Die Hauptstadt: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Hauptstadt: Roman' von Robert Menasse
4.8
4.8 von 5 (5 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Hauptstadt: Roman"

Fenia Xenopoulou, Beamtin in der Generaldirektion Kultur der Europäischen Kommission, steht vor einer schwierigen Aufgabe. Sie soll das Image der Kommission aufpolieren. Aber wie? Sie beauftragt den Referenten Martin Susman, eine Idee zu entwickeln. Die Idee nimmt Gestalt an – die Gestalt eines Gespensts aus der Geschichte, das für Unruhe in den EU-Institutionen sorgt. David de Vriend dämmert in einem Altenheim gegenüber dem Brüsseler Friedhof seinem Tod entgegen. Als Kind ist er von einem Deportationszug gesprungen, der seine Eltern in den Tod führte. Nun soll er bezeugen, was er im Begriff ist zu vergessen. Auch Kommissar Brunfaut steht vor einer schwierigen Aufgabe. Er muss aus politischen Gründen einen Mordfall auf sich beruhen lassen; »zu den Akten legen« wäre zu viel gesagt, denn die sind unauffindbar. Und Alois Erhart, Emeritus der Volkswirtschaft, soll in einem Think-Tank der Kommission vor den Denkbeauftragten aller Länder Worte sprechen, die seine letzten sein könnten.
In seinem neuen Roman spannt Robert Menasse einen weiten Bogen zwischen den Zeiten, den Nationen, dem Unausweichlichen und der Ironie des Schicksals, zwischen kleinlicher Bürokratie und großen Gefühlen.
Und was macht Brüssel? Es sucht einen Namen – für das Schwein, das durch die Straßen läuft. Und David de Vriend bekommt ein Begräbnis, das stillschweigend zum Begräbnis einer ganzen Epoche wird: der Epoche der Scham.

Format:Kindle Edition
Seiten:459
EAN:

Rezensionen zu "Die Hauptstadt: Roman"

  1. Ein Roman über den gegenwärtigen Zustand der EU

    Keine klassische Rezension, eher Gedanken zum Roman:

    Eigentlich ist es ein zutiefst trauriges Buch, das Robert Menasse mit "Die Hauptstadt" geschrieben hat. Warum traurig? Ganz einfach, er beschreibt das Scheitern einer schönen Utopie. Was hatten die Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht für Hoffnungen in die Verpflichtung auf gemeinsame Werte gesetzt. Der Krieg, der Holocaust, das waren Erfahrungen, die für kommende Generationen ausgeschlossen werden sollten. Doch was wurde daraus? Menasse beschreibt in seinem vielschichtigen Roman im fiktiven Detail, wie diese großartige Idee heute in der Realität zu einer Legende geworden ist, die nur noch der Legitimation zur Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen dient. Im Kleinkrieg der Kommissionen bleiben humanistische Ideale auf der Strecke, der Moloch EU hat seine Bürger aus den Augen verloren. Nationale Interessen verhindern große Entwürfe und bewirken letztendlich Stillstand.

    Es ist das Verdienst Menasses, seinen Lesern diesen Zustand der EU vor Augen zu führen. Es gibt genug berechtigte Kritik, doch sollten wir darum keineswegs die Europaidee den Populisten überlassen, die sie schlichtweg begraben würden. Im Gegenteil, die Konsequenz sollte ein stärkeres Engagement für Europa sein, und zwar eines, dass nicht durch anonyme und nicht demokratische legitimierte Kommissionen geführt wird, sondern eines das seine Bürgern wieder in den Fokus nimmt.

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  1. Schweine und ein Fundament aus Asche

    Brüssel, Hauptsitz der Europäischen Kommission, ihres Zeichens supranationales Herz der Europäischen Union und Hüterin der Verträge. Die EU-Kommissare werden zwar von ihren jeweiligen Regierungen nominiert, sollen aber nicht nur nationale Interessen vertreten, sondern die gemeinsamen Ziele der Union.

    Union – also Einheit! –, gemeinsame Ziele? Welch hehres Ideal.

