeichnen greift viel zu kurz. Es geht auch um zwischenmenschliche Verbindungen, um Liebe und sogar um einen Todesfall.

    Der Roman eignet sich hervorragend für Lesekreise. Er ist wunderbar konzeptioniert, kurzweilig und überraschend. Volle Leseempfehlung!

    Teilen