    Doch Menasse zeigt in seinem Roman gnadenlos, wie wenig die Realität diesem Ideal entspricht. Wie ein Leitmotiv zieht es sich durch das Buch: das gnadenlose Scheitern, das durch Zusammenarbeit hätte verhindert werden können, im Großen wie im Kleinen. Der moralische Bankrott. Absurd, lachhaft, aber das Lachen bleibt einem ab und an im Halse stecken.

    Da gönnen sich die Ressorts der Kommission gegenseitig nicht die Butter auf dem Brot. Von Union keine Spur, man macht sich kaum die Mühe, Eigeninteressen zu verschleiern. Wen schert es schon, wenn die Suizidrate in Griechenland alarmierend steigt? Nur die Griechen. Und wenn es der eigenen Sache dient, wechselt man sogar die nationale Identität.

    Da kommt direkt mehreren Menschen eine Erleuchtung: Auschwitz als Geburtsort der Europäischen Kommission – Auschwitz als zwingender Grund dafür, dass nationale Interessen supranationalen Interessen weichen müssen, damit sich die Geschichte niemals wiederholt! Zwar begegnen sie sich, nichtsahnend, aber dennoch kommen sie nicht zusammen. Der Gedanke verliert sich in den Plattitüden von Menschen, für die Auschwitz nur noch ein lästiger Klotz am Bein ist, den man seit dem Zweiten Weltkrieg hinter sich herschleppt, oder bestenfalls eine Gelegenheit, in regelmäßigen Abständen die eigene Ergriffenheit zur Schau zu stellen.

    Und derweil sterben die letzten Zeitzeugen. Ein alter Mann streicht Name für Name von einer Liste, die überaus wertvoll hätte sein können, wäre sie zur rechten Zeit in die rechten Hände gelangt.

    Am ehesten sorgt noch das Schwein für Einheit, das durch die Stadt geistert – und sogar das fügt sich wieder in das Leitmotiv, gelingt es doch nicht, in einer gemeinschaftlich organisierten Aktion das Schwein einzufangen. Wer sich jedoch über das Schwein profilieren kann, der tut es. Das Schwein als verkörperte Bürokratie?

    Und dennoch: "Die Hauptstadt" ist meines Erachtens nicht anti-EU, sondern lediglich kritisch gegenüber deren Umsetzung. Als Leser fragt man sich, wie es weitergehen kann, soll, muss.

    Die Grundidee ist bestechend, die Umsetzung glänzt durch feinen Humor und genaue Beobachtung zwischenmenschlicher Nuancen. Ich kann durchaus nachvollziehen, warum diesem Buch der Deutsche Buchpreis verliehen wurde.

    Und dennoch.

    Das Fragmentarische der Handlung unterstreicht zwar die eklatante Uneinigkeit von Menschen, die sich von Berufs wegen der Einigung verschrieben haben, macht es aber auch ermüdend, den verschiedenen Handlungssträngen zu folgen. Menasse verliert sich im Detail, und bis zu einem gewissen Punkt war ich bereit, ebenfalls verloren zu gehen und zu sehen, wohin die Reise geht. Und tatsächlich: vieles ist hochinteressant, feinsinnig, bietet lohnende philosophische Denkansätze. Vieles liest sich aber auch wie eine Sammlung politischer Essays, die allerhöchstens lose verknüpft sind, angesiedelt irgendwo zwischen Sachbuch und Politsatire.

    Vieles ist grandios, keine Frage. Manche der Charaktere sind lebendig, komplex und glaubhaft – andere hingegen nur eine Handbreit vom Klischee entfernt. Der Schreibstil kann so wunderbar sein, dass man sich ganze Passagen abschreiben und an die Wand hängen will – dann wiederum merkwürdig flach und zugleich übertrieben. Allerdings hege ich bei beidem den Verdacht, dass Menasse in voller Absicht mit den Erwartungen des Lesers spielt, um die Absurdität gewisser Situationen herauszustellen! Die Europäische Kommission, war mein Eindruck, parodiert sich im Grunde selbst.

    Die Lesbarkeit wird erschwert durch einen generellen Mangel an Anführungszeichen in der direkten Rede und gleichzeitig eine Vielzahl an fremdsprachigen Sätzen, die nirgendwo erläutert, geschweige denn übersetzt werden. Soll auch das betonen, dass die innereuropäische Kommunikation nicht funktioniert? Wenn ja, vermittelt es zumindest einen Hauch der Frustration darüber.

    An manchen Stellen erschien mir die Symbolik zu gewollt. So versucht zum Beispiel ein Mitarbeiter der Kommission seiner Vorgesetzten die Bedeutung von Auschwitz für die Gründung der Kommission zu erläutern, sie indes hört ihm nur mit halbem Ohr zu – und wischt sich beiläufig Asche von der Bluse.

    Die Vermischung von Fakt und Fiktion funktioniert in meinen Augen meistens gut; da unterstützt das eine die Wirkung des anderen. Manchmal überschreitet Menasse jedoch die Grenze dessen, was für mich noch glaubhaft ist. Die Profilkiller des Vatikan wollten sich für mich zum Beispiel nicht so recht in die Handlung einfügen, außer vielleicht als Kontrapunkt zum europäischen Grundgedanken.

    Fazit:
    Mein Leserherz blutet – wollte ich diesen Roman doch eigentlich in den Himmel loben. Nicht nur hat es den Deutschen Buchpreis gewonnen, nein: der Autor wirkte bei der Verleihung so charmant verblüfft und überrumpelt, dass ich bereit war, sein Werk zu lieben. Stattdessen muss ich mich damit begnügen, dass ich es 'nur' gut finde... Ja, manches finde ich sogar wunderbar, aber eben nicht alles.

    Es ist in meinen Augen vor allem eine (selbst-)ironische Satire, angereichert durch philosophische Gedanken und Betrachtungen über den Grundgedanken der Europäischen Union und das Wesen des Menschen – mit einer Prise Krimi. Aber über lang(atmig)e Strecken geht es eben um Bürokratie: deren Fallstricke, Intrigen und absurde Auswucherungen. Und was sagt man über die Mühlen der Bürokratie? Richtig. Da kommt auch die turbulenteste Geschichte kreischend zum Stillstand.

    Was allerdings wiederum die Botschaft unterstreicht: Stillstand ist hier der Tod guter Ideen.

    Auch, wenn ich den Roman nicht so innig lieben konnte, wie ich es mir gewünscht hätte, ist er doch lohnend, wenn man sich für die Thematik interessiert. Bis auf kleinere Durststrecken fand ich die Geschichte durchaus unterhaltsam, sogar spannend, mit einem intelligenten feinen Humor und vor allem: zum Nachdenken anregend.

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  1. Ein Schwein in Brüssel

    Worum geht es?

    Ein Schwein läuft durch Brüssel. Zuerst sieht es der Belgier David de Vriend, Holocaust-Überlebender, der nach 60 Jahren seine Wohnung verlässt, um in ein Altenheim zu ziehen.
    Karl-Uwe Frigge, Deutscher und EU-Beamter, der in der Generaldirektion Trade der Europäischen Kommission arbeitet, erblickt das Schwein von seinem Taxi aus.
    Fenia Xenopoulou, Beamtin in der Generaldirektion Kultur der Europäischen Kommision, wartet auf jenen Frigge, in den sie sich verliebt hat. Er soll ihr helfen aus dem ungeliebten Kulturbereich herauszukommen. Aus einem Restaurant heraus beobachtet sie das rosa Hausschwein, das Richtung Hotel Atlas läuft, aus dem gerade der Mörder Richard Ossietzky tritt.
    Ein Mordfall, dem sich der Kommissar Brunfaut annehmen wird und der dann einfach zu den AKten gelegt wird und auch nicht gelöst werden wird - wie so viele Probleme der europäischen Union.

    Martin Susmann, österreichischer Bauernsohn und Referent bei Fenia, dessen Bruder Florian einen großen Schweinemastbetrieb unterhält und der den Einfluss Martin in Brüssel gelten machen will, sieht das Schwein von seiner Wohnung aus, wie es gerade jemanden zu Boden wirft.

    Professor Alois Erhart, Erimitus der Volkswirtschaft und eingeladen zu einem Think-Tank der Kommission, Europa, hilft jenem Mann, der vom Schwein zu Boden gestoßen wurde, einem Immigranten, dem durch den Kopf geht: „Sein Vater hatte ihn vor Europa gewarnt.“

    In diesem furiosen Prolog erscheinen die wichtigsten Hauptfiguren - verbunden durch ein rosa Hausschwein, das Brüssel noch einige Zeit beschäftigen wird.

    Im Mittelpunkt stehen diese Figuren und das Jubilee-Projekt der Europäischen Kommission, das dazu dienen soll, das Ansehen der europäischen Union aufzupolieren. Fenia reißt das Projekt an sich und beauftragt Martin Susmann eine Idee auszuarbeiten. Dieser hat den genialen Einfall, Auschwitz in den Mittelpunkt der Feierlichkeiten zu stellen. Als Ort, an dem nationale Identität aufgehoben wurde und als Symbol, dass Nationalität überwunden werden muss, damit sich ein solch unfassbares Verbrechen nie wiederholen kann. Ob sich eine solche Idee durchsetzen kann?

    Neben dem Jubilee-Projekt spielt auch ein Handelsabkommen mit China eine Rolle - es geht um Schweine. Am Beispiel der (Um-)wege, die Florian Susmann als Vertreter der europäischen Schweinezüchter gehen muss und der Argumente, die diesbezüglich ausgetauscht werden, wird deutlich, wie stark die nationalen Interessen innerhalb der EU immer noch im Vordergrund stehen.

    Der Roman endet mit dem Holocoust-Überlebenden David de Vriend, der von einer Bombe in der Brüsseler U-Bahn ums Leben kommt. Mit ihm stirbt die Erinnerung und konsequenterweise endet auch die Jubilee-Idee, Auschwitz zum Zentrum der Feierlichkeiten zu machen, in den Mühlen der Bürokratie und scheitert an nationalen Befindlichkeiten.
    Und das Schwein? Am Ende ist es verschwunden, wie die europäische Idee?

    Bewertung
    Menasse verführt dadurch, dass er mit satirischen Mitteln die EU-Kommission und ihre Arbeitsweise bloß stellt, zum Lachen. Andererseits appelliert er mit der Idee Auschwitz zum Mittelpunkt der Feierlichkeiten zu machen für die Überwindung des Nationalstaates, für ein vereintes Europa, in dem die nationalen Interessen hinter europäische zurücktreten, damit Auschwitz nie wieder Realität wird. Damit schärft er den Blick für die Grundidee hinter der EU und erinnert an das, was uns vereinen sollte.

    Ein sehr interessanter Roman, der überaus unterhaltsam erzählt wird - und eine echter Hörgenuss dank des guten Vorlesers Christian Berkel. Neben der politischen Thematik wird auch die Lebensgeschichte der einzelnen Hauptfiguren ausgebreitet, die jeweils in sich stimmig ist und immer wieder um die Themen nationale Identität und Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus kreisen. Daneben enthält der Roman aber auch sehr berührende Szenen.

    Prof. Erhardt beschreibt, wie er nach 40jähriger Ehe, mit seiner Frau Trudi guten Sex erlebt:
    "Er schob ihr Nachthemd hoch, spürte dabei eine kurzen stechenden Schmerz in seinen Lendenwirbeln wie ein Stromschlag. Er stöhnte, sie zog das Hemd aus. Sie lächelte, erstaunt, fragend. Er betrachtete ihren Körper, studierte ihn. Las jede Falte, jedes blaue oder rote Äderchen und jedes Fettpölsterchen wie eine Landkarte auf der ein langer gemeinsamer Weg eingezeichnet war. Ein Lebensweg mit Höhen und Tiefen und er drückte sich erregt an sie, weinte, drückte, das Licht, der Röntgenblick und plötzlich in größter Erregung spürte er es. Ein Verschmelzen, in dem ihre Seelen sich berührten. Und sie lachte, Trudi. Ihre Seelen berührten sich.“ (Kapitel 83)

    Ein Roman, den es sich zu lesen oder zu hören lohnt, und nicht nur, weil er den Deutschen Buchpreis gewonnen hat.

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  1. 5
    13. Okt 2017 

    Europa endlich literarisches Thema

    Vor 60 Jahren wurden die Römischen Verträge geschlossen, die den Weg hinein in die Europäische Union eröffneten. Die Entscheidung, auf dem Boden zerstörter, verfeindeter Nachbarstaaten, die sich jahrelang mit purer Feindschaft bekämpfend gegenüberstanden, eine europäische Staatengemeinschaft mit viel Gemeinsamkeit und vor allem mit einer demokratisch fundierten gemeinsamen Wertegrundlage zu bauen, hat uns mehr als 70 Jahre Frieden, Freiheit und weitreichenden Wohlstand gebracht. Dass dies für uns heute ein nicht nur wichtiges, sondern auch oftmals sperriges und absurdes politisches Gebilde im gefühlt so fernen Brüssel (und Straßburg) hervorgebracht hat, macht Robert Menasse in seinem nun mit dem Deutschen Buchpreis 2017 ausgezeichneten Romans „Die Hauptstadt“ zum Thema. Nach umfangreicher Recherchearbeit, versucht er in dem Roman, eine Reihe von Charakteren und Typen auftreten zu lassen, die in ihrer Vielfalt und Buntheit verschiedene Facetten des Lebens in dieser besonderen Stadt. Da ist zum Beispiel:
    - Die griechische Zypriotin Fenia Xenopoulos, die den Karrieresprung in die Generaldirektion Kultur eher als Abschiebung an den Rand des Geschehens auffasst und alles tut, um wieder in wichtigeren und angeseheneren Politikfeldern eingesetzt zu werden;
    - Der österreichische Mitarbeiter Fenias – Martin Susmann - , dem bei einer Dienstreise nach Auschwitz der Gedanke kommt, dass das Erbe von Auschwitz und dessen Überlebende als gründungsstiftende Idee im Zentrum einer Jubiläumsfeier der EU-Kommission stehen sollten,
    - Der Brüsseler Kommissar Brunfaut, dessen Aufklärung eines Mordes in Brüssel auf Basis politischer Unwägbarkeiten irgendwie verlorengeht.
    - Und viele andere mehr, die im Sinne eines Episodenromans lose verbunden nebeneinander und miteinander agieren.
    Da sind verschiedene Handlungsstränge, die die Akteure antreiben und den Leser interessiert halten:
    - Ein Schwein (oder mehrere Schweine?) tauchen an den verschiedensten Stellen Brüssels auf und bringen das urbane Leben durcheinander,
    - Eine Person wird ermordet
    - Das Projekt „Jubiläumsfeier der EU-Kommission“ wird entwickelt und im Gang durch die Institutionen langsam zu Grabe getragen
    - Ein Lobbyist für die Sache der Schweinezucht drängt auf eine EU-Aktivität in Sachen Handelsabkommen der EU mit China und warnt vor den Folgen nationaler Alleingänge.
    - Und vieles mehr.
    Bei einer Lesung seines Romans konnte ich kurz nach dessen eigener Lektüre Robert Menasse selbst über das Buch und sein Entstehen reden hören und wurde ein zweites Mal in den Bann des Buches gezogen. Mit großer Leidenschaft berichtete Menasse dabei über seinen Entschluss, Europa zum Thema eines Romans zu machen, über den Umweg, den er über Essays dabei gehen musste (unter anderem veröffentlicht in: Robert Menasse: Der europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas, Zsolnay Verlag), über seine eigene intensive Recherchezeit in Brüssel, in der er sich im nun eher als „Terroristenviertel“ bekannt gewordenen Molenbeek eingemietet hatte. Und vor allem zeigte er seine große Begeisterung und Leidenschaft für das Projekt Europäische Union und die Möglichkeit, nationale Grenzen im Leben und in den Köpfen zu überschreiten.
    FAZIT:
    Ein wichtiger Roman zum richtigen Thema in richtiger Zeit, der auch noch literarische und sprachlich überzeugen kann. Er ermöglicht, auf durchaus sperrige Art und Weise dem Reiz des europäischen Projekts mit Schmunzeln und Erkenntnisgewinn nachzuspüren, in dem er den Aberwitz des politischen Alltags in der Vielfalt europäischer Kulturen und Interessen episodenhaft darstellt, dabei aber auch den Wert und die vielen Möglichkeiten eines gemeinsamen Handelns in Europa hervortreten lässt.
    Mein Dank und mein Respekt an die Juroren des Deutschen Buchpreises 2017: Gute Wahl!
    Meine 5 Sterne fallen da nur noch wenig ins Gewicht.

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  1. 5
    16. Sep 2017 

    Geburtstag

    Zum Jahrestag der Gründung der EU-Kommission soll Fenia Xenopoulou einen Festakt organisieren, mit dem sowohl eine Feier begangen werden soll als auch das Image der Kommission aufgebessert werden soll. Fenia, die im Grunde schnellstmöglich wieder von der Kultur weg will, beauftragt Martin Susman mit der Erstellung eines Konzepts. Zur gleichen Zeit zieht einer der letzten Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz, David de Vriend, in ein Seniorenheim; Kommissar Brunfaut versucht einen Mord aufzuklären, der verschwunden ist; Professor Erhart bereitet sich auf eine Rede vor und ein unbekanntes Hausschwein geistert durch Brüssel.

    Etliche Geschichten verschiedener Personen, die als Ganzes doch einen Zusammenhang haben. Die Läufe der Brüsseler Bürokratie, die in dem Willen, die Eigenheiten jedes Mitgliedstaates zu berücksichtigen, kaum eine andere Chance hat als sich zu verzetteln. Einer der scheidenden Engländer bringt es auf den Punkt, was die Eliten im britischen Parlament ohne auf das Wohl des Volkes zu achten innerhalb von zwanzig Minuten entscheiden, dauert in der EU Wochen und Monate. Mit Anfragen, Communiqués, Sitzungen endet es in Kompromissen, die die Gepflogenheiten aller EU-Länder berücksichtigen (sollen), in denen sich der Einzelne aber nicht mehr wiederfindet. Was kann die eigentlich hervorragende Europäische Idee des „Nie wieder Auschwitz, nie wieder Rassismus!“ noch retten?

    Tja, die normale Öffentlichkeit verlustiert sich mit der Namensgebung eines Schweins, das im Verlauf der Zeit immer mehr zum Phantom wird. Inzwischen werden Morde ignoriert, ein Festakt in der Bürokratie zermalmt, eigentlich bahnbrechende Ideen im Keim erstickt, gehen Erinnerungen mit den letzten Überlebenden verloren und nichts scheint wichtiger als der Absatz von Schweineschlachtabfällen in China.

    Mit seiner beinahe allumfassenden Geschichte über die europäische Bürokratie und ihre Auswüchse fordert Robert Menasse zum aufmerksamen Lesen. Teils kennt man die Strukturen, teils ist man überrascht und manchmal auch erschrocken, hin und wieder belustigt. Doch immer wirkt die Darstellung so, als ob es tatsächlich so sein könnte. Der Alltag in den EU-Behörden könnte so stattfinden. Da kann schon mal ein Pass gewechselt werden wegen der Karrierechancen. Da könnte man nachdenken, welche Bedeutung die eigene Herkunft noch haben könnte. Weiterentwicklung oder Stillstand. Hat die EU noch eine Vision? Eine Frage, die der Autor nicht beantwortet. Je nach Einstellung des Lesers könnte der Roman ein Abgesang sein, durch den die Unmöglichkeit des „Unter einen Hut bringens aller Beteiligten“ nur noch deutlicher wird, oder eine vage Hoffnung auf einen echten Fortschritt in Richtung eines wirklichen Staates EU, in dem die Herkunft nur noch der Name eines Ortes, einer Stadt ist, mit dem aber keine Eigeninteressen einzelner Staaten mehr verbunden sind. Interpretationen der Absicht des Autors bleiben natürlich den Lesern überlassen, doch dass dieses Buch den Anlass gibt solche Interpretationen anzustellen oder gar eine eigene Meinung zu finden, ist geradezu großartig. Vielleicht sollte tatsächlich der Schritt zu einer wahren Union gewagt werden.

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